30

Den Jägern zuliebe wiederholte Kahlan ihre Erklärung in der Sprache der Schlammenschen. Richard wünschte, sie hätte recht gehabt mit ihrer Vermutung, es sei der Lauer und nicht die Chimären. Für den Lauer hätten sie eine Lösung gewußt.

Verständlicherweise wirkten alle beunruhigt, als sie hörten, wie Kahlan, die anfänglich so standfest darauf beharrt hatte, es sei der Lauer, ihnen jetzt erklärte, sie sehe es jenseits allen Zweifels als gegeben an, daß sie es mit nichts anderem als der überaus gefährlichen Bedrohung durch die Chimären zu tun hätten.

Nachdem sie erklärt hatte, sie sei mit ihm einer Meinung, hatte Richard nicht den Eindruck, als hätte auch nur einer von ihnen noch Zweifel. Kahlans Erklärung schien für jeden die Welt verändert zu haben.

Beklommenes Schweigen senkte sich über die Ebene.

Richard mußte unbedingt überlegen, was als nächstes zu tun war, hatte jedoch nicht die geringste Vorstellung, wo er anfangen sollte. Jetzt wurde ihm klar, was er hätte tun sollen, als sie noch Gelegenheit dazu hatten. Er war so auf die Gefahr fixiert gewesen, daß er alles andere außer acht gelassen hatte.

Er hatte sich weit von den Wäldern entfernt, die er so gut kannte, gerne wäre er wieder dort gewesen. Als Waldführer hatte er wenigstens nie vergessen, auf welchem Pfad er sich befand, und nie jemanden in einen Abgrund geführt.

Er richtete sein Augenmerk auf die dunkelhaarige Seelenfrau der Baka Tau Mana.

»Wieso habt ihr den weiten Weg bis hierher auf euch genommen, Du Chaillu? Was tut ihr hier?«

»Aha«, machte Du Chaillu, während sie ihre Hände betont langsam vor ihrem Körper faltete. »Jetzt wünscht der Caharin also, daß ich spreche?«

Die Frau stand kurz davor zu explodieren. Richard verstand nicht recht wieso, und eigentlich war es ihm auch egal.

»Richtig, wieso seid ihr hergekommen?«

»Wir waren viele Tage unterwegs. Wir haben Mühsal auf uns genommen. Wir mußten einige von denen begraben, die mit uns zusammen aufgebrochen sind. Wir mußten uns durch feindliches Gebiet kämpfen. Wir haben das Blut vieler Menschen vergossen, um zu dir zu gelangen.

Wir haben unsere Familien und Lieben verlassen, um dem Caharin eine Warnung zu überbringen. Wir haben nicht gegessen und nicht geschlafen und auf die Behaglichkeit einer sicheren Unterkunft verzichtet. Nächtelang haben wir geweint, denn wir hatten Angst und waren krank vor Sorge, so weit entfernt von unserer Heimat. Ich bin mit jenem Kind gereist, das der Caharin mich auszutragen bat, während ich zu einer Kräuterfrau gehen wollte, um es loszuwerden – um die fürchterlichen Erinnerungen loszuwerden, die ich mit ihm verbinde. Er dagegen weiß nicht einmal zu würdigen, daß ich beschloß, auf ihn zu hören und die Verantwortung für dieses mir auf gezwungene Kind auf mich zu nehmen.

Der Caharin sieht nicht einmal ein, daß ich durch das Kind, das er mich bat auszutragen, Tag für Tag an die Zeit erinnert werde, die ich in dieser stinkenden Stadt der Majendie nackt an eine Mauer gekettet verbringen mußte. Daran erinnert werde, wo ich mit diesem Kind schwanger wurde. Daran erinnert werde, wie diese Männer mich für ihr Vergnügen mißbrauchten, um mich anschließend auszulachen. An den Ort erinnert werde, wo ich Tag für Tag die Angst ertragen mußte, abgeschlachtet und geopfert zu werden. An den Ort erinnert werde, wo ich mir wegen meiner Kinder die Seele aus dem Leib geweint habe, denen man die Mutter nehmen würde, und geweint habe, weil ich ihre kleinen, lachenden Gesichter nicht mehr wiedersehen und nicht mehr die Freude erleben würde, sie aufwachsen zu sehen.

