Dalton sah kurz von dem Bericht auf, als er das Klopfen hörte.
»Ja?«
Die Tür ging auf, und Rowley steckte seinen roten Haarschopf herein.
»Meister Campbell, hier draußen ist jemand, der Euch sprechen möchte. Sagt, sein Name sei Inger. Behauptet, er sei Metzger.«
Dalton hatte zu tun und war nicht in der Stimmung, sich mit Küchenproblemen abzugeben. Es gab auch so bereits genug Probleme, mit denen er sich zu beschäftigen hatte. Es gab sogar jede Menge Probleme, die ganze Skala, von Kleinigkeiten angefangen bis hin zu ernsten Dingen, die seine Aufmerksamkeit verlangten.
Der Mord an Claudine Winthrop hatte großes Aufsehen erregt. Sie war weithin bekannt und beliebt, eine wichtige Persönlichkeit. Die Stadt war in Aufruhr. Aber für jemanden, der mit diesen Dingen umzugehen wusste, erwuchsen aus der Verwirrung Möglichkeiten. Dalton war in seinem Element.
Er hatte alles darangesetzt, dass Stein seine Ansprache vor den Direktoren des Büros für kulturelle Zusammenarbeit zum Zeitpunkt des Mordes gehalten hatte, sodass niemand Verdacht gegen ihn erheben konnte. Ein Mann mit einem Umhang aus menschlichen Kopfhäuten – auch wenn diese im Krieg erbeutet worden waren – neigte dazu, Verdacht zu erregen.
Einem Bericht der Stadtwache zufolge war Claudine Winthrop gesehen worden, als sie Fairfield verließ, um zu Fuß zu dem Anwesen zurückzugehen – was selbst des Nachts nichts Ungewöhnliches war. Es war eine viel benutzte Straße, die man bis dahin für vollkommen sicher gehalten hatte. Die Wache berichtete darüber hinaus, junge hakenische Burschen hätten sich in jener Nacht vor dem Mord zusammengerottet, um sich zu betrinken. Natürlich argwöhnten die Menschen, sie sei von Hakeniern angegriffen worden, und erklärten den Zwischenfall lauthals zum neuerlichen Beweis für den Hass der Hakenier gegenüber den Anderiern.
Wer nachts zu Fuß ging, wurde fortan von Wachen begleitet.
Vielfach wurden Stimmen laut, die verlangten, der Minister solle etwas unternehmen. Edwin Winthrop, überwältigt vom Schock angesichts der Ermordung seiner Gattin, war ans Bett gefesselt. Von seinem Bett aus verlangte auch er nach Gerechtigkeit.
In der Folge waren mehrere junge Männer erst verhaftet, später aber wieder freigelassen worden, nachdem bewiesen worden war, dass sie zum Zeitpunkt des Mordes auf einer Farm gearbeitet hatten. Am darauf folgenden Abend machten sich Männer aus einem Gasthaus, vom Rum ermutigt, auf die Suche nach den ›hakenischen Mördern‹. Sie griffen mehrere hakenische Burschen auf, von deren Schuld sie felsenfest überzeugt waren, und erschlugen sie unter den Augen johlender Passanten.
Dalton hatte mehrere Ansprachen für den Minister verfasst und in seinem Namen eine Reihe von Krisenmaßnahmen angeordnet. Der Mord lieferte dem Minister einen Vorwand, in seinen feurigen Reden anzudeuten, wer sich seiner Ernennung zum Herrscher widersetze, sei für die zunehmende Missachtung der Gesetze und damit für die Gewalt verantwortlich. Er forderte schärfere Gesetze zur Bekämpfung von ›Hetztiraden‹. Wenn schon nicht die neuen Gesetze, so bereiteten doch zumindest seine Ansprachen vor dem Büro für kulturelle Zusammenarbeit jenen Direktoren weiche Knie, die den Minister im Verdacht hatten.
