Meister Spinks Stiefel stapften über den Dielenboden, während er, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, zwischen den Sitzbänken einherschritt. Noch immer beweinten Vereinzelte die anderischen Frauen. Sie weinten über das, was die hakenische Armee ihnen angetan hatte. Snip hatte geglaubt zu wissen, wovon die Strafpredigt handelte, doch er hatte sich getäuscht. Es war viel entsetzlicher, als er sich hatte vorstellen können.
Er spürte, wie sein Gesicht so rot erglühte wie sein Haar. Meister Spink hatte Snips schemenhaftes Wissen über den sexuellen Akt durch eine Menge Einzelheiten ergänzt. Es war nicht die angenehme Erfahrung gewesen, die er sich stets erhofft hatte. Durch die Geschichten über diese anderischen Frauen war seine große Sehnsucht in Ekel umgeschlagen.
Alles wurde dadurch noch schlimmer, dass zu beiden Seiten neben ihm auf der Bank jeweils eine Frau saß. Im sicheren Wissen, was die Lektion bringen würde, hatten sämtliche Frauen versucht, sich auf die eine Seite des Raumes zu setzen, während die Männer alle auf der anderen Seite hatten Platz nehmen wollen. Normalerweise scherte es Meister Spink wenig, wo man sich hinsetzte.
Doch nachdem sie alle der Reihe nach den Raum betreten hatten, hatte Meister Spink sie gezwungen, dort Platz zu nehmen, wo er sie hinbeorderte. Immer abwechselnd Mann und Frau. Er kannte jeden Teilnehmer der Bußversammlung, wusste, wo sie lebten und arbeiteten. Er hatte sie in bunt gemischter Reihe Platz nehmen lassen, stets neben Leuten von woanders, damit man seinen Sitznachbarn nicht sehr gut kannte.
Damit beabsichtigte er die Peinlichkeit für jeden Einzelnen zu erhöhen, wenn er die Geschichte von jeder einzelnen Frau erzählte und was man ihr angetan hatte. Er malte die Verbrechen in allen Einzelheiten aus. Meist wurde gar nicht viel geweint. Die Menschen waren von dem Gehörten zu schockiert, um Tränen zu vergießen, und zu verlegen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Snip zum Beispiel hatte derartige Dinge über Mann und Frau noch nie gehört, dabei hatte er von einigen der anderen Küchenjungen und Boten schon eine Menge mitbekommen. Gewiss handelte es sich bei diesen Männern um hakenische Oberherren, und gewiss waren sie alles andere als nett und freundlich. Sie wollten den anderischen Frauen wehtun, sie erniedrigen. So abscheulich waren diese Hakenier.
»Ganz zweifellos denkt ihr alle«, fuhr Meister Spink fort, »das sei alles vor langer Zeit geschehen, sei eine Ewigkeit her. Das seien die hakenischen Oberherren gewesen. Seitdem haben wir uns gebessert, das ist es doch, was ihr denkt.«
Meister Spinks Stiefel machten vor Snip Halt. »Denkst du das, Snip? Ist es das, was du denkst, seit du diese elegante Uniform trägst? Hältst du dich für besser als die hakenischen Oberherren? Glaubst du, die Hakenier hätten gelernt, bessere Menschen zu werden?«
»Nein, Sir«, antwortete Snip. »Wir sind kein bisschen besser, Sir.«
Meister Spink brummte und zog weiter. »Glaubt irgend jemand von euch, die Hakenier heute seien im Begriff, ihr hassenswertes Wesen zu überwinden? Haltet ihr euch für bessere Menschen als die in der Vergangenheit?«
Snip wagte einen verstohlenen Blick nach beiden Seiten. Vielleicht die Hälfte der Anwesenden hob zaghaft die Hand.
Meister Spink bekam einen Wutanfall. »Sieh an! Ihr glaubt also, die Hakenier heutzutage seien besser? Ihr arrogantes Pack haltet euch für besser?«
Sämtliche Hände sanken blitzschnell zurück in den Schoß.
»Ihr seid nicht besser! Euer hassenswertes Wesen hat bis zum heutigen Tag Bestand!«
Seine Stiefel nahmen erneut ihr langsames Stampfen auf, während er durch die schweigende Versammlung schritt.