Ich dagegen habe auf ihn gehört und das Kind von Hunden ausgetragen, denn der Caharin hat mich darum gebeten.

Der Caharin schenkt seinem Volk, das diesen weiten Weg gereist ist, kaum mehr als flüchtige Beachtung, ganz so als wären wir Flöhe, derentwegen er sich kratzen muß. Er fragt nicht, wie es uns in unserer Heimat geht. Er lädt uns nicht ein, uns endlich zu ihm zu setzen, damit wir uns freuen können, wieder vereint zu sein. Er fragt nicht, ob wir im Frieden leben. Er erkundigt sich weder, ob wir zu essen haben, noch, ob wir durstig sind.

Er schreit nur herum und behauptet, wir seien nicht sein Volk, weil er die heiligen Gesetze nicht kennt, nach denen wir zahllose Jahrhunderte gelebt haben, und tut dieselben Gesetze nur deshalb ab, weil ihm ihr Wortlaut nicht geläufig ist, als würde das allein sie unbedeutend machen. Manch einer ist um dieser Gesetze willen gestorben, damit er aus ihnen lernt und weiterleben kann.

Er verschwendet nicht mehr Gedanken an sein Volk als an den Mist unter seinen Stiefeln. Ohne zu überlegen, verbannt er sein rechtmäßig angetrautes Weib aus seinen Gedanken. Er behandelt sein rechtmäßig angetrautes Weib wie einen lästigen Menschen, den man von sich weist, bis man ihn wieder braucht.

In den alten Gesetzen wurde uns ein Caharin versprochen. Ich gebe es zu, uns wurde niemand versprochen, der sein Volk und dessen Sitten und Gesetze achtet, die unseren Zielen verpflichtet sind, ich dachte allerdings, ein jeder würde die Menschen achten, die so viel für ihn gelitten haben.

Ich habe den Tod meiner Ehemänner durch deine Hand erlitten und getrauert, wo du mich nicht sehen konntest, damit du nicht darunter leiden mußtest. Tapfer haben meine Kinder den schmerzhaften Verlust ihrer Väter durch deine Hand hingenommen. Zur Schlafenszeit weinen sie um den Mann, der sie auf die Stirn geküßt und ihnen schöne Träume von der Heimat gewünscht hat. Du dagegen machst dir nicht einmal die Mühe, dich zu erkundigen, wie es mir ohne diese Ehemänner geht, die ich und meine Kinder immer noch von ganzem Herzen lieben, noch fragst du, wie sich meine Kinder in ihrem Kummer fühlen.

Du fragst nicht einmal, wie es mir ohne meinen neuen, kraft unseres Gesetzes angetrauten Gemahl geht, während er unterwegs ist, um neue Frauen zu erwerben. Du hast eine so geringe Meinung von mir, daß du deiner neuen Frau sogar noch meine Existenz verschweigst.«

Du Chaillu reckte empört das Kinn vor.

Sie verschränkte die Arme und kehrte ihm den Rücken zu.

Richard starrte auf ihren Hinterkopf. Die Meister der Klinge blickten in die Ferne, so als wären sie taub und hätten keinen anderen Wunsch, als vielleicht einen Vogel am Himmel zu erspähen.

