Dalton schaute aus dem Fenster seines Büros, während er zuhörte, wie Stein Bericht über Anzahl und Standort der Soldaten der Imperialen Ordnung erstattete, die mittlerweile innerhalb Anderiths als Gardisten der anderischen Sondereinheit stationiert waren. Die Dominie Dirtch befanden sich praktisch in Jagangs Hand. Sollte Lord Rahl seine Streitkräfte – selbst wenn er welche nah genug stehen hätte – gegen Anderith vorrücken lassen, würde er sehr bald ein Befehlshaber ohne zu befehligende Armee sein.
»Darüber hinaus lässt der Kaiser mitteilen, er wünscht, dass ich in seinem Namen persönlich seiner Anerkennung für die Zusammenarbeit Ausdruck verleihe, die ihm zuteil wurde. Den Berichten meiner Männer zufolge hat der Minister seine Aufgabe, der anderischen Armee die Zähne zu ziehen, offenbar zu bemerkenswerter Zufriedenheit erledigt. Sie wird ein sogar noch unbedeutenderes Hindernis darstellen als angenommen.«
Dalton blickte über seine Schulter, konnte im Gesicht des Mannes jedoch kein Grinsen entdecken. Stein legte seine Stiefel auf Daltons Schreibtisch und lehnte sich in seinen Sessel zurück, um sich die Fingernägel mit einem Dolch zu reinigen. Er machte einen zufriedenen Eindruck.
Dalton langte hinüber und nahm das nutzlose, aber wertvolle kleine Buch zur Hand, das die Frau aus der Bibliothek heraufgeholt hatte, jenes Buch, das einst Joseph Ander gehört hatte. Er legte es auf die andere Seite des Schreibtisches, damit Stein es mit seinen Stiefeln nicht beschädigen konnte.
Nach dem, was Teresa ihm berichtet hatte, überlegte Dalton, sollte Stein eigentlich allen Grund haben, zufrieden zu sein – angesichts der zahlreichen Frauen, die ihre Tagträume auslebten, indem sie allzeit offenen Ohren gegenüber ausplauderten, welch derbe Freuden sie im Bett des fremden Grobians gefunden hatten. Je empörender er sie behandelte, desto größer das Entzücken, mit dem sie darüber tratschten.
Angesichts der Zahl von Frauen, die sich bereitwillig zur Verfügung stellten, fand Dalton es bemerkenswert, dass dieser Mann nach wie vor so häufig seine Lust an den Unwilligen stillte. Vermutlich fand Stein gewaltsame Eroberungen auf regender und befriedigender.
»Ja, sehr hübsch, wie die anderische Armee dort hinter den Dominie Dirtch steht.« Stein feixte. »Ihr falscher Stolz wird ihnen jedoch wenig nützen, wenn sie sich dem wahren Gesicht des Krieges stellen müssen.«
»Wir haben unseren Teil der Abmachung eingehalten.«
»Glaubt mir, Campbell, ich weiß, wie wertvoll Ihr und der Minister seid. Die Farmarbeit mag weniger ruhmreich sein als ein Eroberungsfeldzug, aber ohne Lebensmittel gerät jede Armee unweigerlich ins Stocken. Keiner von uns will zum Zeitvertreib mit Landwirtschaft anfangen, trotzdem wollen wir weiterhin essen. Wir sehen durchaus, wie wertvoll Eure Kenntnisse sind, das System in Gang zu halten. Ihr werdet bei unserem Vorhaben eine wichtige Hilfe sein.
Außerdem soll ich Euch im Namen Kaiser Jagangs versichern, er freue sich darauf, so gute Dienste entsprechend zu belohnen, sobald er hier eintrifft.«
Dalton behielt die Probleme für sich. »Wann dürfen wir mit seiner Ankunft rechnen?«
»Bald«, gab Stein zurück, über die näheren Einzelheiten mit einem Schulterzucken hinweggehend. »Er ist jedoch besorgt wegen der Situation mit Lord Rahl. Es macht ihn misstrauisch, wieso Ihr auf ein so unsicheres Ergebnis wie den Willen des gemeinen Volkes zu vertrauen scheint.«
»Ich muss zugeben, ich teile seine Besorgnis.« Dalton seufzte schwer. Er wünschte sich noch immer, Bertrand hätte sich für einen weniger riskanten Weg entschieden. Dalton hatte jedoch mittlerweile gelernt, dass Bertrand Chanboor ebenso großen Gefallen an riskanten Wegen fand wie Stein an unwilligen Partnerinnen.