Vor der Menge, die zusammengekommen war, um seinen Worten zu lauschen, hatte der Minister neue, nicht näher bestimmte Maßnahmen gefordert, um mit der Gewalt fertig zu werden. Derartige Maßnahmen wurden nie näher bestimmt, und nur selten wurde tatsächlich etwas unternommen. Bereits die leidenschaftlich vorgetragene Absichtserklärung genügte, um die Menschen vom Erfolg des entschlossenen Vorgehens des Ministers zu überzeugen. Das Ziel war der äußere Schein, und der allein zählte. Dieser äußere Schein war leicht zu erzielen, erforderte nur geringen Aufwand und brauchte keiner Prüfung durch die Wirklichkeit standzuhalten.
Selbstverständlich würden die Steuern angehoben werden müssen, um die Finanzierung dieser Maßnahmen abzusichern. Das Rezept war perfekt: Widerstand galt als Begünstigung von Gewalt und stand mit der Brutalität der hakenischen Oberherren und Mörder auf der gleichen Stufe. Auf diese Weise erlangten der Minister und Dalton die Kontrolle über weite Teile der Wirtschaft. Und Kontrolle bedeutete Macht.
Bertrand fand Gefallen daran, im Zentrum all dessen zu stehen, Befehle zu erteilen, das Böse zu entlarven, die unterschiedlichen Gruppierungen besorgter Bürger zusammenzuführen, die Menschen zu beschwichtigen. Höchstwahrscheinlich würde das Ganze sehr bald im Sand verlaufen, sobald die Menschen sich anderen Dingen zuwandten und der Mord in Vergessenheit geriet.
Hildemara war glücklich; und das allein zählte für Dalton Campbell.
Rowley stand da, steckte den Kopf zur Tür herein und wartete.
»Sag Inger, er soll sich mit seinem Problem an Mr. Drummond wenden«, sagte Dalton, zu einer weiteren seiner Nachrichten greifend. »Drummond ist der Küchenmeister und für das Fest verantwortlich. Ich habe ihm eine Liste mit Anweisungen gegeben. Der Mann sollte sich mit der Bestellung von Fleisch auskennen.«
»Ja, Sir.«
Die Tür wurde geschlossen, und bis auf das sanfte Nieseln des Frühlingsregens wurde es still im Raum. Ein sanfter, gleichmäßiger Regen war gut für die Ernte. Und eine gute Ernte würde helfen, die Klagen über die zusätzliche Steuerlast auszuräumen. Dalton ließ sich entspannt in seinen Sessel zurücksinken und setzte seine Lektüre fort.
Der Verfasser der Nachricht hatte offenbar Heiler beim Betreten der Residenz des Herrschers beobachtet. Er hatte mit den Heilern nicht sprechen können, schrieb jedoch, sie seien die ganze Nacht über in der Residenz des Herrschers geblieben.
Möglicherweise hatte jemand anderes als der Herrscher Hilfe benötigt. Schließlich verfügte der Herrscher über einen gewaltigen Hofstaat – dessen Größe annähernd dem Anwesen des Ministers entsprach, nur dass er ausschließlich der persönlichen Nutzung durch den Herrscher vorbehalten war. Was, den Herrscher betreffend, an geschäftlichen Dingen zu erledigen war, wurde in einem getrennten Gebäude abgewickelt. Dort hielt er auch Audienz.
Auch auf dem Anwesen des Ministers für Kultur war es nichts Ungewöhnliches, wenn ein oder zwei Heiler über Nacht bei einem Kranken weilten, das bedeutete jedoch nicht, dass der Minister persönlich der Heilung bedurfte. Die größte Gefahr drohte dem Minister von einem eifersüchtigen Ehemann; und das war höchst unwahrscheinlich. Die Rendezvous ihrer Gemahlinnen mit hochrangigen Beamten dienten den Ehemännern eher dazu, sich Vorteile zu verschaffen. Beschwerden vorzubringen galt als wenig förderlich.
War Bertrand erst einmal Herrscher, würden möglicherweise verletzte Gefühle kein Anlass zur Besorgnis mehr sein. Eine Zusammenkunft mit dem Herrscher galt für eine Frau als große Ehre – sie kam fast einer religiösen Erfahrung gleich. Göttliche Vereinigungen dieser Art galten weithin als vom Schöpfer persönlich abgesegnet.