»Du Chaillu«, erwiderte Richard, selbst ein wenig wütend geworden, »gib mir nicht die Schuld am Tod dieser Menschen. Ich habe nach bestem Wissen alles versucht, um zu verhindern, daß ich mit ihnen kämpfen und sie verletzen muß, das weißt du. Ich bat dich, dem Einhalt zu gebieten. Es stand in deiner Macht, doch wolltest du davon nichts wissen. Ich hatte nicht die geringste Lust, zu tun, was ich getan habe. Du weißt, ich hatte keine Wahl.«

Sie funkelte ihn an. »Du hattest eine Wahl. Du hättest dich statt für das Töten für den Tod entscheiden können. Aus Respekt für das, was du für mich getan hast, als du mich vor dem Menschenopfer der Majendie gerettet hast, versprach ich dir einen schnellen Tod, wenn du dich nicht wehrst. Dann wäre ein Leben statt deren dreißig verloren gewesen. Wärest du also wirklich so großmütig auf den Erhalt von Menschenleben bedacht, hättest du dich dafür entschieden.«

Richard knirschte mit den Zähnen und drohte ihr mit dem Finger. »Du läßt deine Männer mich angreifen und erwartest, daß ich mich einfach ermorden lasse, statt mich zu verteidigen? Nachdem ich dich gerettet hatte? Wäre ich anstelle dieser Männer gestorben, wäre das Morden erst richtig losgegangen! Du weißt, ich habe einen Frieden ausgehandelt, durch den viele Menschenleben gerettet wurden. Und von allem anderen hast du nicht die geringste Ahnung.«

Sie schnaubte beleidigt. »Da täuschst du dich, mein Gemahl.« Sie drehte sich wieder um. »Ich verstehe mehr, als dir lieb sein dürfte.«

Cara verdrehte die Augen. »Ihr müßt wirklich lernen, Eure Ehefrauen mehr zu respektieren, Lord Rahl, sonst werdet Ihr zu Hause nie einen Augenblick der Ruhe finden«, raunte sie ihm zu, als sie an ihm vorbei nach vorne trat. »Erlaubt, daß ich mit ihr spreche – von Frau zu Frau. Mal sehen, ob ich die Wogen für Euch glätten kann.«

Cara hakte eine Hand unter Du Chaillus Arm und führte sie ein Stück fort, um sich unter vier Augen mit ihr zu unterhalten. Sechs Schwerter wurden blank gezogen. Nur einen einzigen Augenblick später sah man Stahl im Morgenlicht wirbeln, als die Meister der Klinge vorrückten, die kreisenden Waffen von einer Hand in die andere wechselnd.

Die Jäger der Schlammenschen traten vor, um ihnen den Weg zu versperren. In der Zeitspanne eines einzigen Herzschlags hatte sich die Ebene verwandelt; eben noch ein Ort angespannter Friedfertigkeit, stand plötzlich der Ausbruch eines blutigen Gemetzels bevor.

Richard riß die Hände in die Höhe. »Aufhören, alle miteinander!«

Er stellte sich vor Cara und Du Chaillu und versperrte so den vorrückenden Männern den Weg.

»Laßt sie los, Cara. Sie ist ihre Seelenfrau, Ihr dürft sie nicht anfassen. Die Baka Ban Mana wurden jahrtausendelang von den Majendie verfolgt und als Opfergaben mißbraucht. Verständlicherweise reagieren sie gereizt, sobald ein Fremder sie berührt.«

Cara ließ Du Chaillus Arm wieder los, doch keine der beiden Gruppen von Kriegern war bereit, als erste klein beizugeben. Die Schlammenschen hatten es plötzlich mit feindlich gesinnten Fremden zu tun, und die Baka Tau Mana waren auf einmal umgeben von Männern, die sie angriffen, weil sie ihre Seelenfrau verteidigen wollten. Angesichts der erhitzten Gemüter war das Risiko groß, daß irgend jemand sich einen Vorteil verschaffen wollte, indem er als erster losschlug und erst hinterher nach der Zahl der Toten fragte.

Richard hob eine Hand. »Hört mir zu! Alle!«

Er zog mit der anderen Hand am Lederriemen um Du Chaillus Hals, in der Hoffnung, dort, verborgen unter dem Ausschnitt ihres Kleides, das zu finden, was er dort vermutete.

Die Jäger bekamen große Augen, als Richard den Riemen hervorholte und sie an dessen Ende die Pfeife des Vogelmannes erblickten.