»Wie ich bereits erläutert habe«, fuhr Dalton fort, »werden wir durch diese Taktik Lord Rahl und die Mutter Konfessor in eine Falle locken. Ohne sie als Befehlshaber der feindlichen Streitkräfte wird der Krieg rasch in einen fluchtartigen Rückzug übergehen, was die Midlands zu einer reifen Frucht macht, die Jagang nur noch zu pflücken braucht.«
»Weshalb Kaiser Jagang bereit ist, Euch dies zu Ende führen zu lassen.«
»Es gibt jedoch Risiken.«
»Risiken? Welcher Art?«
Dalton zog seinen Sessel dicht an den Schreibtisch heran und setzte sich.
»Meiner Ansicht nach müssen wir mehr tun, um Lord Rahls Vorhaben in Misskredit zu bringen, doch gerade das birgt Gefahren, schließlich werden die Midlands seit Jahrtausenden von Müttern Konfessor regiert. Und die haben nicht geherrscht, weil sie so freundlich lächeln konnten. Es handelte sich sozusagen stets um Frauen mit gewaltigem Biss.
Außerdem heißt es von Lord Rahl, er sei Zauberer. Wir müssen behutsam vorgehen und dürfen sie nicht zwingen, diese Abstimmung zugunsten eines entschiedeneren Vorgehens aufzugeben. Wenn es dazu kommt, könnte dies die Pläne zunichte machen, in die wir alle so viel investiert haben.«
»Wie gesagt, unsere Truppen stehen bereit. Selbst wenn sie eine Armee ganz in der Nähe stehen haben sollten, können sie nicht nach Anderith hineinmarschieren, nicht vorbei an den Dominie Dirtch.« Stein lachte freudlos in sich hinein. »Aber es wäre mir ein Vergnügen, wenn sie es versuchen würden.«
»Genau wie mir. Die Sache ist, Lord Rahl und die Mutter Konfessor sind hier, und das schafft genug Probleme.«
»Wie ich Euch schon sagte, Campbell, Ihr solltet Euch um die Magie keine Sorgen machen. Der Kaiser hat der Magie die Krallen gestutzt.«
Dalton faltete die Hände behutsam vor sich auf dem Schreibtisch. »Ihr redet oft genug davon, Stein, und sosehr ich mir dies wünsche, Worte allein sind mir kein rechter Trost. Ich könnte ebenso Versprechungen machen, aber Ihr erwartet sichtbare Ergebnisse.«
Stein fuchtelte mit seinem Messer. »Wie ich Euch bereits erklärte, beabsichtigt der Kaiser, der Magie nachhaltig ein Ende zu machen, damit Männer mit Visionen die Welt in ein neues Zeitalter führen können. Und Ihr werdet daran teilhaben. Die Zeit der Magie ist abgelaufen, sie liegt in den letzten Zügen.«
»Dasselbe gilt für den Herrscher, aber noch ist er nicht tot.«
Stein ging wieder daran, seine Fingernägel zu reinigen, denen er übertriebene Aufmerksamkeit schenkte. Daltons Zweifel schienen ihn nicht weiter zu beunruhigen, und er fuhr fort, sie zu zerstreuen: »Dann werdet Ihr mit Freude hören, dass der Bär der Magie im Gegensatz zu Eurem Herrscher keine Reißer mehr besitzt – er ist zahnlos. Diese Waffe muss man nicht mehr fürchten.«
Stein hob eine Ecke seines aus menschlichen Kopfhäuten genähten Umhangs an. »Wer über Fähigkeiten der Magie verfügt, wird seinen Beitrag zu meiner Sammlung leisten. Ich nehme ihnen die Skalps bei lebendigem Leib, müsst Ihr wissen. Es macht mir Spaß, beim Herunterschneiden ihrem Geschrei zu lauschen.«
Die Prahlereien des Mannes und seine Versuche zu schockieren ließen Dalton unbeeindruckt, trotzdem hätte er gerne gewusst, was Stein meinte, als er auf das Ende der Magie anspielte. Seit Franca von ihrer Gabe keinen Gebrauch mehr machen konnte, wusste er, dass etwas im Gange war, nur wusste er weder, was das war, noch – viel wichtiger –, in welchem Umfang sie beeinträchtigt war. Er hatte keine Ahnung, ob Stein schlicht die Wahrheit sagte oder ob er eine aus Unwissenheit geborene Version von Wunschdenken, überlagert von Aberglauben aus der Alten Welt, zum Besten gab.
