Du Chaillu entfernte sich zu ihren Meistern der Klinge. Augenscheinlich erklärte sie den Männern, sie sollten sich niederlassen und ausruhen, während sie mit dem Caharin sprach. Während sie sich darum kümmerte, stieß Kahlan Richard in die Rippen und drängte ihn hinüber zu ihren Sachen.
»Hol Du Chaillu eine Decke, auf die sie sich setzen kann«, raunte Kahlan.
»Wozu braucht sie eine von unseren? Sie haben ihre eigenen Decken dabei. Außerdem muß sie sich nicht auf eine Decke setzen, um mir zu erklären, weshalb sie hier ist.«
Kahlan stieß ihn abermals in die Rippen. »Hol sie einfach«, meinte sie leise, damit die anderen nichts mitbekamen. »Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, die Frau ist schwanger, es täte ihr gut, sich zur Abwechslung hinsetzen zu können.«
»Aber das heißt doch nicht…«
»Richard«, fauchte Kahlan ihn an und brachte ihn damit zum Schweigen. »Wenn man unbedingt möchte, daß jemand tut, was man von ihm verlangt, läßt man ihm einen kleinen Sieg, damit er dabei sein Gesicht wahren kann. Wenn du willst, bringe ich sie ihr.«
»Na schön«, meinte Richard, »von mir aus. Ich nehme an…«
»Siehst du? Gerade hast du selbst den Beweis geliefert. Und die Decke wirst du ihr bringen.«
»Du Chaillu wird also ein kleiner Sieg zugestanden, aber mir nicht?«
»Du bist und bleibst ein großer Junge. Du Chaillus Preis ist eine Decke zum Draufsitzen, während sie dir erklärt, weshalb sie hier ist. Der Preis ist sehr gering. Du solltest keinen bereits gewonnenen Krieg weiterführen, nur um den Gegner vollends zu erniedrigen.«
»Aber sie…«
»Ich weiß. Was Du Chaillu zu dir gesagt hat, war nicht richtig. Du weißt das, ich weiß es, und sie weiß es auch. Aber ihre Gefühle waren verletzt, und das nicht völlig grundlos. Wir alle machen Fehler.
Sie hat das Ausmaß einer Gefahr nicht verstanden, die wir soeben erst erkannt haben. Um den Preis einer Decke zum Draufsitzen hat sie in den Frieden eingewilligt. Sie möchte nichts weiter, als daß du ihr eine Höflichkeit erweist. Du wirst dir nichts vergeben, wenn du ihren Empfindlichkeiten nachgibst.«
Richard warf einen Blick über die Schulter, als sie bei ihren Sachen angelangt waren. Du Chaillu sprach zu den Meistern der Klinge.
»Hast du ihr gedroht?« erkundigte sich Richard im Flüsterton, während er eine Decke aus ihrem Bündel zog.
»Aber ja«, flüsterte Kahlan zurück. Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Geh behutsam mit ihr um. Möglicherweise klingen ihr noch ein wenig die Ohren nach unserer kleinen Unterredung.«
Richard stapfte hinüber und trat übertrieben deutlich das Gras nieder, um die Decke vor Du Chaillu auf der Erde auszubreiten. Mit der flachen Hand strich er die größten Falten glatt, in die Mitte stellte er einen Wasserschlauch. Als er fertig war, forderte er sie mit einer einladenden Handbewegung auf, Platz zu nehmen.
»Bitte, Du Chaillu« – er brachte es nicht über sich, sie als seine Frau anzusprechen, glaubte aber nicht, daß es wichtig war – »setz dich hin und rede mit mir. Was du zu sagen hast, ist wichtig, außerdem drängt die Zeit.«
Sie inspizierte das ganz in eine Richtung niedergetretene Gras und unterzog die Decke einer eingehenden Untersuchung. Zufrieden mit den Vorbereitungen, ließ sie sich auf der einen Seite im Schneidersitz nieder. Mit ihrem geraden Rücken, dem vorgeschobenen Kinn und den im Schoß gefalteten Händen wirkte sie in gewissem Sinne edel; vermutlich war sie es.
Während sie den Wasserschlauch dankbar entgegennahm, mußte er an ihre erste Begegnung denken. Sie hatte einen Halsring getragen und war an eine Mauer gekettet gewesen. Sie war nackt und verdreckt gewesen und hatte einen Geruch an sich gehabt, als wäre sie bereits seit Monaten dort gefangen – was sogar stimmte. Und doch hatte ihr Benehmen auf ihn ebenso edel gewirkt wie in diesem Augenblick, da sie sauber und in das Gebetskleid der Seelenfrau gehüllt vor ihm saß.
Er erinnerte sich auch noch, wie sie bei seinem Versuch, sie zu befreien, Angst bekommen hatte, er würde sie töten, und ihn deshalb gebissen hatte. Die Erinnerung genügte, um ihre Bißspuren erneut zu spüren.
Dann kam ihm der besorgniserregende Gedanke, diese Frau könnte die Gabe besitzen. Er vermochte das Ausmaß ihrer Kräfte nicht genau einzuschätzen, sah es ihr jedoch an den Augen an. Dank seines Talents konnte er den zeitlosen Blick in den Augen anderer erkennen, sofern sie zumindest ein wenig mit der Gabe der Magie gesegnet waren.