Jeder Ehemann würde seine Gemahlin in das Bett des Herrschers drängen, würde sie darum gebeten. Das durch diese bevorzugte Behandlung gewonnene Ansehen hatte neben der Frömmigkeit noch einen weiteren Effekt; hauptsächlicher Nutznießer dieser heiligen Handlung war der Ehemann. War die geheiligte Empfängerin der fleischlichen Aufmerksamkeiten des Herrschers jung genug, erstreckte sich der Segen sogar auf ihre Eltern.
Dalton wandte sich wieder der vorherigen Nachricht zu und las sie noch einmal durch. Die Gemahlin des Herrschers war seit Tagen nicht gesehen worden. Den offiziellen Besuch eines Waisenhauses hatte sie kurzerhand abgesagt. Vielleicht war sie es, die erkrankt war.
Oder aber sie weilte am Krankenbett ihres Gemahls.
Auf den Tod des alten Herrschers zu warten kam einem Tanz auf dem Hochseil gleich. Das Warten trieb einem den Schweiß auf die Stirn und beschleunigte den Puls. Die Erwartung war köstlich, umso mehr, als der Tod des Herrschers jenes eine Ereignis war, auf das Dalton keinen Einfluss hatte. Der Mann wurde zu schwer bewacht, um ihm über die Schwelle in sein künftiges Leben zu helfen, zumal sein Leben ohnehin am seidenen Faden hing.
Ihm blieb nichts anderes übrig als zu warten. In der Zwischenzeit jedoch galt es, alles mit großer Umsicht in die Wege zu leiten. Sie mussten bereit sein, sobald sich die Gelegenheit bot.
Dalton ging zur nächsten Nachricht über, die jedoch nichts weiter als die Beschwerde eines Mannes über eine Frau enthielt, die angeblich Banne aussprach, um ihn mit Gicht zu strafen. Der Mann hatte – in aller Öffentlichkeit – versucht, sich Hildemara Chanboors Hilfe dadurch zu versichern, dass er, um den bösen Bann auszutreiben, Sex mit ihr haben wollte, schließlich sei sie allgemein bekannt für ihre Reinheit und für ihre guten Taten.
Dalton entfuhr ein Lachen, als er sich den Paarungsakt vorstellte. Der Mann war offenkundig geistesgestört und hatte obendrein keinen Geschmack, was Frauen anbetraf. Dalton notierte den Namen des Mannes, um ihn an die Wachen weiterzuleiten, und seufzte schließlich über den Unfug, der seine Zeit in Anspruch nahm.
Es klopfte erneut. »Ja?«
Abermals steckte Rowley den Kopf zur Tür herein. »Ich hab Inger, dem Metzger, ausgerichtet, was Ihr mir aufgetragen habt. Er sagt, es handelt sich nicht um die Küche.« Rowley senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Er sagt, es geht um Ärger auf dem Anwesen, über den er mit Euch sprechen möchte. Solltet Ihr ihn jedoch nicht empfangen wollen, sagt er, wird er gezwungen sein, stattdessen zum Büro der Direktoren zu gehen.«
Dalton zog eine Schublade auf und schob die Nachrichten mit einer wischenden Handbewegung hinein. Er drehte mehrere auf seinem Schreibtisch liegende Nachrichten um, bevor er sich erhob.
»Schick den Mann herein.«
Inger, ein muskulöser Anderier, vielleicht zehn Jahre älter als Dalton, trat unter heftigem Verneigen des Kopfes ein.
»Danke, dass Ihr mich empfangt, Meister Campbell.«
»Selbstverständlich. Tretet bitte ein.«
Sich verlegen die Hände reibend, verfiel der Mann abermals in heftiges Nicken. Verglichen mit Daltons Vorstellung von einem Metzger wirkte er überraschend reinlich; er sah eher aus wie ein Kaufmann. Wenn er das Anwesen belieferte, machte Dalton sich klar, besaß der Mann wahrscheinlich einen ansehnlichen Betrieb und wäre daher eher ein Kaufmann denn ein Arbeiter.
Dalton forderte ihn mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen. »Bitte, Meister Inger.«
Ingers Blicke zuckten, alles in Augenschein nehmend, im Raum umher. Um ein Haar hätte er leise gepfiffen. Ein kleiner Kaufmann, korrigierte sich Dalton.