Wie auch immer, es war Zeit zu handeln. Sie konnten schlecht alles so weiterlaufen lassen wie bisher. Wie weit sie in der Zurschaustellung ihrer Ablehnung gegen den Zusammenschluss mit Lord Rahl zu gehen wagten, das war das Problem, dem Dalton sich gegenübersah. Sie mussten Stellung beziehen, um den Menschen ein Nein zu Lord Rahl zu entlocken, doch war eine schwache Stellung ebenso schlecht wie gar keine. Andererseits war es viel zu gefährlich, durch das Gitter zu greifen und dem Bär die Nase herumzudrehen, solange er noch Zähne und Krallen besaß.
Dalton fragte sich, ob er Stein zu etwas mehr Entgegenkommen zwingen konnte. »Das klingt, als hätten wir ein ernst zu nehmendes Problem.«
Stein sah auf. »Wieso?«
Dalton breitete in einer Geste gespielter Verwirrung die Hände aus. »Wenn Magie als Waffe nicht mehr taugt, dann sind die Dominie Dirtch, in die wir alle so viel Vertrauen gesetzt haben, nutzlos und alle unsere Pläne zum Scheitern verurteilt. Ich würde das durchaus als ernst zu nehmendes Problem bezeichnen.«
Stein nahm seine Füße von Daltons Schreibtisch und schob das Messer in seine Scheide zurück. Einen Ellenbogen auf den Schreibtisch gestützt, beugte er sich vor.
»Kein Grund zur Sorge. Seht, die Sache ist die: Der Kaiser hat nach wie vor die Kontrolle über seine Schwestern der Finsternis, deren Magie arbeitet für ihn. Ihren Berichten zufolge gab es jedoch einen Zwischenfall. Soweit ich weiß, ist irgend etwas mit der Magie schief gegangen, wodurch die Kraft derer auf Seiten Lord Rahls versiegt ist.
Jagang hat erfahren, dass Lord Rahl nicht mehr von Magie unterstützt wird. Seine Magie wird versiegen, der Mann ist unseren Klingen hilflos ausgeliefert – oder wird es zumindest sehr bald sein.«
Dalton war jetzt ganz bei der Sache. Wenn es stimmte, änderte das alles. Es würde bedeuten, dass er all seine Pläne gleichzeitig und in vollem Umfang durchführen konnte. Es würde bedeuten, dass er alle nötigen Maßnahmen ergreifen konnte, ohne sich um die Reaktionen oder gar Vergeltungsmaßnahmen von Lord Rahl sorgen zu müssen.
Noch besser, Lord Rahl und die Mutter Konfessor wären gezwungen, einen noch größeren Teil ihrer Hoffnungen auf die Abstimmung zu setzen, während Dalton gleichzeitig, ohne ihr Vorgehen befürchten zu müssen, ihre Niederlage sicherstellte.
Vorausgesetzt, es stimmte, dass die Magie versiegte.
Dalton wusste einen Weg, das herauszufinden.
Aber zuerst war es an der Zeit, dem kränkelnden Herrscher einen Besuch abzustatten. Die Zeit zum Handeln war gekommen. Er würde es noch diesen Abend tun, vor dem für den nächsten Tag angesetzten Fest.
So hungrig Ann auch war, sah sie dem Gefüttertwerden keinesfalls mit Freude entgegen.
Es war lange her, dass man sie am Boden angepflockt und das schmutzige Zelt um sie herum errichtet hatte, daher wusste sie, es würde bald so weit sein. Jeden Augenblick erwartete sie, dass ein stämmiger Soldat der Imperialen Ordnung mit Brot und Wasser für sie hereingestürzt käme. Was aus Schwester Alessandra geworden war, wusste sie nicht; Ann hatte die Frau seit gut einer Woche nicht mehr gesehen.