Schwester Verna hatte Richard erzählt, sie habe bei Du Chaillu gewisse Kleinigkeiten ausprobiert, um sie zu testen. Verna meinte, die von ihr auf Du Chaillu gerichteten Banne seien wie in einen Brunnen geworfene Kieselsteine verschwunden und obendrein nicht unbemerkt geblieben. Du Chaillu, hatte Verna behauptet, habe genau gewußt, was man mit ihr anzustellen versuchte, und habe es irgendwie zunichte machen können.
Bereits vor langer Zeit war Richard aufgrund von anderen Beobachtungen zu der Überzeugung gelangt, Du Chaillus Gabe beinhalte eine primitive Form der Prophezeiung. Da sie monatelang in Ketten gelegen hatte, nahm er nicht an, daß sie ihre Umwelt mit ihrer magischen Fähigkeit unmittelbar beeinflussen konnte. Wer andere mit seiner Magie deutlich erkennbar beeinflussen konnte, hatte es nicht nötig zu beißen, überlegte er, und würde auch nicht zulassen, daß man ihn gefangenhält, um später geopfert zu werden. Aber sie konnte verhindern, daß andere ihre Magie gegen sie einsetzten – keine ungewöhnliche Form eines Schutzzaubers, wie Richard erfahren hatte.
Jetzt, da die Chimären in die Welt des Lebendigen eingedrungen waren, würde Du Chaillus Magie, so mächtig sie auch sein mochte, schwinden, wenn dies nicht ohnehin längst geschehen war. Er wartete, bis sie getrunken und den Wasserschlauch zurückgereicht hatte, bevor er begann.
»Du Chaillu, ich brauche unbedingt…«
»Erkundige dich, wie es unserem Volk geht.«
Richard warf Kahlan einen Blick zu. Kahlan verdrehte die Augen und nickte ihm aufmunternd zu.
Richard legte den Wasserschlauch fort und räusperte sich.
»Du Chaillu, es freut mich zu sehen, daß du wohlauf bist. Ich danke dir, daß du meinen Rat befolgt und dein Kind behalten hast. Ich weiß, es bedeutet eine große Verantwortung, ein Kind aufzuziehen. Dein Entschluß wird mit einem Leben voller Freude belohnt werden, und das Kind durch das, was du ihm beibringen kannst, da bin ich ganz sicher. Ich weiß auch, für deine Entscheidung waren meine Worte bei weitem nicht so wichtig wie dein eigener Mut.«
Richard mußte sich nicht bemühen, aufrichtig zu klingen, er war es wirklich. »Es tut mir leid, daß du deine Kleinen zurücklassen mußtest, um auf diese lange und beschwerliche Reise zu gehen und mir deine Worte der Weisheit zu überbringen. Ich weiß, du würdest keine so langwierige und beschwerliche Reise auf dich nehmen, wenn es nicht wichtig wäre.«
Sie wartete, noch immer sichtlich unzufrieden. Richard versuchte ihr Spiel geduldig mitzuspielen, seufzte und fuhr fort.
»Bitte, Du Chaillu, erzähle mir, wie es den Baka Tau Mana geht, nun, da sie endlich in die Heimat ihrer Vorfahren zurückgekehrt sind.«
Endlich huschte ein zufriedenes Lächeln über Du Chaillus Gesicht. »Unserem Volk geht es gut. Es ist, dank dir, Caharin, in seiner angestammten Heimat glücklich, doch darüber werden wir später sprechen. Zuerst muß ich dir erklären, weshalb ich gekommen bin.«
Richard mußte sich beherrschen, um nicht die Stirn zu runzeln. »Ich kann kaum erwarten, was du zu erzählen hast.«
Sie öffnete den Mund, legte dann aber selbst die Stirn in Falten. »Wo ist dein Schwert?«
»Ich habe es nicht bei mir.«
»Warum nicht?«
»Ich mußte es in Aydindril zurücklassen. Das ist eine lange Geschichte, außerdem…«
»Aber wie kannst du der Sucher sein, wenn du dein Schwert nicht bei dir trägst?«
Richard zwang sich, tief durchzuatmen. »Der Sucher der Wahrheit ist eine Person. Das Schwert der Wahrheit dagegen ist ein Werkzeug, dessen der Sucher sich bedient, ganz so wie du die Pfeife benutzt hast, um Frieden zu schaffen. Ich kann durchaus auch ohne das Schwert der Sucher sein, genau wie du auch ohne die geschenkte Pfeife die Seelenfrau sein kannst.«
»Das erscheint mir nicht richtig.« Sie wirkte erschrocken. »Dein Schwert hat mir gefallen. Es hat mir den Ring vom Hals geschlagen und den Kopf gelassen, wo er hingehört. Es hat dich uns als Caharin angekündigt. Du solltest dein Schwert bei dir tragen.«
»Ich werde das Schwert gleich nach meinem Eintreffen in Aydindril zurückerhalten. Wir waren gerade auf dem Weg dorthin, als wir euch hier begegnet sind. Je weniger Zeit ich an einem guten Reisetag mit Herumsitzen verbringe, desto eher werde ich in Aydindril eintreffen und das Schwert zurückbekommen. Tut mir leid, Du Chaillu, wenn ich den Eindruck großer Eile erweckt haben sollte. Ich wollte dich nicht kränken, doch ich fürchte um das Leben unschuldiger Menschen, um das Leben von Menschen, die ich liebe. Meine Eile dient auch der Sicherheit der Baka Tau Mana.