»Vielen Dank, Meister Campbell.« Der stämmige Mann packte die Lehne eines Stuhles mit seiner fleischigen Hand und rückte ihn ein Stück näher an den Schreibtisch. »Einfach Inger genügt. Ich bin es nicht anders gewöhnt.« Seine Lippen verzogen sich kurz zu einem Lächeln. »Nur mein alter Lehrer nannte mich stets Meister Inger, und zwar immer dann, wenn ich eins auf die Finger bekam. Meistens, wenn ich eine Lesestunde versäumt hatte. In den Rechenstunden hab ich nie etwas auf die Finger bekommen. Rechnen hab ich gemocht. Rechnen hilft mir beim Geschäft.«
»Ja, das kann ich mir durchaus vorstellen«, meinte Dalton.
Inger blickte zu den Gefechtsstandarten hinüber und fuhr fort. »Mittlerweile besitze ich einen gut gehenden Betrieb. Das Anwesen des Ministers ist mein größter Kunde. Rechnen ist wichtig fürs Geschäft. Da muss man sich mit Zahlen auskennen. Ich habe eine Menge guter Leute, die für mich arbeiten. Ich lasse sie alle rechnen lernen, damit ich bei der Auslieferung nicht übervorteilt werde.«
»Nun, ich kann Euch versichern, das Anwesen ist mit Euren Diensten durchaus zufrieden. Ohne Eure geschätzte Hilfe wären die Feste nicht ein solcher Erfolg. An Euren feinen Fleisch- und Geflügelspeisen erkennt man deutlich, wie stolz Ihr auf Euer Geschäft seid.«
Der Mann feixte, als wäre er soeben von einem hübschen Mädchen in einer Jahrmarktsbude geküsst worden. »Vielen Dank, Meister Campbell. Das ist sehr freundlich von Euch. Ihr habt Recht, was meinen Stolz auf meine Arbeit betrifft. Die meisten Menschen sind nicht so freundlich, dies zu bemerken. Ihr seid genauso anständig, wie die Leute von Euch erzählen.«
»Ich tue mein Bestes, um den Menschen zu helfen, bin also nichts als ihr bescheidener Diener.« Dalton setzte ein liebenswürdiges Lächeln auf. »Kann ich Euch auf irgendeine Weise helfen, Inger? Kann ich hier auf dem Anwesen irgendwelche Hindernisse aus dem Weg räumen, um Euch die Arbeit zu erleichtern?«
Inger rutschte mit seinem Stuhl näher. Einen Ellenbogen auf den Schreibtisch gestützt, beugte er sich vor. Sein Arm war so dick wie ein kleines Fass Rum. Sein schüchternes Gehabe schien zu verfliegen, als er seine Brauen zusammenzog.
»Die Sache ist die, Meister Campbell, ich lasse mir von den Leuten, die für mich arbeiten, nichts gefallen. Ich verbringe eine Menge Zeit damit, ihnen das Zerlegen und Vorbereiten des Fleisches, das Rechnen und dergleichen beizubringen. Ich dulde keine Leute, die ihrer Arbeit nicht mit Stolz nachgehen. Grundstein eines erfolgreichen Geschäftes, sag ich immer, ist die Zufriedenheit des Kunden. Wer für mich arbeitet und sich nicht an meine Regeln hält, kriegt entweder meinen Handrücken zu spüren oder die Tür gewiesen. Manche sagen, ich sei zu hart in diesem Punkt, aber so bin ich eben. In diesem Alter ändert man sich nicht mehr.«
»Scheint mir eine durchaus gerechte Einstellung zu sein.«
»Andererseits jedoch«, fuhr Inger fort, »achte ich die Menschen, die für mich arbeiten. Sind sie gut zu mir, bin ich gut zu ihnen. Ich weiß, wie manch einer seine Arbeiter behandelt, vor allem seine hakenischen Arbeiter, aber das ist nicht meine Art. Wer mich ordentlich behandelt, den behandele ich auch ordentlich. Das ist nur gerecht.