»Ihr seid nicht besser«, wiederholte er, diesmal jedoch mit ruhiger Stimme. »Ihr seid ganz genauso.«
Snip konnte sich nicht erinnern, dass die Stimme dieses Mannes jemals so niedergeschlagen geklungen hätte. Er hörte sich an, als sei er im Begriff, jeden Augenblick selbst in Tränen auszubrechen.
»Claudine Winthrop war eine überaus geachtete und angesehene Frau. Zeit ihres Lebens hat sie sich für alle Menschen eingesetzt, für Hakenier und Anderier gleichermaßen. Eine ihrer letzten Arbeiten befasste sich mit der Änderung veralteter Gesetze, damit hungernde Menschen, Hakenier vor allem, Arbeit finden können. Unmittelbar vor ihrem Tod musste sie erfahren, dass ihr euch nicht von diesen hakenischen Oberherren unterscheidet, dass ihr ganz genauso seid.«
Seine Stiefel stapften durch den Raum.
»Claudine Winthrop hatte etwas mit diesen Frauen von vor langer Zeit gemein – mit jenen Frauen, von denen ich euch heute berichtet habe. Sie ereilte dasselbe Schicksal.«
Snip runzelte verwundert die Stirn. Er wusste schließlich, dass Claudine keineswegs dasselbe Schicksal ereilt hatte. Sie war eines schnellen Todes gestorben.
»Genau wie jene Frauen, wurde auch Claudine Winthrop von einer Bande Hakenier vergewaltigt.«
Snip sah auf, während die Falten auf seiner Stirn immer tiefer wurden. Als er es merkte, änderte er sofort seinen Gesichtsausdruck. Zum Glück befand sich Meister Spink gerade auf der anderen Seite des Raumes und blickte den hakenischen Jungen dort in die Augen, weshalb ihm Snips verdutzte Reaktion entging.
»Wie lange die arme Claudine Winthrop das Gelächter, den Hohn und das Gejohle der sie vergewaltigenden Männer ertragen musste, können wir nur vermuten. Wie viele dieser grausamen, brutalen Hakenier sie dieser schweren Prüfung unterzogen, dort draußen auf dem Feld, können wir bestenfalls erraten; aus der Art, wie der Weizen dort niedergetreten wurde, schließen die Behörden, dass es zwischen dreißig und vierzig Männer gewesen sein müssen.«
Der Versammlung entfuhr ein kollektives Stöhnen. Auch Snip stöhnte auf, denn sie waren nicht einmal halb so viele gewesen. Am liebsten hätte er sich von seinem Platz erhoben und gesagt, das sei nicht richtig, so etwas Gemeines hätten sie Claudine nicht angetan, außerdem habe sie es verdient, umgebracht zu werden, weil sie versucht hatte, dem Minister und zukünftigen Herrscher Schaden zuzufügen, und es sei doch seine Pflicht gewesen. Am liebsten hätte Snip gesagt, sie hätten ein gutes Werk für den Minister und für Anderith getan. Stattdessen senkte er den Kopf.
»Doch im Grunde waren es nicht nur diese dreißig oder vierzig Männer«, fuhr Meister Spink fort. Er schwenkte seinen ausgestreckten Finger langsam von einer Seite des Raumes zur anderen. »Ihr alle wart es. Ihr Hakenier habt sie alle miteinander vergewaltigt und ermordet. Weil ihr noch immer diesen Hass in euren Herzen tragt, tragt ihr alle einen Teil der Schuld an dieser Vergewaltigung, an diesem Mord.«
Er kehrte dem Raum den Rücken zu. »Und jetzt macht, dass ihr verschwindet. Ich habe für heute mehr als genug gesehen von euren hasserfüllten hakenischen Augen, ich ertrage eure Verbrechen keinen Augenblick länger. Geht. Geht und denkt bis zur nächsten Bußversammlung darüber nach, wie ihr euch bessern könnt.«
Snip sprang auf und stürzte Richtung Tür. Er wollte sie auf keinen Fall verpassen. Sie sollte nicht bis draußen auf die Straße kommen. Im Geschiebe der anderen, die es eilig hatten, nach draußen zu gelangen, verlor er sie aus den Augen, trotzdem gelang es ihm, sich fast bis an die Spitze der Schlange vorzudrängein.
Draußen in der kühlen Abendluft löste Snip sich sofort aus dem Gedränge. Er sah denen hinterher, die vor ihm hinausgegangen waren, und rannte hinaus auf die Straße, konnte sie aber nirgends entdecken. Im Schatten wartend, beobachtete er, wie die übrigen Menschen das Gebäude verließen.