Ich wäre dir dankbar, wenn du mir erklären würdest, was du hier tust. Menschen sterben. Einige aus unserem Volk haben bereits ihr Leben verloren. Ich muß herausfinden, ob ich den Chimären irgendwie Einhalt gebieten kann. Möglicherweise ist mir das Schwert der Wahrheit dabei von Nutzen. Ich muß nach Aydindril, um es zu holen. Können wir bitte fortfahren?«
Jetzt, da er ihr den angemessenen Respekt gezollt hatte, lächelte Du Chaillu bei sich. Ihre Fähigkeit, das Lächeln beizubehalten, schien im gleichen Maße nachzulassen, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Zu erstenmal wirkte sie unsicher, und plötzlich wirkte sie ganz klein und verängstigt.
»Mein Gemahl, ich hatte eine beunruhigende Vision von dir. Als Seelenfrau habe ich häufiger solche Visionen.«
»Das ist schön für dich, aber davon will ich gar nichts hören.«
Sie blickte zu ihm hoch. »Wie?«
»Du hast gesagt, es sei eine Vision gewesen.«
»Ja.«
»Ich möchte mit Visionen nichts zu schaffen haben.«
»Aber … aber … du mußt. Es war doch eine Vision.«
»Visionen sind eine Form der Prophezeiung. Bislang hat mir noch keine Prophezeiung geholfen, fast immer haben sie mir Unglück gebracht. Ich will nichts davon hören.«
»Aber Visionen können helfen.«
»Nein, das können sie nicht.«
»Sie enthüllen die Wahrheit.«
»Sie sind nicht wahrer als ein Traum.«
»Träume können ebenfalls wahr sein.«
»Nein, Träume sind niemals wahr. Sie sind nichts weiter als Träume. Visionen sind ebenfalls nicht wahr. Sie sind nichts als Visionen.«
»Aber ich habe dich in einer Vision gesehen.«
»Interessiert mich nicht. Ich will nichts davon hören.«
»Du hast in Flammen gestanden.«
Richard seufzte schwer. »Ich hatte auch schon Träume, in denen ich fliegen konnte. Dadurch wird es noch lange nicht wahr.«
Du Chaillu beugte sich zu ihm. »Du träumst, du kannst fliegen? Wirklich? Du meinst, wie ein Vogel?« Sie richtete sich auf. »So etwas habe ich noch nie gehört.«
»Es war nur ein Traum, Du Chaillu, wie deine Vision.«
»Aber ich hatte eine Vision davon. Das bedeutet, es ist die Wahrheit.«
»Nur weil ich in meinen Träumen fliegen kann, heißt das noch nicht, daß es auch stimmt. Ich stürze mich nicht mit den Armen schlagend von hoch gelegenen Orten. Es war bloß ein Traum, genau wie deine Vision. Ich kann nicht fliegen, Du Chaillu.«
»Aber verbrennen kannst du.«
Richard legte die Hände auf die Knie, lehnte sich ein Stück nach hinten und atmete tief und erfüllt von Nachsicht durch.
»Also schön, einverstanden. Was ist sonst noch in dieser Vision geschehen?«
»Nichts. Das war alles.«
»Nichts? Das war es schon? Ich, inmitten von Flammen? Da war nichts weiter als ein Traum, in dem ich in Flammen stehe?«
»Es war kein Traum.« Sie hob einen Finger, um ihre Worte zu unterstreichen. »Sondern eine Vision.«
»Und du bist diesen weiten Weg gereist, um mir das mitzuteilen? Nun, vielen Dank, daß du eine so weite Reise auf dich genommen hast, um mir das zu sagen, aber jetzt müssen wir wirklich weiter. Erzähl deinem Volk, der Caharin wünscht ihnen alles Gute. Angenehme Heimreise.«
Richard tat, als wolle er sich erheben.
»Es sei denn, du hast mir noch mehr zu sagen«, setzte er hinzu.
Die Abfuhr ließ Du Chaillu ein wenig auftauen. »Es hat mir Angst gemacht, meinen Gemahl in Flammen zu sehen.«
»Ich bekäme es auch mit der Angst, wenn ich in Flammen stünde.«
»Es würde mir nicht gefallen, wenn der Caharin in Flammen stünde.«
»Dem Caharin ebensowenig. Nun, haben dir deine Visionen auch verraten, wie ich verhindern kann, verbrannt zu werden?«
Sie senkte den Blick und zupfte verlegen an der Decke. »Nein.«
»Siehst du? Zu was taugt sie dann?«
»Sie taugt dazu, daß man von diesen Dingen erfährt«, meinte sie, während sie ein Flusenkügelchen über die Decke rollte. »Das könnte hilfreich sein.«
Richard kratzte sich an der Stirn. Sie stand kurz davor, ihren Mut zusammenzunehmen und ihm etwas noch Wichtigeres, noch Besorgniserregenderes mitzuteilen. Er vermutete, die Vision war nur ein Vorwand gewesen, deshalb mäßigte er seinen Ton, in der Hoffnung, es aus ihr herauszubekommen.
»Danke für deine Warnung, Du Chaillu. Ich werde sie im Gedächtnis behalten, damit sie mir hilft.«
Sie sah ihm in die Augen und nickte.
»Wie hast du mich gefunden?« wollte er wissen.
»Du bist der Caharin.« Jetzt sah sie wieder edel aus. »Ich bin die Seelenfrau der Baka Tau Mana, die Hüterin der alten Gesetze. Deine Gemahlin.«
Richard verstand. Sie war ihm wie die D’Haraner über die Bande verbunden – wie auch Cara. Und wie Cara vermochte auch Du Chaillu seinen Aufenthaltsort zu spüren.