Den Soldaten war es unangenehm, eine alte Frau füttern zu müssen. Vermutlich machten sich ihre Kameraden über ihre häuslichen Pflichten lustig. Gewöhnlich kamen sie herein, hielten ihren Kopf fest und steckten ihr das Brot in den Mund, schoben es mit ihren ungeschlachten, schmutzigen Fingern hinein, als wollten sie eine Gans zum Braten stopfen. Während Ann noch damit beschäftigt war, die trockene Masse zu kauen und herunterzuschlucken, bevor sie daran erstickte, gingen sie gewöhnlich bereits dazu über, Wasser hinterherzuschütten, um das Brot hinunterzuspülen.
Es war eine entwürdigende Behandlung, auf die Ann jedoch keinerlei Einfluss hatte. So gerne sie aß, mittlerweile befürchtete sie, das Essen könnte sie ins Grab bringen.
Einmal hatte der Soldat, der sie hatte füttern sollen, das Brot einfach auf die Erde geworfen und eine Schale mit Wasser danebengestellt, als wäre sie ein Hund. Er schien stolz darauf zu sein, ihr auf diese Weise seine Missachtung gezeigt und sich gleichzeitig auch noch eine Menge lästiger Arbeit erspart zu haben.
Er war sich dessen nicht bewusst, aber Ann war diese Methode weitaus lieber. Nachdem er seinen Spaß gehabt hatte und wieder verschwunden war, hatte sie sich auf die Seite fallen lassen, war herangerutscht und hatte das Brot in ihrem eigenen Tempo essen können, selbst wenn sie auf den Luxus, den Schmutz abzuwischen, verzichten musste.
Die Zeltöffnung wurde zurückgeschlagen, eine dunkle Gestalt trat ins Innere, die dahinter liegenden Lagerfeuer verdeckend. Ann fragte sich, welche Methode wohl an der Reihe sei: Mastgans oder Hund, der vom Boden frisst. Zu ihrer Überraschung war es Schwester Alessandra mit einer Schale, aus der es nach Suppe mit Wurst duftete. Sie hatte sogar eine Kerze dabei.
Schwester Alessandra drückte die Kerze neben sich in den Staub. Die Frau lächelte nicht. Sie sprach kein Wort und wich Anns Blick aus.
Im schwachen Schein der Kerze erkannte Ann, dass Alessandras Gesicht zerschunden und voller blauer Flecken war. Auf dem Wangenknochen unterhalb des linken Auges hatte sie eine hässliche Platzwunde, die jedoch bereits zu verheilen schien. Die vergleichsweise geringfügigen Verletzungen schienen unterschiedlichen Alters zu sein, von nahezu verheilt bis noch ganz frisch.
Ann brauchte nicht zu fragen, wie die Frau so zugerichtet worden war. Ihre Wangen und beide Seiten ihres Unterkiefers waren rot und wund von den Stoppeln zahlloser unrasierter Gesichter.
»Es beruhigt mich sehr zu sehen, dass du – lebst, Alessandra. Ich hatte große Angst um dich.«
Alessandra zog in gespielter Gleichgültigkeit die Schultern hoch. Sie vertat keine Zeit und führte einen dampfenden Löffel Wurstsuppe an Anns Mund.
Ann schlang ihn hinunter, bevor sie Gelegenheit hatte, den Geschmack zu genießen, so groß war ihr Hunger; doch schon das warme Gefühl in ihrem Bauch war ein Trost.
»Ich hatte um mich selber auch große Angst«, meinte Ann. »Wie sie das Essen in mich hineingestopft haben, hatte ich Angst, diese Männer würden mich umbringen.«
»Das Gefühl kenne ich«, meinte Alessandra kaum hörbar.
»Alessandra, ist alles – in Ordnung mit dir?«
»Mir geht es gut.« Sie schien sich an einen Ort zurückgezogen zu haben, wo es keine Gefühle gab.