»Dies ist die Pfeife, die der Vogelmann mir vermacht hat.« Er blickte aus den Augenwinkeln zu Kahlan hinüber und raunte ihr zu, sie solle übersetzen. Während Richard fortfuhr, begann sie in der Sprache der Schlammenschen zu den Jägern zu sprechen.

»Wie ihr wißt, hat mir der Vogelmann diese Pfeife als Geste des Friedens geschenkt. Diese Frau, Du Chaillu, ist eine Beschützerin ihres Volkes. Zu Ehren des Vogelmannes und um seine Hoffnung auf Frieden zu bekräftigen, schenkte ich ihr die Pfeife, damit sie die Vögel herbeirufen konnte, die das von ihren Feinden ausgesäte Saatgut fressen sollten. Aus Angst, die Ernte könnte ihnen verlorengehen und sie müßten verhungern, willigten ihre Feinde schließlich in einen Frieden ein. Zum ersten Mal schlossen diese beiden Völker Frieden miteinander, und diesen Frieden verdanken sie dem großzügigen Geschenk des Vogelmannes, seiner Pfeife.

Die Baka Tau Mana stehen tief in der Schuld der Schlammenschen, aber auch die Schlammenschen stehen in der Schuld der Baka Tau Mana, denn diese haben das Geschenk so angenommen, wie es gedacht war, nämlich als Friedens- und nicht als Unheilstifter. Die Schlammenschen sollten stolz sein, daß die Baka Tau Mana darauf vertraut haben, das Geschenk der Schlammenschen werde ihren Familien Sicherheit schenken.

Eure beiden Völker sind in Freundschaft miteinander verbunden.«

Niemand rührte sich, während alle über Richards kleine Ansprache nachdachten. Schließlich legte Jiaan sein Schwert über die Schulter und hängte es, gehalten vom Band an seinem Hals, hinter seinen Rücken. Er riß seine Kleider auf und entblößte seine Brust vor Chandalen.

»Wir danken dir und deinem Volk für die Sicherheit und den Frieden, die uns dein Geschenk von mächtiger Magie gebracht hat. Wir werden nicht gegen euch kämpfen. Solltet ihr den Wunsch haben, den Frieden zurückzunehmen, den ihr uns geschenkt habt, so mögt ihr versuchen, unsere Herzen zu durchbohren. Gegen so mächtige Friedensstifter wie das Volk der Schlammenschen werden wir uns nicht zur Wehr setzen.«

Chandalen zog seinen Speer zurück und bohrte ihn mit dem unteren Ende in die Erde seiner Heimat. »Richard mit dem Zorn spricht die Wahrheit. Es freut uns, daß euer Volk das Geschenk so verwendet hat, wie es gedacht war – als Friedensstifter. Ihr seid in unserer Heimat willkommen und in Sicherheit.«

Chandalen erteilte unter heftigem Armrudern seinen Jägern einige Befehle. Als die Männer sich daraufhin zurückzuziehen begannen, atmete Richard erleichtert auf und bedankte sich bei den Gütigen Seelen für ihren Beistand.

Kahlan faßte Du Chaillu am Arm und meinte entschieden: »Ich habe ein Wörtchen mit Du Chaillu zu reden.«

Den Baka Tau Mana behagte das ganz offenkundig nicht, mittlerweile waren sie jedoch unsicher, wie sie sich verhalten sollten. Auch Richard wußte nicht recht, ob ihm die Idee gefiel. Womöglich hatte sie den Ausbruch neuer Feindseligkeiten zur Folge.

Er beschloß jedoch widerstrebend, Kahlan ihren Willen zu lassen und ihr zu erlauben, mit Du Chaillu zu sprechen. Kahlans Gesichtsausdruck verriet ihm, daß die Entscheidung ohnehin nicht bei ihm lag. Er wandte sich zu den Meistern der Klinge.