»Ich war eine Tagesreise südlich von hier. Beinahe hättest du mich nicht gefunden. Bereitet es dir neuerdings Schwierigkeiten festzustellen, wo ich mich befinde?«
Sie wich seinem Blick aus und nickte. »Früher brauchte ich mich einfach nur hinzustellen und konnte, den Wind im Haar und die Sonne oder die Sterne im Gesicht, zum Horizont blicken, die Hand ausstrecken und sagen: ›In dieser Richtung befindet sich der Caharin‹.«
Sie brauchte einen Augenblick, um ihre Stimme wiederzufinden. »Es wurde immer schwieriger, zu wissen, wohin ich zeigen soll.«
»Bis vor wenigen Tagen waren wir in Aydindril«, sagte Richard. »Du mußt aufgebrochen sein, lange bevor ich hierher kam.«
»Das ist richtig. Als ich erfuhr, daß ich dich aufsuchen muß, warst du nicht hier.« Sie gestikulierte über ihre Schulter. »Du warst viel, viel weiter nordöstlich.«
»Warum kommst du dann hierher, um mich zu finden, wenn du mich viel weiter nordöstlich in Aydindril spürst?«
»Als mein Gespür für dich immer mehr nachließ, wurde mir klar, dies bedeutet Ärger. Meine Visionen sagten mir, ich muß dich aufsuchen, bevor ich dich ganz verliere. Wäre ich dorthin gereist, wo ich dich bei meinem Aufbruch wußte, wärst du bei meiner Ankunft nicht mehr dort gewesen. Stattdessen zog ich meine Visionen zu Rate, solange ich sie noch hatte, und reiste zu jener Stelle, wo du sein würdest.
Gegen Ende der Reise spürte ich, daß du inzwischen hier angekommen warst. Kurz darauf konnte ich dich nicht mehr spüren. Wir waren noch immer ein beträchtliches Stück entfernt, daher konnten wir nichts weiter tun, als unseren Weg in dieser Richtung fortzusetzen. Die Guten Seelen erhörten meine Gebete und ließen zu, daß unsere Wege sich kreuzten.«
»Es freut mich, daß die Guten Seelen dir geholfen haben, Du Chaillu. Du bist ein guter Mensch und hast ihre Hilfe verdient.«
Sie zupfte abermals verlegen an der Decke. »Aber mein Gemahl glaubt nicht an meine Visionen.«
Richard benetzte seine Lippen. »Früher hat mich mein Vater stets davor gewarnt, Pilze zu essen, die ich im Wald gefunden hatte. Meist sagte er dann, er sehe schon vor seinem inneren Auge, wie ich einen giftigen Pilz esse, woraufhin mir erst schlecht werden und ich schließlich sterben würde. Damit meinte er nicht, er konnte tatsächlich sehen, wie es passiert, sondern daß er Angst um mich hatte. Er wollte mich vor den Folgen warnen, wenn ich unbekannte Pilze esse.«
»Ich verstehe«, sagte sie mit einem verhaltenen Lächeln.
»War es denn eine echte Vision? Vielleicht war es bloß eine Vision von etwas, das geschehen könnte, das aber von den Göttinnen des Schicksals noch nicht endgültig festgelegt ist. Könnte doch sein, daß deine zu dieser Art Visionen gehörte.«
Richard ergriff ihre Hand. »Du Chaillu«, bat er sie freundlich, »erzählst du mir jetzt, weshalb du zu mir gekommen bist?«
Ehrfurchtsvoll glättete sie die bunten Stoffstreifen an ihrem Arm, als wollte sie sich der Gebete erinnern, die ihr Volk ihr mitgegeben hatte. Sie war eine Frau, die die Last der Verantwortung voller Tatkraft, Mut und Würde auf sich nahm.
»Die Baka Tau Mana freuen sich, nach vielen Generationen fernab des Ortes unseres Herzens in ihrer Heimat leben zu können. Unser Heimatland ist genau so, wie es uns in den alten Texten überliefert wurde. Der Boden ist fruchtbar, das Wetter günstig. Es ist ein guter Ort, um unsere Kinder großzuziehen. Ein Ort, an dem wir frei sein können. Unsere Herzen sind erfüllt von Freude, dort leben zu können.
Was du uns zum Geschenk gemacht hast, Caharin, sollte jedem Volk vergönnt sein. Jedes Volk sollte in Sicherheit so leben können, wie es ihm beliebt.«
Ein Ausdruck erschreckenden Kummers fiel wie ein Schatten über ihr Gesicht. »Ihr könnt das nicht. Du und dein Volk aus diesem Land in der Neuen Welt, von dem du mir erzählt hast, ihr lebt nicht in Sicherheit. Eine gewaltige Armee ist im Anmarsch.«
»Jagang«, entfuhr es Richard. »Hattest du eine Vision von dieser Armee?«
»Nein, mein Gemahl. Wir haben sie mit eigenen Augen gesehen. Ich schämte mich, dir davon zu erzählen, weil wir solche Angst vor ihr hatten und ich unsere Angst nicht zugeben wollte.
Damals, als ich an die Mauer gekettet war und wußte, die Majendie könnten jeden Tag kommen und mich opfern, hatte ich nicht so große Angst, denn damals war nur ich es, die sterben würde, nicht mein ganzes Volk. Mein Volk war stark und würde eine neue Seelenfrau ernennen, die meinen Platz einnehmen würde. Sie würden die Majendie zurückschlagen, sollten sie in das Sumpfland eindringen. Ich wäre in dem Wissen gestorben, daß die Baka Ban Mana weiterbestehen würden.