Da dies nun einmal so ist, freundet man sich mit den Menschen an, die bei einem leben und arbeiten. Ihr wisst, was ich meine. Mit den Jahren wird man fast so etwas wie eine Familie. Man sorgt sich um sie. Das ist nur natürlich – vorausgesetzt, man hat überhaupt Sinn für so was.«
»Scheint mir durchaus…«
»Einige von denen, die für mich arbeiten, sind die Kinder der Leute, die vor ihnen da waren und mir geholfen haben, der geachtete Metzger zu werden, der ich bin.« Der Mann beugte sich noch ein Stück weiter vor. »Ich hab zwei Söhne, wirklich gute Burschen, aber manchmal glaube ich, ich bin meinen Arbeitern mehr zugetan als diesen beiden Jungen.
Eine meiner Arbeiterinnen ist ein nettes hakenisches Ding mit Namen Beata.«
In Daltons Kopf begannen die Alarmglocken zu schrillen. Er erinnerte sich gut an das hakenische Mädchen, das er und Stein zu ihrem Vergnügen nach oben bestellt hatten.
»Beata. Kann nicht behaupten, dass der Name mir irgendwie vertraut vorkommt, Inger.«
»Dazu besteht auch nicht die geringste Veranlassung. Sie hat mit der Küche zu tun, unter anderem liefert sie für mich aus. Ich traue ihr, als wäre sie meine eigene Tochter. Sie weiß mit Zahlen umzugehen, vergisst nie, was ich ihr sage. Das ist wichtig, weil Hakenier nicht lesen können und ich ihnen daher keine Liste mitgeben kann. Es ist wichtig, dass sie nichts vergessen. Ich brauche nie für sie aufzuladen; wenn ich ihr sage, was geliefert werden soll, bekommt sie es hin. Ich brauche mich nie zu sorgen, dass sie etwas durcheinander bringt oder etwas nicht mitbekommt.«
»Scheint mir durchaus…«
»Und dann, ganz plötzlich, will sie nicht mehr zum Anwesen ausliefern.«
Dalton beobachtete, wie der Mann seine Faust ballte.
»Heute sollte eine Fuhre angeliefert werden, eine wichtige Lieferung für das Fest. Ich sagte ihr, sie soll Brownie vor den Karren spannen, ich hätte eine Fuhre zum Anwesen für sie.
Sie antwortete: ›Nein.‹« Ingers flache Hand landete krachend auf dem Schreibtisch. »Nein!«
Der Metzger lehnte sich zurück und richtete eine Kerze auf, die dabei umgefallen war.
»Ich mag es nicht besonders, wenn Leute, die für mich arbeiten, mir mit einem ›Nein‹ kommen. Aber Beata, na ja, sie ist wie eine Tochter. Also, denke ich, statt ihr eins mit dem Handrücken zu verpassen, versuche ich es mit Vernunft. Ich dachte, vielleicht ist da ein junger Bursche, den sie nicht mehr liebt und dem sie nicht über den Weg laufen will oder irgend etwas Ähnliches. Manchmal begreife ich nicht, was in den Köpfen der Mädchen vorgeht, dass sie plötzlich ganz launisch werden.
Ich setze sie also hin und frage sie, warum sie die Fuhre nicht zum Anwesen bringen will. Sie meint, sie wolle eben einfach nicht. Darauf ich, das reicht mir nicht. Sie erwidert, sie wolle irgendwo anders hin doppelte Fuhren liefern. Sie sagt, als Strafe würde sie die ganze Nacht Geflügel zubereiten, aber auf das Anwesen wollte sie nicht mehr.
Also frage ich sie, warum sie nicht dorthin will, ob ihr jemand dort etwas angetan hat. Sie weigert sich, mir irgendwas zu erzählen. Weigert sich! Erklärt, sie will keine Fuhren mehr dorthin bringen, und mehr gebe es dazu nicht zu sagen.
Ich sage zu ihr, solange sie mir nicht erklärt, warum sie nicht mehr dorthin will, und zwar so, dass ich es auch verstehe, würde sie Fuhren zum Anwesen hinausbringen, ob ihr das nun gefällt oder nicht. Daraufhin fängt sie an zu weinen.«
Inger ballte abermals seine Faust.