»Kahlan, meine Gemahlin, ist die Mutter Konfessor und die Führerin aller Völker der Neuen Welt. Sie verdient den gleichen Respekt wie eure Seelenfrau, Du Chaillu. Ihr habt mein Wort als Caharin, daß die Mutter Konfessor Du Chaillu kein Leid zufügen wird. Lüge ich euch an, mögt ihr mein Leben als verwirkt betrachten.«

Die Männer bekundeten ihr Einverständnis mit einem Nicken. Richard vermochte nicht zu sagen, ob in ihren Augen er oder Du Chaillu ranghöher war, aber wenn schon sonst nichts, so half doch sein ruhiger und beschwichtigender Ton, ihre Einwände zu entkräften. Zudem wußte er, daß diese Männer ihn zumindest respektierten, und das nicht nur, weil er dreißig von ihnen getötet, sondern weil er etwas weitaus Schwierigeres vollbracht hatte: Er hatte ihnen ihre angestammte Heimat wiedergegeben.

Schulter an Schulter mit Cara verfolgte Richard, wie Kahlan Du Chaillu in das hohe Gras hinausführte. Noch immer glitzerten Tropfen nächtlichen Regens darauf, der hier und dort eine Pfütze hinterlassen hatte.

»Lord Rahl«, fragte Cara im Flüsterton, »haltet Ihr das für klug?«

»Ich vertraue auf Kahlans Urteil. Wir haben jede Menge Schwierigkeiten am Hals, wir dürfen keine Zeit verlieren.«

Cara rollte den Strafer zwischen ihren Fingern und dachte eine Weile schweigend darüber nach. »Angenommen, die Magie schwindet tatsächlich, Lord Rahl, hat Eure dann bereits nachgelassen?«

»Das wollen wir nicht hoffen.«

Cara wich nicht von seiner Seite, als er sich den Meistern der Klinge näherte. Zwar erkannte er mehrere wieder, mit Namen kannte er jedoch nur einen.

»Jiaan, Du Chaillu sagte, einige aus eurem Volk seien auf dem Weg hierher ums Leben gekommen.«

Jiaan schob sein Schwert in die Scheide. »Drei.«

»Im Kampf?«

Der Mann wirkte verlegen, als er sich das schwarze Haar aus der Stirn strich. »Einer von ihnen. Die anderen beiden … kamen durch Unfälle ums Leben.«

»War an diesen Unfällen Feuer oder Wasser beteiligt?«

Jiaan seufzte niedergeschlagen. »Wasser nicht, einer jedoch fiel ins Feuer, als er Wache stand. Damals dachten wir, er müsse gestürzt sein und sich den Kopf gestoßen haben. Nach dem, was du sagst, stimmt das aber vielleicht nicht. Vielleicht haben die Chimären ihn getötet?«

Richard nickte. Niedergeschlagen sprach er leise den Namen einer der Grußformeln des Todes – Sentrosi, der Chimäre des Feuers. »Und der dritte?«

Jiaan verlagerte sein Gewicht auf den anderen Fuß. »Als er zufällig auf einen Bergpfad stieß, glaubte er plötzlich, er könne fliegen.«

»Fliegen?«

Jiaan nickte. »Dabei konnte er nicht besser fliegen als ein Stein.«

»Vielleicht hat er den Halt verloren und ist abgestürzt?«

»Ich sah sein Gesicht, unmittelbar bevor er zu fliegen versuchte. Er lächelte wie damals, als sein Blick zum erstenmal auf unsere Heimat fiel.«

Wiederum sagte Richard leise den Namen einer Chimäre auf, der dritten. Die drei Chimären, Reechani, Sentrosi und Vasi – Wasser, Feuer und Luft – hatten weitere Menschenleben gefordert.

»Die Chimären haben auch Schlammenschen getötet. Ich hatte gehofft, sie befänden sich nur hier, bei Kahlan und mir, aber offenbar gibt es diese Chimären auch andernorts.«

Hinter den Schultern der sechs Meister der Klinge sah Richard, daß die Schlammenschen eine Grasfläche niedergetreten hatten und damit beschäftigt waren, ein Feuer anzuzünden, um mit ihren neugewonnenen Freunden ein Mahl zu teilen.