Wir üben jeden Tag mit unseren Waffen, damit niemand kommen und uns vernichten kann. Wir stehen bereit, wie es in den alten Gesetzen heißt, um gegen jeden, der uns angreift, zu kämpfen, als ginge es um unser Leben. Niemand außer dem Caharin würde es wagen, es mit einem unserer Meister der Klinge aufzunehmen.
Doch so gut unsere Meister der Klinge auch sein mögen, gegen eine solche Armee können sie nicht kämpfen. Wenn sie ihr Augenmerk schließlich auf uns richten, werden wir gegen diesen Gegner nichts ausrichten können.«
»Verstehe, Du Chaillu. Erzähl mir, was du gesehen hast.«
»Mir fehlen die Worte, zu beschreiben, was ich gesehen habe. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll, damit du verstehst, wie viele Männer wir gesehen haben, wie viele Pferde, wie viele Karren und Waffen.
Wenn sie vorüberzieht, erstreckt sich diese Armee tagelang, so weit das Auge reicht. Man kann sie nicht in Zahlen fassen. Ebensowenig könnte ich dir sagen, wie viele Grashalme auf dieser Ebene wachsen. Ich kenne kein Wort, das eine solch ungeheuer große Zahl vermitteln könnte.«
»Ich denke, das hast du gerade«, murmelte Richard. »Dann haben sie dein Volk also nicht angegriffen?«
»Nein. Sie sind nicht durch unser Heimatland gezogen. Wir fürchten erst in Zukunft um uns selbst, wenn diese Männer beschließen, daß sie uns schlucken wollen. Diese Sorte Männer wird uns nicht ewig in Frieden lassen. Diese Sorte Männer ist unersättlich, sie werden den Hals niemals vollkriegen.
Unsere Männer werden sterben, unsere Kinder der Mordgier zum Opfer fallen. Unsere Frauen werden mit Gewalt genommen werden. Gegen diesen Gegner sind wir rettungslos verloren.
Du bist der Caharin, deshalb mußt du über diese Dinge unterrichtet werden. So steht es im alten Gesetz. Als Seelenfrau der Baka Ban Mana schäme ich mich, dir meine Angst eingestehen zu müssen, und ich sage dir, unser Volk hat Angst, wir alle könnten zwischen den Zähnen dieses Monstrums zermalmt werden. Wie gerne würde ich dir berichten, daß wir tapfer in den Abgrund des Todes blicken, doch so ist es nicht. Wir sehen ihm bebenden Herzens entgegen.
Du bist der Caharin, du kannst das nicht wissen. Du kennst keine Furcht.«
»Du Chaillu«, wandte Richard mit einem verdutzten Lacher ein, »ich fürchte mich oft.«
»Du? Ausgeschlossen.« Sie senkte den Blick auf die Wolldecke. »Das sagst du nur, damit ich mich nicht schäme. Du hast den dreißig Männern ohne Furcht die Stirn geboten und sie besiegt. Nur der Caharin ist zu so etwas fähig. Der Caharin kennt keine Angst.«
Richard hob ihr Kinn an und schaute ihr in die Augen. »Ich habe den dreißig Männern die Stirn geboten, aber nicht ohne Furcht. Ich hatte schreckliche Angst, so wie ich jetzt schreckliche Angst vor den Chimären und dem uns bevorstehenden Krieg habe. Die eigene Angst einzugestehen bedeutet keine Schwäche, Du Chaillu.«
Seine freundlichen Worte brachten sie zum Lächeln. »Danke, Caharin.«
»Dann hat die Imperiale Ordnung gar nicht versucht, euch anzugreifen?«
»Im Augenblick sind wir sicher. Ich kam, um dich zu warnen, weil sie in die Neue Welt vorrücken. Sie sind an uns vorübergezogen. Zuallererst haben sie es auf dich abgesehen.«
Richard nickte. Sie befanden sich auf dem Weg nach Norden, in die Midlands.
General Reibischs Armee von nahezu einhunderttausend Mann marschierte in östlicher Richtung, um die südlichen Regionen der Midlands zu sichern. Der General hatte Richard um Erlaubnis gebeten, nicht nach Aydindril zurückkehren zu müssen, da es sein Plan war, die von Süden in die Midlands führenden Pässe und vor allem die Schleichwege nach D’Hara hinein zu sichern. Richard hatte das für eine vernünftige Idee gehalten.
Und jetzt verfügte das Schicksal, daß dieser Mann mitsamt seiner d’Haranischen Armee Jagangs Weg kreuzte.
Reibischs Streitmacht war vielleicht nicht groß genug, um es mit der Imperialen Ordnung aufzunehmen, doch die D’Haraner waren leidenschaftliche Kämpfer und für die Sicherung der nach Norden führenden Pässe bestens geeignet. Sobald sie wußten, wohin Jagangs Armee marschierte, konnten zusätzliche Truppen entsandt werden, um sich Reibischs Armee anzuschließen.
Jagang hatte mit der Gabe gesegnete Zauberer und Schwestern in seiner Armee. Auch General Reibisch wurde von einer Anzahl Schwestern des Lichts begleitet. Schwester Verna – mittlerweile Prälatin Verna – hatte Richard ihr Wort gegeben, die Schwestern würden gegen die Imperiale Ordnung und die von ihr eingesetzte Magie kämpfen. Und nun schwand die Magie, allerdings auch die Magie derer, die Jagang unterstützten, abgesehen vielleicht von den Schwestern der Finsternis und den Zauberern in ihrem Gefolge, die wußten, wie man Subtraktive Magie bewirkte.