Als er sie erblickte, rief er ihren Namen in weithin hörbarem Flüsterton.
Beata blieb stehen und sah herüber. Sie spähte in den Schatten hinein und versuchte zu erkennen, wer dort ihren Namen gerufen hatte. Menschen, die den Pfad entlanggehen wollten, drängten an ihr vorbei, daher trat sie von ihm herunter und machte einen Schritt in seine Richtung.
Sie trug nicht mehr das dunkelblaue Kleid, das er so gerne mochte, das Kleid, das sie an besagtem Tag getragen hatte, als sie nach oben gestiegen war, um sich mit dem Minister zu treffen. Jetzt hatte sie ein weizenfarbiges Kleid an mit einem dunkelbraunen Leibchen über einem langen, weiten Rock.
»Ich muss mit dir reden, Beata.«
»Snip?« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Bist du das etwa, Snip?«
»Ja!«, rief er leise.
Sie wandte sich zum Gehen, doch er packte sie am Handgelenk und zog sie in den Schatten. Gerade liefen die Letzten den Pfad entlang, sie hatten es eilig, nach Hause zu kommen, und interessierten sich nicht für zwei junge Leute, die sich nach der Bußversammlung zu einem Stelldichein trafen. Beata versuchte ihren Arm zu befreien, doch er hielt ihn in festem Griff gepackt und zog sie tiefer hinein in die schwarzen Schatten der Bäume und Büsche neben dem Versammlungssaal.
»Lass los! Lass los, Snip, oder ich schreie!«
»Ich muss mit dir reden«, bat er sie flüsternd. »Komm mit!«
Stattdessen setzte sie sich gegen ihn zur Wehr. Er zerrte und schob, bis er endlich eine Stelle tiefer im Gestrüpp erreicht hatte, wo niemand sie sehen würde. Wenn sie sich still verhielten, würde sie auch niemand hören. Durch eine Lücke zwischen Gebüsch und Bäumen schien der Mond.
»Snip! Ich will nicht, dass du mich mit deinen dreckigen hakenischen Händen anfasst!«
Er drehte sich zu ihr um und ließ ihr Handgelenk los. Augenblicklich schoss ihr anderer Arm heran, um ihn zu schlagen. Das hatte er erwartet und bekam ihr Handgelenk zu fassen, woraufhin sie ihm jedoch einen deftigen Schlag mit ihrer anderen Hand versetzte.
Er schlug sofort zurück. Sein Schlag war alles andere als fest gewesen, trotzdem war sie vor Schreck wie gelähmt. Es galt als Verbrechen, wenn ein hakenischer Mann jemanden schlug. Er hatte wirklich nicht sehr fest zugeschlagen, schließlich war es nicht seine Absicht, ihr wehzutun, er wollte sie bloß überraschen, damit sie ihm genau zuhörte.
»Du musst mir zuhören«, knurrte er. »Du steckst in Schwierigkeiten.«
Im Mondschein konnte er das wütende Funkeln ihrer Augen deutlich sehen. »Du bist es, der in Schwierigkeiten steckt. Ich werde Inger erzählen, dass du mich ins Gebüsch gezogen und mich geschlagen hast, und dann…«
»Du hast Inger schon genug erzählt!«
Einen Augenblick lang war sie still. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst, deshalb gehe ich jetzt. Ich habe nicht die Absicht, hier stehen zu bleiben und mich noch einmal von dir schlagen zu lassen, jetzt, wo du bewiesen hast, wie ekelhaft du zu Frauen sein kannst.«
»Du wirst mir jetzt zuhören, und wenn ich dich zu Boden werfen und mich auf dich setzen muss!«
»Versuch das bloß, du mickriger, kleiner Hänfling.«
Die Lippen fest aufeinander gepresst, versuchte Snip die Kränkung zu ignorieren.