»Nun kenne ich Beata schon, seit sie am Daumen genuckelt hat. Ich glaube, in den vergangenen zwölf Jahren habe ich das Mädchen kein einziges Mal weinen sehen – bis auf einmal. Ich hab gesehen, wie sie sich beim Metzgern ordentlich schnitt, ohne eine Träne zu vergießen, nicht mal, als ich sie nähte. Hat vor Schmerzen ziemlich das Gesicht verzogen, aber geweint hat sie nicht. Als ihre Mutter starb, da hat sie geweint. Aber das war das einzige Mal. Bis ich ihr heute sagte, sie müsse zum Anwesen fahren.
Also lieferte ich die Fuhre selber aus. Meister Campbell, nun weiß ich nicht, was hier vorgefallen ist, aber eins kann ich Euch verraten, was immer es war, es hat Beata zum Weinen gebracht, und das sagt mir, dass es nichts Gutes war. Vorher fuhr sie immer gern. Sie sprach in den höchsten Tönen vom Minister als einem Mann, den sie für alles achtete, was er für Anderith getan hat. Sie war stolz darauf, auf das Anwesen zu liefern. Das ist vorbei. Wie ich Beata kenne, würde ich sagen, irgend jemand hier hat sich mit ihr vergnügt. Und wie ich Beata kenne, hat sie nicht freiwillig mitgemacht. Ganz und gar nicht freiwillig. Wie gesagt, das Mädchen ist für mich fast wie eine Tochter.«
Dalton ließ die Augen nicht von dem Mann. »Sie ist Hakenierin.«
»Das ist wahr.« Inger ließ die Augen nicht von Dalton. »Nun, Meister Campbell, ich will den jungen Mann, der Beata wehgetan hat. Ich habe die feste Absicht, den Mann an einem Fleischerhaken aufzuhängen. Nach dem Geheul, das Beata veranstaltet hat, hab ich das Gefühl, es könnte nicht nur ein junger Mann gewesen sein, sondern vielleicht mehrere. Vielleicht hat eine ganze Bande von Burschen ihr etwas angetan. Ich weiß, Ihr seid ein viel beschäftigter Mann, schon wegen des Mordes an dieser Winthrop, möge ihre Seele ruhen, aber ich wüsste es sehr zu schätzen, wenn Ihr der Sache für mich nachgehen würdet. Ich habe nicht die Absicht, die Sache auf sich beruhen zu lassen.«
Dalton beugte sich vor und faltete die Hände auf dem Tisch.
»Ich kann Euch versichern, Inger, ich werde einen derartigen Vorfall auf dem Anwesen nicht dulden. Ich betrachte dies als überaus ernste Angelegenheit. Das Büro des Ministers für Kultur ist dazu da, dem anderischen Volk zu dienen. Es wäre das denkbar schlechteste Ergebnis, wenn einer oder mehrere Männer hier einer jungen Frau etwas angetan hätten.«
»Nicht ›hätten‹«, widersprach Inger. »Sie haben es getan.«
»Selbstverständlich. Ihr habt meine persönliche Zusicherung, dass ich der Sache persönlich bis zur Auflösung nachgehen werde. Ich dulde nicht, dass irgend jemand, Anderier oder Hakenier, hier auf dem Anwesen in irgendeiner Weise gefährdet ist, jeder hier muss sich vollkommen sicher fühlen können. Ich werde nicht zulassen, dass jemand, ob Anderier oder Hakenier, sich der Gerechtigkeit entzieht. Ihr müsst jedoch verstehen, dass seit der Ermordung einer Dame der Gesellschaft – und der möglichen Gefahr für das Leben anderer – meine Verantwortung in erster Linie dort liegt. Die Stadt ist in heller Aufregung deswegen. Die Menschen erwarten, dass ein derart schweres Verbrechen geahndet wird.«
Inger verneigte sich. »Verstehe. Ich verlasse mich ganz auf Euer Wort, dass ich den Namen des schuldigen jungen Mannes oder der Männer erfahre. Oder der nicht mehr ganz so jungen Männer.«
Dalton erhob sich. »Jung oder alt, wir werden nichts ungenutzt lassen, den Schuldigen zu finden. Darauf habt Ihr mein Wort.«
Inger ergriff Daltons Hand und drückte sie. Der Mann hatte einen malmenden Griff.