General Reibisch hatte, wie Richard und die anderen Generäle in Aydindril und D’Hara auch, darauf gezählt, die Schwestern würden ihre Fähigkeiten einsetzen, um Jagangs Armee bei ihrem Vormarsch in die Neue Welt nicht aus den Augen zu verlieren, und mit diesem Wissen der d’Haranischen Armee bei der Auswahl eines vorteilhaften Geländes zu helfen, wo man Aufstellung nehmen konnte. Jetzt schwand die Magie und machte sie blind.
Zum Glück hatten Du Chaillu und die Baka Tau Mana sich nicht von der Imperialen Ordnung überraschen lassen.
»Das ist eine große Hilfe, Du Chaillu.« Richard lächelte sie an. »Du bringst wichtige Neuigkeiten. Jetzt kennen wir Jagangs Plan. Dann haben sie also nicht versucht, durch euer Land zu marschieren? Sie haben euch einfach links liegenlassen?«
»Sie hätten einen Umweg machen müssen, um uns zu diesem Zeitpunkt anzugreifen. Wegen ihrer gewaltigen Zahl kamen die Ausläufer ihrer Armee in unsere Nähe, doch ganz wie ein Stachelschwein im Magen eines Hundes, haben unsere Meister der Klinge dafür gesorgt, daß es eine schmerzhafte Erfahrung für sie wurde, uns zu streifen.
Wir haben einige Anführer dieser zweibeinigen Hunde gefangengenommen. Sie erzählten uns, zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei ihre Armee nicht an unserem kleinen Land und seinem Volk interessiert und bereit, uns nicht weiter zu beachten. Eines Tages jedoch werden sie zurückkommen und die Baka Tau Mana von diesem Land tilgen.«
»Sie haben euch ihre Pläne verraten?«
»Jeder redet, wenn man ihn richtig fragt.« Sie lächelte. »Die Chimären sind nicht die einzigen, die Feuer benutzen. Wir…«
Richard hob eine Hand. »Ich verstehe schon.«
»Sie erzählten uns, ihre Armee marschiere an einen Ort, der sie mit Nachschub beliefern kann.«
Richard fuhr sich nachdenklich mit dem Finger über die Unterlippe, während er sich diese bedeutsame Information durch den Kopf gehen ließ.
»Das klingt logisch. Bereits seit einiger Zeit sammeln sie ihre Streitkräfte in der Alten Welt. Sie können nicht ewig an Ort und Stelle verharren, nicht eine Armee von dieser Größe. Eine Armee muß mit Nahrungsmitteln versorgt werden. Eine Armee von diesem Ausmaß muß normalerweise in Bewegung bleiben, da sie auf Nachschub angewiesen ist, auf gewaltige Mengen von Nachschub. Die Neue Welt wäre für sie, als Ergänzung zu ihren Eroberungen, ein verlockender Happen.«
Er sah zu Kahlan auf, die hinter seiner linken Schulter stand. »Wo würden sie diese Nachschubmengen am ehesten suchen?«
»Da käme eine Reihe von Orten in Frage«, antwortete Kahlan. »Sie könnten beim Einmarsch in jede Stadt Beute machen und sich alles, was sie benötigen, auf ihrem weiteren Vormarsch in die Midlands beschaffen. Solange sie das bei der Auswahl ihrer Route beachten, könnten sie ihre Armee auf dem Marsch ernähren wie eine Fledermaus, die im Flug Käfer fängt.
Oder sie überfallen einen Ort, an dem größere Mengen an Vorräten lagern. Lifany könnte ihnen riesige Getreidemengen einbringen, Sanderia verfügt über ausgedehnte Schafherden, die ihnen Fleisch liefern könnten. Wenn sie sich Ziele mit ausreichend großen Lebensmittelvorräten aussuchen, könnten sie ihre Armee auf lange Sicht mit Nachschub versorgen, was ihnen wiederum ermöglicht, ihre Ziele nach Belieben aus rein strategischen Erwägungen auszusuchen. Für uns brächen schwere Zeiten an.
Wäre ich an ihrer Stelle, wäre dies mein Plan. Ohne ihren dringenden Lebensmittelbedarf wären wir ihnen bei der Wahl eines Ortes, wo wir gegen sie Aufstellung beziehen können, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.«
»Wir könnten General Reibisch einsetzen«, dachte Richard laut nach. »Vielleicht kann er der Imperialen Ordnung den Weg versperren oder sie wenigstens aufhalten, während wir die Bevölkerung evakuieren und die Lebensmittel abtransportieren, bevor sie Jagang in die Hände fallen.«
»Der Abtransport solcher Nachschubmengen wäre eine gewaltige Aufgabe. Angenommen, Reibisch überrascht Jagangs Truppen«, meinte Kahlan, ebenfalls laut nachdenkend, »und bindet ihn, bis sein Vormarsch zum Erliegen kommt, während wir genügend Truppen von den Flanken heranführen…«
Du Chaillu schüttelte den Kopf. »Nachdem wir von den Verfassern des Gesetzes aus unserer Heimat vertrieben worden waren«, sagte sie, »zwang man uns, in dem Land der Nässe zu leben. Wenn es im Norden viele Tage lang regnete, kamen gewaltige Wassermengen. Der Fluß trat über seine Ufer, breitete sich aus.