»Chandalen!« Der Mann sah auf. »Macht kein Feuer.«

Richard lief zu der Stelle, wo Chandalen und seine Jäger warteten.

»Warum willst du, daß wir kein Feuer machen?« wollte Chandalen wissen. »Wenn wir hier eine Weile Rast machen sollen, dann möchten wir auch Fleisch braten und unser Essen teilen.«

Richard kratzte sich an der Stirn. »Die böse Seele, die Juni getötet hat, kann mit Hilfe von Wasser und Feuer Menschen aufspüren. Tut mir leid, aber du mußt fürs erste verhindern, daß deine Leute Feuer benutzen. Wenn ihr Feuer benutzt, könnte es geschehen, daß weitere böse Seelen eure Leute töten.«

»Weißt du das genau?«

Richard legte Jiaan eine Hand auf die Schulter. »Diese Männer sind ebenso stark wie die Schlammenschen. Einer von ihnen wurde auf dem Weg hierher von einer aus einem Feuer stammenden bösen Seele getötet.«

Chandalen nahm Jiaans bestätigendes Kopfnicken zur Kenntnis.

»Wir wußten noch gar nicht, was geschah, als er bereits bei lebendigem Leib in dem Feuer verbrannte«, meinte Jiaan. »Er war ein kräftiger und tapferer Mann. Er gehörte nicht zu denen, die sich leichtfertig von einem Feind überwältigen lassen, trotzdem hörten wir vor seinem Tod kein Wort von ihm.«

Chandalen blickte mit vor Enttäuschung angespannten Kiefermuskeln hinaus auf die Ebene, bevor er sein Augenmerk wieder Richard zuwandte. »Aber wie sollen wir essen, wenn wir kein Feuer machen dürfen? Wir müssen Tavabrot backen und unser Essen kochen. Wir können doch nicht rohen Teig und rohes Fleisch essen. Die Frauen brauchen Feuer, um Tongefäße herzustellen. Die Männer, um Waffen zu machen. Wie sollen wir leben?«

Richard entfuhr ein verzweifelter Seufzer. »Das weiß ich auch nicht, Chandalen. Ich weiß nur, daß das Feuer die bösen Seelen – die Chimären – anlocken könnte. Ich nenne dir nur die einzige mir bekannte Möglichkeit, die Sicherheit unseres Volkes zu gewährleisten.

Vermutlich werdet ihr auf Feuer nicht ganz verzichten können, bedenkt aber bitte die Gefahren, die ihr damit heraufbeschwören könntet. Wenn jeder sich der Gefahren bewußt ist, vielleicht können wir dann das Feuer gefahrlos benutzen, falls es nicht anders geht.«

»Dürfen wir denn auch nicht trinken, weil es gefährlich sein könnte, ans Wasser zu gehen?«

»Ich wünschte, ich wüßte eine Antwort darauf, Chandalen.« Richard wischte sich erschöpft mit der Hand durchs Gesicht. »Ich weiß nur, daß Feuer, Wasser und hochgelegene Orte gefährlich sind.

Die Chimären können sich dieser Dinge bedienen, um Menschen Schaden zuzufügen. Je entschiedener wir uns von ihnen fernhalten, desto sicherer werden wir sein.«

»Aber selbst wenn wir das tun, werden die Chimären deinen Worten zufolge trotzdem töten.«

»Ich weiß nicht annähernd genug Antworten, Chandalen. Ich versuche dir alles zu erklären, was mir einfällt, damit du für die Sicherheit unseres Volkes sorgen kannst. Gut möglich, daß es noch weitere Gefahren gibt, von denen ich überhaupt nichts weiß.«

Chandalen stemmte die Hände in die Hüften und ließ den Blick über das Grasland seines Volkes schweifen. Seine Kiefermuskeln arbeiteten, während er über Dinge nachdachte, die Richard bestenfalls erraten konnte. Richard wartete schweigend ab, bis Chandalen sprach.