»Freut mich zu hören, dass ich zum richtigen Mann gekommen bin, Meister Campbell.«
»Das seid Ihr in der Tat.«
»Ja?«, rief Dalton auf das Klopfen an der Tür hin. Er hoffte zu wissen, wer es war, deshalb fuhr er fort, Befehle für die neuen Wachen niederzuschreiben, deren Aufstellung auf dem Gelände des Anwesens er im Begriff war anzuordnen. Die Wachen auf dem Anwesen waren nicht der Armee unterstellt, es waren Anderier. Echte Wachaufgaben würde er der Armee niemals anvertrauen.
»Meister Campbell?«
Er hob den Kopf. »Komm rein, Snip.«
Der junge Mann betrat schwungvoll den Raum und nahm vor dem Schreibtisch Haltung an. Durch das Anlegen der Uniform schien er gewachsen zu sein, umso mehr seit der Geschichte mit Claudine Winthrop. Dalton war erfreut, wie genau Snip und sein muskelbepackter Freund seine Befehle ausgeführt hatten. Einige der anderen hatten Dalton vertraulich Bericht erstattet.
Dalton legte die gläserne Tintenfeder fort. »Snip, erinnerst du dich noch, wie wir uns das erste Mal unterhalten haben?«
Die Frage brachte den jungen Mann leicht aus der Fassung. »Ja … äh, ja, Sir«, stammelte er. »Das weiß ich noch.«
»Oben im Treppenhaus. Auf dem Treppenabsatz.«
»Ja, Sir, Meister Campbell. Ich war wirklich sehr dankbar, dass Ihr nicht – ich meine, wie Ihr mich behandelt habt.«
»Dass ich nicht gemeldet habe, wie du dich an Orten herumtreibst, an denen du nichts zu suchen hast?«
»Genau, Sir.« Er benetzte sich die Lippen. »Das war sehr freundlich von Euch, Meister Campbell.«
Dalton fuhr sich mit dem Finger über die Schläfe. »Wenn ich mich recht erinnere, hast du mir an jenem Tag erzählt, was für ein rechtschaffener Mann der Minister sei und dass du niemals jemanden über ihn schlecht reden hören möchtest.«
»Ja, Sir, das stimmt.«
»Und wie sich herausstellte, hast du Wort gehalten – du hast bewiesen, dass du alles tun würdest, um ihn zu beschützen.« Dalton setzte ein kaum merkliches Lächeln auf. »Kannst du dich noch erinnern, was ich dir sonst noch an jenem Tag auf der Treppe gesagt habe?«
Snip räusperte sich. »Meint Ihr, dass ich mir eines Tages ein ›Sir‹ vor dem Namen verdienen könnte?«
»Ganz recht. Bis jetzt hast du meine Erwartungen nicht enttäuscht. Nun, erinnerst du dich, was sonst noch an jenem Tag geschehen ist?«
Dalton war absolut sicher, der Junge würde sich erinnern. Snip trat von einem Fuß auf den anderen, während er sich überlegte, wie er es gestehen sollte, ohne es direkt auszusprechen.
»Na ja, Sir, ich … also da war…«
»Snip, erinnerst du dich, wie die junge Frau dich geschlagen hat?«
Snip räusperte sich. »Ja, Sir, daran erinnere ich mich.«
»Und, kennst du sie?«
»Sie heißt Beata. Sie arbeitet beim Metzger, Sir, bei Inger. Sie geht mit mir zu den Bußversammlungen.«
»Und bestimmt hast du auch gesehen, was sie dort oben tat? Der Minister hat dich gesehen. Stein hat dich gesehen. Du musst sie doch mit ihnen zusammen gesehen haben?«
»Der Minister konnte nichts dafür, Sir. Sie hat gekriegt, was sie haben wollte, weiter nichts. Ständig ist sie in Gedanken um ihn herumscharwenzelt und hat davon geredet, wie gut er aussieht und wie wunderbar er ist. Immerzu hat sie laut gestöhnt, wenn sie seinen Namen ausgesprochen hat. Wie ich sie kenne, hat sie gekriegt, was sie haben wollte, Sir.«
Dalton lächelte bei sich. »Du hast sie gemocht, nicht wahr?«
»Na ja, Sir, ich weiß nicht. Ist nicht ganz einfach, jemanden zu mögen, der einen nicht ausstehen kann. Das macht einen mit der Zeit völlig fertig.«
Dalton war keinesfalls verborgen geblieben, was Snip für das Mädchen empfand. Es stand ihm ins Gesicht geschrieben, auch wenn er es abstritt.