In seinem Vorwärtsdrang, aufgewühlt, schlammdurchsetzt, voller großer, entwurzelter Bäume, riß er alles mit. Gegen die Wucht und die Wildheit dieser Wassermassen konnten wir uns nicht behaupten – niemand könnte das. Man glaubt, man könnte es, bis man es kommen sieht. Entweder findet man höher gelegenes Land, oder man stirbt.
Diese Armee ist ganz genauso. Man kann sich nicht vorstellen, wie groß sie ist.«
Als er die Angst in ihren Augen sah und hörte, wie niedergeschlagen ihre Worte klangen, bekam Richard eine Gänsehaut. Sie hatte kein Wort für diese Massen, aber das spielte keine Rolle. Er verstand, was sie ihm sagen wollte, so als leitete sie ihre Bilder und Eindrücke von der Imperialen Ordnung unmittelbar in seinen Verstand.
»Du Chaillu, ich danke dir, daß du uns diese Informationen überbracht hast. Deine Worte haben möglicherweise vielen Menschen das Leben gerettet. Wenigstens wird man uns jetzt nicht mehr überraschen können – was leicht hätte passieren können. Danke.«
»General Reibisch ist bereits auf dem Weg nach Osten, also haben wir wenigstens diesen Vorteil auf unserer Seite«, sagte Kahlan. »Wir müssen ihn umgehend benachrichtigen.«
Richard nickte. »Wir können einen Umweg nach Aydindril machen, damit wir auf ihn stoßen und entscheiden können, was als nächstes zu tun ist. Außerdem können wir uns bei ihm mit Pferden versorgen. Dadurch werden wir letztlich sogar Zeit sparen. Ich wünschte nur, er wäre nicht so weit entfernt. Zeit ist von entscheidender Bedeutung.«
Nach jener Schlacht, in der die d’Haranische Armee Jagangs riesige Eroberungsstreitmacht vernichtend geschlagen hatte, hatte Reibisch seine Armee abschwenken lassen und war in Eilmärschen nach Osten gezogen. Die D’Haraner waren im Begriff, zurückzukehren, um die aus der Alten Welt nach Norden führenden Straßen zu sichern, wo Jagang seine Truppen als Vorbereitung auf einen Einmarsch in die Midlands und möglicherweise nach D’Hara zusammengezogen hatte.
»Angenommen, wir schaffen es, uns bis zu General Reibisch durchzuschlagen und ihn vor dem Anrücken der Armee Jagangs zu warnen«, schlug Cara vor, »dann könnten wir ihn bitten, seine Boten nach D’Hara zu entsenden, um Verstärkung anzufordern.«
»Und unter anderem auch nach Kelton, Jara, Grennidon«, sagte Kahlan. »Bereits jetzt haben wir eine Reihe von Ländern mit stehenden Heeren auf unserer Seite.«
Richard nickte. »Das klingt vernünftig. Wenigstens werden wir wissen, wo sie gebraucht werden. Ich wünschte nur, wir könnten Aydindril schneller erreichen.«
»Macht das jetzt denn wirklich noch einen Unterschied?« fragte Kahlan. »Vergiß nicht, es geht um die Chimären, nicht um den Lauer.«
»Möglicherweise hat es überhaupt keinen Sinn, Zedds Bitte zu erfüllen«, meinte Richard, »andererseits können wir das nicht mit Sicherheit wissen, oder? Vielleicht hat er uns über die Dringlichkeit unseres Auftrags die Wahrheit gesagt, das Ganze aber schlicht hinter dem Namen Lauer anstelle der Chimären verborgen.«
»Wir könnten Jagang unterliegen, noch bevor die Chimären sich unserer bemächtigen können. Tot ist tot.« Kahlan entfuhr ein verzweifelter Seufzer. »Ich weiß nicht, was für ein Spiel Zedd spielt, aber mit der Wahrheit wäre uns besser gedient gewesen.«
»Wir müssen auf jeden Fall nach Aydindril«, stellte Richard entschieden fest. »Darum allein geht es.«
Sein Schwert befand sich in Aydindril.
Ganz ähnlich, wie Cara ihn über die Bande spüren und Du Chaillu seinen Aufenthaltsort wittern konnte, war Richard zum Sucher ernannt worden und mit dem Schwert der Wahrheit verbunden. Er war der Klinge über die Bande verbunden. Ohne sie hatte er das Gefühl, als klaffte in seinem Innern eine Leere.