»Beata, bitte! Würdest du mir bitte endlich zuhören? Ich hab dir etwas Wichtiges zu sagen.«
»Wichtig? Für dich vielleicht, aber nicht für mich! Behalt es für dich, ich will nichts davon hören. Ich kenne dich. Ich weiß, wie viel Freude es dir macht…«
»Möchtest du mit ansehen müssen, dass man den Leuten, die für Inger arbeiten, etwas antut? Willst du, dass man Inger etwas antut? Es geht nicht um mich. Ich weiß nicht, warum du so schlecht von mir denkst, ich will dich aber auch gar nicht davon abbringen. Hier geht es nur um dich.«
Beata verschränkte wutschnaubend die Arme. Einen Moment lang überlegte sie. Snip vergewisserte sich mit einem Blick seitlich ins Gebüsch, dass niemand von der Straße aus herübersah. Beata strich sich das Haar hinter ein Ohr.
»Also red schon, aber erzähl mir bloß nicht, was für ein netter junger Mann du bist in deiner eleganten Uniform. Und beeil dich. Inger hat Arbeit für mich.«
Snip benetzte sich die Lippen. »Inger hat heute die Fuhre zum Anwesen begleitet. Er ist selbst gefahren, weil du dich geweigert hast, weiter zum Anwesen zu liefern…«
»Woher weißt du das?«
»Ich bekomme einiges mit.«
»Und woher wusste …?«
»Wirst du mir jetzt zuhören? Du steckst in jeder Menge Schwierigkeiten, außerdem bist du in Gefahr.«
Sie stemmte die Fäuste in die Hüften, sagte aber immer noch nichts, also fuhr er fort. »Inger glaubt, du seist auf dem Anwesen missbraucht worden. Er kam und verlangte, dass irgend etwas getan wird. Er verlangt, den Namen dessen zu erfahren, der dir das angetan hat.«
Sie musterte ihn im Mondlicht von Kopf bis Fuß.
»Woher weißt du das?«
»Hab ich doch schon gesagt, ich bekomme so einiges mit.«
»Ich hab Inger nichts von allem erzählt.«
»Spielt keine Rolle. Vielleicht ist er von ganz allein darauf gekommen, was weiß ich – wichtig ist, dass er dich mag und unbedingt will, dass etwas geschieht. Er hat sich in den Kopf gesetzt, um jeden Preis für Gerechtigkeit zu sorgen, und wird die Angelegenheit deshalb nicht auf sich beruhen lassen. Er ist fest entschlossen, Ärger deswegen zu machen.«
Sie seufzte gereizt. »Ich hätte mich nicht weigern dürfen zu fahren. Ich hätte es einfach tun sollen – ganz gleich, ob mir dasselbe vielleicht noch einmal zugestoßen wäre.«
»Ich mache dir keinen Vorwurf, Beata. An deiner Stelle hätte ich wahrscheinlich ebenso gehandelt.«
Sie musterte ihn argwöhnisch. »Trotzdem will ich wissen, wer dir das alles erzählt hat.«
»Ich bin jetzt Bote und ständig in der Nähe von wichtigen Leuten. Wichtige Leute reden darüber, was auf dem Anwesen vor sich geht. Ich bekomme mit, worüber sie sich unterhalten, das ist alles. Und das hab ich eben gehört. Die Sache ist die: Solltest du erzählen, wie es wirklich war, würde man darin einen Versuch sehen, dem Minister Schaden zuzufügen.«
»Ach, hör doch auf, Snip, ich bin ein hakenisches Mädchen. Wie könnte ich dem Minister Schaden zufügen?«
»Wie du mir selbst erzählt hast, sprechen die Leute davon, er könnte demnächst Herrscher werden. Hast du je gehört, dass jemand etwas gegen den Herrscher gesagt hätte? Nun, der Minister steht in der Tat kurz vor seiner Ernennung zum Herrscher.
Wie, meinst du, würde man es auffassen, wenn du Gelegenheit bekämst, zu erzählen, was passiert ist? Meinst du, wenn der Minister alles abstreitet, würde man glauben, du seist ein braves Mädchen und er ein Lügner? Anderier lügen nicht, das hat man uns beigebracht. Wenn du irgend etwas gegen den Minister sagst, wirst du als Lügnerin dastehen. Schlimmer noch, als Lügnerin, die versucht, dem Minister für Kultur zu schaden.«
Sie schien über seine Worte nachzudenken, als stellten sie ein unlösbares Rätsel dar.