»Dann bist du also nicht ernstlich verletzt?«
»Mir geht es besser als manchen anderen. Wenn wir – wenn wir verletzt werden, uns ein Knochen gebrochen wird oder Ähnliches, erlaubt uns Jagang, einander mit Magie zu heilen.«
»Aber das Heilen ist Additive Magie.«
Schwester Alessandra führte den Löffel an Anns Mund. »Deswegen habe ich ja auch Glück. Im Gegensatz zu manchen anderen habe ich mir nichts gebrochen. Wir haben versucht, ihnen zu helfen und sie zu heilen, aber es ging nicht. Also müssen sie leiden.« Sie blickte Ann in die Augen. »Eine Welt ohne Magie ist ein gefährlicher Ort.«
Ann war drauf und dran, die Frau daran zu erinnern, dass genau dies auch ihre Worte gewesen seien. Die Chimären seien auf freiem Fuß, und Magie – Additive Magie jedenfalls – werde nicht funktionieren.
Alessandra führte Ann einen weiteren Löffel zu und sagte: »Aber ich nehme an, genau das habt Ihr mir zu sagen versucht, Prälatin.«
Jetzt war es an Ann, mit den Schultern zu zucken. »Als man mich überzeugen wollte, die Chimären seien auf freiem Fuß, wollte ich es anfangs auch nicht glauben. Das haben wir beide gemeinsam. Ich würde sagen, bei deinem außergewöhnlichen Dickkopf, Schwester Alessandra, besteht die Hoffnung, dass du eines Tages Prälatin wirst.«
Alessandra musste, offenbar gegen ihren Willen, mit Ann zusammen schmunzeln.
Ann sah den Löffel mit einem Stück Wurst darin in der Schale verharren. »Seid Ihr wirklich völlig überzeugt gewesen, Prälatin, die Schwestern des Lichts würden Euch abnehmen, die Magie sei versiegt, und freiwillig mit Euch zusammen fliehen?«
Ann hob den Kopf und sah Alessandra in die Augen. »Nicht völlig, nein. Ich hoffte zwar, sie würden meinen Worten trauen, schließlich kannten sie mich stets als Frau, die die Wahrheit achtet. Trotzdem wusste ich, dass sie sich möglicherweise so sehr fürchteten und sich deshalb – ob sie mir nun glaubten oder nicht – weigern könnten mitzukommen.
Wer als Sklave einem Menschen oder einer Sache ausgeliefert ist, hält oft an seiner Abhängigkeit fest, sosehr er sie auch verabscheuen mag, nur weil er Angst hat, die Alternative könnte noch unerträglicher sein. Sieh dir einen Trinker an, einen Sklaven des Alkohols, der uns für grausam hält, weil wir ihn zwingen wollen, seine Abhängigkeit aufzugeben.«
»Und was hattet Ihr für den Fall geplant, dass die Schwestern des Lichts sich weigern, ihre Abhängigkeit aufzugeben?«
»Jagang benutzt sie und ihre Magie, genau wie er deine benutzt. Sind die Chimären erst verbannt, wird die Magie zurückkehren, und die Schwestern werden ihre Kraft zurückerhalten. Viele Menschen werden durch ihre Hände sterben, ganz gleich, wie unwillig diese Hände sind. Für den Fall, dass sie sich weigern, ihre Abhängigkeit aufzugeben und mit mir fortzugehen, war geplant, sie zu töten.«
Schwester Alessandra zog eine Braue hoch. »Sieh an, Prälatin. Dann sind wir also doch nicht so verschieden. Genau so hätte auch eine Schwester der Finsternis argumentiert.«
»Das ist einfach gesunder Menschenverstand. Das Leben vieler Menschen ist in Gefahr.« Ann war ausgehungert und linste sehnsüchtig auf den Löffel, der über der nahezu vollen Schale schwebte.
»Und wieso hat man Euch dann aufgegriffen?«
Ann seufzte. »Weil ich glaubte, sie würden mich nicht anlügen, nicht in einer so wichtigen Angelegenheit. Es wäre zwar kein Grund, sie hinzurichten, würde aber die lästige und doch erforderliche Tat ein wenig erleichtern.«
Endlich gab Alessandra Ann den Löffel mit der Wurst. Diesmal zwang Ann sich, langsam zu kauen, um den Geschmack zu genießen.
»Du könntest noch immer mit mir zusammen fliehen, Alessandra«, meinte Ann ruhig, nachdem sie endlich geschluckt hatte.