»Du Chaillu«, fragte Richard, »als diese gewaltige Armee auf ihrem Weg nach Norden an euch vorüberzog…«
»Ich habe nie behauptet, sie seien nach Norden gezogen.«
Richard machte ein verdutztes Gesicht. »Aber … in diese Richtung müssen sie doch marschiert sein. Sie sind auf dem Weg in die Midlands – oder meinetwegen nach D’Hara. In beiden Fällen müßten sie in nördlicher Richtung marschieren.«
Du Chaillu schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, sie ziehen nicht nach Norden. Sie sind südlich unseres Landes vorbeimarschiert, haben sich nahe der Küste gehalten, sind ihrem Verlauf gefolgt und marschieren jetzt in westlicher Richtung.«
Richard starrte sie sprachlos an. »Nach Westen?«
Kahlan ließ sich neben ihm auf die Knie. »Bist du ganz sicher, Du Chaillu?«
»Ja. Wir haben sie beschattet. Wir haben nach allen Himmelsrichtungen Kundschafter ausgesandt, weil meine Visionen mich gewarnt haben, diese Männer seien eine große Gefahr für den Caharin. Einigen Männern von Rang, die wir gefangengenommen haben, war der Name ›Richard Rahl‹ bekannt. Aus diesem Grund mußte ich kommen und dich warnen. Du bist in dieser Armee namentlich bekannt. Du hast ihnen mehrere Schläge versetzt und ihre Pläne durchkreuzt. Sie hegen einen großen Haß gegen dich. Das haben uns ihre eigenen Leute erzählt.«
»Wäre es möglich, daß deine Visionen von mir und den Flammen in Wahrheit die Flammen des Hasses meinen, den diese Menschen für mich empfinden?«
Du Chaillu dachte lange über seine Frage nach. »Du kennst dich mit Visionen aus, mein Gemahl. Es könnte sich tatsächlich so verhalten, wie du sagst. Eine Vision bedeutet nicht immer das, was sie zeigt. Manchmal deutet sie lediglich eine bestimmte Möglichkeit an – eine Gefahr, die man im Auge behalten sollte. Dann wieder verhält es sich so, wie du sagst. Sie ist eine Vision des Eindrucks, den eine Vorstellung hinterlassen hat, und nichts, was tatsächlich geschieht.«
Kahlan packte Du Chaillu am Ärmel. »Aber wohin marschieren sie nun? Irgendwo werden sie nach Norden Richtung Midlands abschwenken. Hast du herausgefunden, wo? Wir müssen unbedingt wissen, wo sie nach Norden schwenken werden.«
»Nein«, erwiderte Du Chaillu, verwirrt von ihrer Überraschtheit. »Sie planen, dem Küstenverlauf des großen Wassers zu folgen.«
»Des Meeres?« fragte Kahlan ungläubig.
»Ja, so nannten sie es. Sie wollen am großen Wasser entlangmarschieren und nach Westen ziehen. Die Männer kannten den Namen ihres Bestimmungsortes nicht, sie wußten nur, daß sie weit nach Westen marschieren würden, in ein Land, das, wie du sagst, über gewaltige Lebensmittelvorräte verfügt.«
Kahlan ließ den Ärmel der Frau los. »Bei den Gütigen Seelen«, meinte sie leise, »jetzt stecken wir in Schwierigkeiten.«
»Das würde ich auch sagen«, meinte Richard und ballte eine Faust. »General Reibisch steht weit östlich von hier und marschiert in die falsche Richtung.«
»Es ist noch schlimmer«, meinte Kahlan, während sie sich nach Südwesten drehte, als könnte sie sehen, wohin die Imperiale Ordnung marschierte.
»Aber ja«, hauchte Richard. »Dort liegt das Land, von dem Zedd sprach, in der Nähe dieses Nareef-Tales, dieses abgeschiedene Land südwestlich von hier, das Unmengen von Getreide produziert. Hab ich recht?«
»Ja«, meinte Kahlan, den Blick unverwandt auf den Horizont gerichtet. »Jagang ist unterwegs in die Kornkammer der Midlands.«
»Nach Toscia«, ergänzte Richard, als ihm wieder einfiel, wie Zedd das Land genannt hatte.
Kahlan wandte sich wieder zu ihm um und nickte verzweifelt, schicksalsergeben.
»Es sieht ganz so aus«, meinte sie. »Ich hätte nie gedacht, daß Jagang einen derartigen Umweg machen würde. Ich hatte angenommen, er würde überfallartig in die Neue Welt einmarschieren, um uns keine Gelegenheit zu geben, unsere Streitkräfte zu sammeln.«
»Das hatte ich auch erwartet, General Reibisch war der gleichen Ansicht. Jetzt eilt er herbei, um einen Paß zu sichern, den Jagang überhaupt nicht benutzen wird.«
Richard tippte mit dem Finger auf sein Knie und überdachte ihre Alternativen. »Zumindest gewinnen wir dadurch vielleicht Zeit – außerdem kennen wir jetzt das Ziel der Imperialen Ordnung: Toscia.«
Kahlan schüttelte den Kopf. Sie schien ebenfalls ihre Möglichkeiten zu überdenken. »Zedd kannte den Ort unter einem alten Namen. Der Name des Landes hat sich im Lauf der Zeit verändert. Es war unter anderem bekannt unter den Namen Vengra, Vendice und Turalan. Toscia wird es schon seit geraumer Zeit nicht mehr genannt.«
»Aha«, machte Richard, der nicht wirklich zuhörte, sondern begann, in Gedanken eine Liste mit Dingen zu erstellen, die es abzuwägen galt. »Und wie heißt es jetzt?«
»Jetzt heißt es Anderith«, sagte sie.
Richard sah auf. Er spürte, wie ein eiskaltes Kribbeln durch seine Schenkel nach oben kroch. »Anderith? Warum das? Wieso wird es Anderith genannt?«
Kahlan runzelte die Stirn, als sie den Ausdruck auf seinem Gesicht bemerkte. »Es wurde nach einem der Gründungsväter so benannt. Sein Name lautete Ander.«
Das Kribbeln schoß durch Richards Arme und Rücken bis ganz nach oben.
»Ander.« Er sah sie verständnislos an. »Joseph Ander?«
»Woher weißt du das?«
»Der Zauberer, der ›Berg‹ genannt wurde? Der, wie Kolo schreibt, ausgesandt wurde, um sich der Chimären anzunehmen?« Kahlan nickte. »Das war sein Beiname – alle nannten ihn so. Doch sein richtiger Name war Joseph Ander.«