»Na ja … eigentlich will ich ja gar nicht, aber wenn ich wirklich etwas erzählte, würde der Minister zugeben, dass es stimmt – denn es wäre ja die Wahrheit. Anderier lügen nicht, nur Hakenier sind von Natur aus verdorben. Wenn überhaupt, würde er zugeben, dass es die Wahrheit ist.«
Snip stieß einen verzweifelten Seufzer aus. Er wusste, Anderier waren rechtschaffener als sie, und Hakenier besaßen ein verdorbenes Wesen, allmählich jedoch dämmerte ihm, dass nicht alle Anderier vollkommen fehlerlos und perfekt waren.
»Sieh her, Beata, ich weiß auch, was wir gelernt haben, aber das ist nicht immer die ganze Wahrheit. Einige der Dinge, die man uns beibringt, sind einfach unlogisch. Es ist nicht alles wahr.«
»Doch, es ist alles wahr«, erwiderte sie tonlos.
»Das denkst du vielleicht, aber so ist es nicht.«
»Ach, wirklich? Ich glaube, du willst dir einfach nur nicht selber eingestehen, wie ekelhaft hakenische Männer sind. Du wünschst dir bloß, du hättest keine so lasterhafte Seele. Du wünschst dir, es wäre nicht wahr, was hakenische Männer diesen Frauen vor so langer Zeit angetan und was hakenische Männer mit Claudine Winthrop gemacht haben.«
Snip wischte sich das Haar aus der Stirn. »Denk doch mal nach, Beata. Woher könnte Meister Spink wissen, was man jeder einzelnen dieser Frauen angetan hat?«
»Aus Büchern, du Dummkopf. Falls du es vergessen haben solltest: Anderier sind des Lesens kundig. Auf dem Anwesen wimmelt es von Büchern, in denen…«
»Du glaubst tatsächlich, die Männer, die diese Frauen vergewaltigt haben, haben zwischendurch eine Pause eingelegt und Buch darüber geführt? Du glaubst, sie haben die Frauen nach ihrem Namen und allem gefragt und dann alles ganz gewissenhaft aufgeschrieben, damit es später Bücher gibt, in denen alle ihre Taten aufgelistet sind?«
»Ja, genauso haben sie es gemacht. Wie alle hakenischen Männer hatten sie ihre Freude daran, was sie diesen Frauen angetan haben. Sie haben alles aufgeschrieben. Das weiß doch jedes Kind. So steht es in den Büchern.«
»Und was ist mit dieser Claudine Winthrop? Verrate mir doch mal, wo sich das Buch befindet, in dem steht, wie sie von den Männern vergewaltigt wurde, die sie später umgebracht haben.«
»Na, jedenfalls wurde sie umgebracht, das ist doch offensichtlich. Und es waren Hakenier, denn genau das tun hakenische Männer. Du solltest dich doch mit hakenischen Männern auskennen, du kleiner…«
»Claudine Winthrop hat den Minister eines Verbrechens beschuldigt. Immerzu hat sie ihm hinterhergeschmachtet und so getan, als sei sie an ihm interessiert. Nachdem sie dann seine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt und sich ihm bereitwillig hingegeben hatte, beschloss sie plötzlich, sich das Ganze anders zu überlegen. Sie begann herumzuerzählen, er habe sie gegen ihren Willen mit Gewalt genommen. Genau wie das, was dir in Wirklichkeit zugestoßen ist. Und kurz nachdem sie angefangen hatte, die bösartigen Lügen zu verbreiten, er habe sie vergewaltigt, war sie plötzlich tot.«
Beata verstummte. Snip wusste, dass Claudine dem Minister nur Schwierigkeiten hatte machen wollen – denn das hatte Dalton Campbell ihm gesagt. Andererseits, was Beata widerfahren war, war nicht freiwillig geschehen, trotzdem hatte sie nicht die Absicht, deswegen Ärger zu machen.
Die Grillen zirpten, während sie im Dunkeln stand und ihn unverwandt ansah. Snip vergewisserte sich abermals, dass niemand in der Nähe war. Durch das Gestrüpp konnte er Leute erkennen, die die Straße entlangschlenderten. Niemand achtete auf das im Dunkeln liegende Gebüsch, in dem die beiden sich versteckt hielten.