Alessandra entfernte etwas aus der Schale und warf es fort. Sie rührte abermals in der Suppe.
»Ich sagte bereits, das ist nicht möglich.«
»Warum nicht? Weil Jagang es dir gesagt hat? Weil er dir gesagt hat, er sei immer noch in deinem Verstand?«
»Das ist ein Grund.«
»Alessandra, Jagang hat dir versprochen, wenn du dich um mich kümmerst, werde er dich nicht hinaus zu den Zelten schicken, wo du für seine Männer die Hure spielen musst. Das waren seine Worte, wie du mir selbst erzählt hast.«
Die Frau zögerte mit dem Löffel, während ihr die Tränen in die Augen traten. »Wir gehören seiner Exzellenz.« Mit der anderen Hand berührte sie den goldenen Ring in ihrer Unterlippe – das Kennzeichen der Sklaven Jagangs. »Er kann mit uns machen, was immer ihm beliebt.«
»Er hat dich angelogen, Alessandra. Er hat gesagt, er werde das nicht tun, wenn du dich um mich kümmerst. Das war gelogen. Einem Lügner kann man nicht trauen. Nicht, wenn es um deine Zukunft, um dein Leben geht. Das war auch mein Fehler, nur würde ich keinem Lügner eine zweite Chance geben, mir so etwas anzutun. Wenn er in diesem Punkt gelogen hat, worüber mag er dann noch gelogen haben?«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Nun, dass ihr nie entkommen könnt, weil er sich immer noch in eurem Verstand befindet. Das tut er nicht, Alessandra. Genauso wenig, wie er in meinen Verstand eindringen kann, kann er zur Zeit in deinen eindringen. Wenn die Chimären verbannt sind, ja, aber nicht jetzt.
Sobald du Richard Ergebenheit schwörst, wirst du selbst dann geschützt sein, wenn die Chimären vertrieben sind. Du kannst von hier fortgehen, Alessandra. Wir können unsere grausame Pflicht bei jenen Schwestern erfüllen, die gelogen und sich entschieden haben, bei einem anderen Lügner zu bleiben, und anschließend fliehen.«
Schwester Alessandras Stimme war so ungerührt wie ihr Gesicht. »Ihr vergesst, Prälatin, ich bin eine Schwester der Finsternis, die dem Hüter die Treue geschworen hat.«
»Als Gegenleistung für was, Alessandra? Was hat dir der Hüter der Unterwelt versprochen? Was hat er dir geboten, das besser ist als eine Ewigkeit im Licht?«
»Unsterblichkeit.«
Ann saß da und musterte den durch nichts zu erschütternden Blick der Frau. Draußen gingen Männer, von denen einige diese wehrlose, fünfhundert Jahre alte Schwester der Finsternis missbraucht hatten, weiter johlend ihren nächtlichen Vergnügungen nach. Gerüche, angenehme wie widerwärtige, wehten durch das Zelt: brutzelnder Knoblauch, Pferdemist, schmorendes Fleisch, verbranntes Fell, der süßliche Geruch eines Birkenstammes in einem nahen Feuer, alter Schweiß.
Auch Ann hielt dem Blick stand.
»Alessandra, der Hüter belügt dich.«
Gefühl kehrte in die Augen der Schwester zurück.
Sie stand auf und schüttete die beinahe volle Schale mit Suppe draußen vor dem Zelt auf die Erde.
Schwester Alessandra, einen Fuß draußen, den anderen noch im Zelt, drehte sich noch einmal um.
»Von mir aus könnt Ihr verhungern, alte Frau. Lieber gehe ich wieder in die Zelte, als mir Eure Lästerreden anzuhören.«
In der hoffnungslos einsamen Stille, gequält an Leib und Seele, betete Ann zum Schöpfer und bat ihn, er möge Schwester Alessandra eine Chance geben, ins Licht zurückzukehren. Sie betete auch für die Schwestern des Lichts, die jetzt ebenso verloren waren wie die Schwestern der Finsternis.
Von ihrem Platz aus, auf dem sie angekettet und allein in ihrem Zelt hockte, schien es, als wäre die Welt verrückt geworden.
»Gütiger Schöpfer, was hast Du nur getan?«, weinte Ann. »Ist das ebenfalls nichts als Lüge?«