»Nun, die Sache ist die, Snip, diese Beata könnte ganz plötzlich Interesse daran bekommen, Ärger zu machen. So etwas kommt bei Mädchen gelegentlich vor, hinterher. Das wirst du eines Tages auch noch lernen. Überleg dir ganz genau, ob du tust, um was sie dich bitten, denn manchmal werden sie später so tun wollen, als hätten sie gar nicht darum gebeten.«
Der junge Mann wirkte verstört. »Das wusste ich noch gar nicht, Sir. Danke für den Rat.«
»Nun, du sagtest es bereits, sie hat lediglich bekommen, was sie haben wollte. Zu Gewaltanwendung ist es nicht gekommen. Es könnte jedoch sein, dass sie es sich plötzlich anders überlegt und behauptet, es sei Vergewaltigung gewesen. Wie diese Claudine Winthrop zum Beispiel. Frauen kommen manchmal auf solche Ideen, wenn sie in der Gesellschaft bedeutender Männer sind – um etwas für sich herauszuschlagen. Sie werden habgierig.«
»Meister Campbell, ich bin mir sicher, sie würde niemals…«
»Eben gerade hat Inger mich aufgesucht.«
Snip erbleichte. »Hat sie ihm was davon gesagt?«
»Nein. Sie hat ihm lediglich erzählt, sie weigere sich, hierher, zum Anwesen, auszuliefern. Er glaubt den Grund zu kennen und will Gerechtigkeit für das, was er zu wissen glaubt. Wenn er dieses Mädchen Beata zwingt, Klage zu erheben, könnte der Minister ungerechterweise zum Opfer hässlicher Anschuldigungen werden.«
Dalton erhob sich. »Du bist mit diesem Mädchen bekannt. Möglicherweise könnte es erforderlich werden, dass du dich mit ihr auf die gleiche Weise befasst wie mit Claudine Winthrop. Dich kennt sie. Sie wird dich nahe an sich heranlassen.«
Snips Farbe wich vollends aus seinem Gesicht. »Meister Campbell … Sir, ich…«
»Was denn, Snip? Bist du etwa nicht mehr daran interessiert, dir ein ›Sir‹ vor dem Namen zu verdienen? Ist dein Interesse an deiner neuen Arbeit als Bote bereits erschöpft? Gefällt dir deine neue Uniform nicht mehr?«
»Nein, Sir. Das ist es nicht.«
»Was ist es dann, Snip?«
»Nichts, Sir. Schätze … wie ich schon sagte, was immer passiert ist, sie hat es nicht anders gewollt. Ich verstehe, es wäre nicht richtig von ihr, den Minister wegen einer Sache zu beschuldigen, wo er doch gar nichts getan hat.«
»Genauso wie es falsch von Claudine Winthrop war, ebensolche Anschuldigungen zu erheben?«
Snip musste schlucken. »Ja, Sir. Genauso falsch.«
Dalton kehrte zu seinem Sessel zurück. »Freut mich, dass wir uns verstehen. Ich werde dich rufen lassen, sobald sie anfängt, Schwierigkeiten zu machen. Hoffen wir, es wird nicht nötig sein. Wer weiß, vielleicht überlegt sie sich ihre hässlichen Anschuldigungen noch einmal. Vielleicht gelingt es dir ja, sie ein wenig zur Vernunft zu bringen, bevor es nötig wird, den Minister gegen ihre verletzenden Anschuldigungen zu schützen. Vielleicht kommt sie sogar zu dem Schluss, das Metzgerhandwerk sei nichts für sie, und geht fort, um auf einer Farm zu arbeiten oder etwas in der Art.«
Dalton nuckelte untätig am Ende seiner Feder, während er zusah, wie Snip die Tür hinter sich zuzog. Er fand es überaus interessant zu beobachten, wie der Junge die Sache angehen würde. Tat er es nicht, dann würde Rowley dies ganz sicher übernehmen.
Aber wenn Snip sich der Sache annahm, dann würden alle Teile seines meisterhaften Mosaiks ein weiteres Mal an ihren Platz fallen.