Schließlich sprach sie, aber ihre Stimme klang nicht mehr so hitzig wie zuvor. »Inger weiß überhaupt nichts, und ich hab nicht die Absicht, ihm etwas zu erzählen.«
»Dafür ist es zu spät. Er war bereits auf dem Anwesen und hat die Leute aufgescheucht, du seist dort vergewaltigt worden. Und zwar wichtige Leute. Er hat Forderungen gestellt. Er verlangt Gerechtigkeit. Inger wird dich zwingen zu sagen, wer dir das angetan hat.«
»Das kann er nicht.«
»Er ist Anderier, du bist Hakenierin. Er kann. Selbst wenn er es sich anders überlegt und es wegen des Wespennestes, in dem er gestochert hat, bleiben lässt, könnten gewisse Leute auf dem Anwesen beschließen, dich vor den Friedensrichter zu schleppen und ihn dazu bringen, dich mit Hilfe einer Verfügung zu zwingen, besagte Person zu nennen.«
»Ich werde einfach alles abstreiten.« Sie zögerte. »Damit können sie mich nicht zwingen.«
»Nein? Na ja, wenn du dich weigerst zu erzählen, was passiert ist, wärst du auf jeden Fall eine Kriminelle. Sie sind überzeugt, dass es Hakenier waren, also wollen sie die Namen. Inger ist Anderier und behauptet, es ist passiert. Wenn du ihnen nicht erzählst, was sie hören wollen, werden sie dich höchstwahrscheinlich in Ketten legen, bis du es dir anders überlegst. Selbst wenn nicht, würdest du zumindest deine Arbeit verlieren. Du wärst eine Ausgestoßene. Du hast erzählt, eines Tages wolltest du der Armee beitreten – das sei dein Traum. Kriminelle dürfen nicht in die Armee. Der Traum wäre dahin. Du wärst eine Bettlerin.«
»Ich würde andere Arbeit finden. Ich kann hart arbeiten.«
»Du bist Hakenierin. Wenn du einem Friedensrichter die Zusammenarbeit verweigerst, handelst du dir damit eine Einstufung als Kriminelle ein. Du würdest als Prostituierte enden.«
»Ganz bestimmt nicht!«
»Doch, ganz sicher. Du musst nur kalt und hungrig genug sein, und schon ist es passiert. Du müsstest dich an Männer verkaufen. Alte Männer. Meister Campbell hat mir erzählt, dass Prostituierte sich die entsetzlichsten Krankheiten holen und sterben. Genauso würdest du auch sterben, weil du mit alten Männern zusammen warst, die…«
»Ganz bestimmt nicht! Das würde ich niemals tun, Snip. Ganz bestimmt nicht.«
»Wovon willst du denn leben? Wie willst du leben, nachdem man dich nach deiner Weigerung, die Fragen eines Friedensrichters zu beantworten, als hakenische Kriminelle eingestuft hat? Und selbst wenn du alles erzählst, warum sollten sie dir glauben? Man würde dich als Lügnerin bezeichnen, und damit wärst du genauso eine Kriminelle, denn du hättest Unwahrheiten über einen anderischen Beamten verbreitet. Auch das ist ein Verbrechen, musst du wissen – wenn man Unwahrheiten über anderische Beamten verbreitet, indem man falsche Beschuldigungen erhebt.«
Sie sah ihm einen Augenblick lang prüfend in die Augen. »Aber sie wären ja gar nicht falsch. Du könntest doch bezeugen, dass es stimmt, was ich sage. Du hast erzählt, du willst der Sucher der Wahrheit sein, erinnerst du dich noch? Das sei dein Traum. Mein Traum ist es, der Armee beizutreten, und deiner, Sucher der Wahrheit zu werden. Als Mann, der Sucher werden möchte, müsstest du aufstehen und sagen, dass es die Wahrheit ist.«
»Siehst du? Eben noch hast du behauptet, du würdest niemals etwas erzählen, und jetzt redest du schon selbst davon.«
»Aber du könntest mir doch zur Seite stehen und die Wahrheit sagen.«
»Ich bin Hakenier. Meinst du wirklich, sie glauben eher zwei Hakeniern als dem Minister für Kultur persönlich? Hast du den Verstand verloren? Kein Mensch hat Claudine Winthrop geglaubt, dabei war sie Anderierin und obendrein eine wichtige Persönlichkeit. Sie hat die Anschuldigung erhoben, weil sie dem Minister schaden wollte, und jetzt ist sie tot.«
»Aber wenn es doch die Wahrheit ist…«
»Und was ist die Wahrheit, Beata? Dass du mir erzählt hast, was für ein großartiger Mann der Minister ist? Dass du mir erzählt hast, für wie gut aussehend du ihn hältst? Dass du seufzend zu seinem Fenster hochgeschaut und ihn Bertrand genannt hast? Dass du einen völlig verklären Blick hattest, als man dich nach oben zu einem Stelldichein mit dem Minister bat? Dass Dalton Campbell dich am Ellenbogen stützen musste, damit du nicht vor lauter Glückseligkeit davon schwebst, nur weil der Minister dich kennen lernen wollte, um dich zu bitten, Inger auszurichten, wie sehr ihm seine Fleischwaren munden?
Ich weiß nur, du und er, ihr habt … Vielleicht hast du Ansprüche gestellt, hinterher. Ich hab gehört, so was kommt bei Frauen schon mal vor: dass sie Ansprüche stellen. Erst tun sie so, als seien sie willig, anschließend erheben sie Anschuldigungen, um für sich etwas herauszuschlagen. Erzählt man sich jedenfalls.
Nach allem, was ich weiß, warst du vielleicht so begeistert, ihn kennen zu lernen, dass du zum Zeichen deiner Bereitwilligkeit die Röcke hoch geschoben und ihn gefragt hast, ob er dich nicht haben will. Mir hast du nichts davon gesagt. Von dir hab ich nichts bekommen als eine Ohrfeige – wahrscheinlich weil ich mitgekriegt habe, wie du dir mit dem Minister einen schönen Nachmittag gemacht hast, während du eigentlich hättest arbeiten sollen. Nach allem, was ich über die Geschichte weiß, hätte es durchaus so gewesen sein können.«
Beatas Kinn zitterte, während sie blinzelnd versuchte, ihre Tränen zu unterdrücken. Sie ließ sich zu Boden sinken, hockte sich auf ihre Fersen und weinte in ihre Hände.
Snip stand eine Minute lang daneben und überlegte stumm, was er tun sollte. Schließlich kniete er vor ihr nieder. Sie weinen zu sehen erfüllte ihn mit Angst und Sorge. Er kannte sie schon lange, und nie hatte er gehört, dass sie wie andere Mädchen geweint hätte. Jetzt heulte sie wie ein kleines Kind.
Snip legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. Sie schüttelte die Hand herunter.
Da sie offenbar nicht getröstet werden wollte, hockte er einfach da, auf seinen Fersen, und schwieg. Er spielte kurz mit dem Gedanken, zu gehen und sie ihren Tränen zu überlassen, fand dann aber, er sollte wenigstens zur Stelle sein, falls sie etwas brauchte.
»Snip«, sagte sie, von Schluchzern unterbrochen, während ihr die Tränen über die Wangen liefen, »was soll ich bloß tun? Ich schäme mich so. Ich habe alles vermasselt. Es ist alles meine Schuld – ich habe einen rechtschaffenen Anderier mit meinem widerwärtigen, böswilligen Wesen in Versuchung geführt. Das wollte ich nicht, glaube ich jedenfalls, trotzdem hab ich es getan. Was er getan hat, ist allein meine Schuld.
Aber ich kann nicht lügen und behaupten, ich sei willig gewesen, wenn ich es nicht war. Ich hab versucht, mich gegen sie zur Wehr zu setzen, aber sie waren zu stark. Ich schäme mich so. Was soll ich bloß tun?«
Snip versuchte trotz des Kloßes in seiner Kehle zu schlucken. Er hätte es lieber verschwiegen, aber ihr zuliebe musste er es sagen. Tat er es nicht, würde sie wahrscheinlich enden wie Claudine Winthrop – und er wäre derjenige, an den man sich deswegen wenden würde. Dann wäre alles vorbei, denn er wusste, dass er das unmöglich tun konnte. Er würde wieder in der Küche landen und Töpfe schrubben – im günstigsten Fall. Aber lieber das, als Beata ein Leid zuzufügen.
Snip ergriff ihre Hand und öffnete sie sacht. Er griff in seine Jackentasche und holte etwas hervor. Dann drückte er ihr die Anstecknadel mit dem spiralförmigen Ende in die Hand. Jene Anstecknadel, mit der Beata den Kragen ihres blauen Kleides zu schließen pflegte. Die Anstecknadel, die sie an besagtem Tag im dritten Stock verloren hatte.
»Tja, wie ich die Sache sehe, steckst du bis zum Hals in Schwierigkeiten, Beata. Meiner Meinung nach gibt es wirklich nur noch einen Ausweg.«