»Stimmt es, wie du sagst, daß in unserem Dorf ein noch ungeborenes Kind wegen dieser Chimären des Todes, die auf die Welt losgelassen wurden, gestorben ist?«

»Tut mir leid, Chandalen, ich fürchte, ja.«

Seine wachen, dunklen Augen kreuzten Richards Blick. »Wie konnten diese bösen Seelen in diese Welt gelangen?«

Richard fuhr sich mit der Zunge in die Mundwinkel. »Ich glaube, Kahlan könnte sie, ohne es zu merken oder zu wollen, mit Magie herbeigerufen haben, als sie mir das Leben retten wollte. Da sie gerufen wurden, um mir das Leben zu retten, ist es meine Schuld, daß sie hier sind.«

Chandalen ließ sich Richards Eingeständnis durch den Kopf gehen. »Die Mutter Konfessor hatte bestimmt nichts Böses im Sinn. Du hattest bestimmt nichts Böses im Sinn. Und doch sind die Chimären des Todes deinetwegen hier?«

Chandalens anfängliche Verwirrung und Bestürztheit war einem herrischen Tonfall gewichen. Schließlich war er jetzt ein Stammesältester. Seine Verantwortung für die Sicherheit seines Volkes ging über die eines Jägers hinaus.

So wie die Schlammenschen und die Baka Tau Mana viele Werte teilten und dennoch übereinander hergefallen waren, hatten auch Chandalen und Richard früher miteinander auf Kriegsfuß gestanden. Glücklicherweise hatten beide inzwischen erkannt, daß sie erheblich mehr gemeinsam hatten, als zwischen ihnen strittig war.

Richard blickte zu den fernen Wolken und den Regengüssen hinüber, die über dem düsteren und weit entfernten Horizont niedergingen. »Ich fürchte, genauso ist es. Außerdem habe ich es versäumt, wertvolle Informationen an Zedd weiterzugeben, als ich noch Gelegenheit dazu hatte. Er dürfte jetzt bereits auf der Suche nach den Chimären sein.«

Wieder dachte Chandalen ausgiebig über Richards Worte nach, bevor er antwortete.

»Ihr seid beide Schlammenschen und wart bemüht, uns zu beschützen. Wir wissen, es war nicht eure Absicht, die Chimären herzulocken und uns damit zu schaden.«

Chandalen richtete sich zu voller Größe auf – er reichte Richard nicht mal bis an die Schulter – und verkündete seine Entscheidung.

»Wir wissen, du und die Mutter Konfessor werdet tun, was ihr tun müßt, um diese Angelegenheit in Ordnung zu bringen.«

Richard kannte den Kodex aus Verantwortung, Zwängen und Pflichten nur zu gut, nach dem dieser Mann lebte. Er und Chandalen stammten zwar aus völlig unterschiedlichen Völkern, trotzdem war Richard weitgehend nach den gleichen Maßstäben aufgewachsen. Vielleicht, so überlegte er, unterschieden sie sich in Wirklichkeit gar nicht so sehr. Sie trugen vielleicht andere Kleider, aber sie empfanden durchaus ähnlich, hegten dieselben Sehnsüchte und dieselben Wünsche. Und sie teilten viele derselben Ängste.

Nicht nur sein Stiefvater, auch Zedd hatte Richard eine Menge eben jener Dinge beigebracht, die er von Chandalens Volk gelernt hatte. Fügte man jemandem Leid zu, aus welchem Grund auch immer, mußte man dies nach bestem Vermögen wiedergutmachen.

Während es verständlich war, Angst zu haben, und auch niemand etwas anderes von einem erwartete, galt es als das schlimmste Vergehen, vor selbst verursachten Scherereien davonzulaufen. Auch wenn der Zufall seine Hand im Spiel gehabt hatte, man versuchte gar nicht erst, dergleichen abzustreiten. Man lief einfach nicht davon. Man tat, was man tun mußte, um alles wieder in Ordnung zu bringen.

Wäre Richard nicht gewesen, wären die Chimären nicht befreit worden. Kahlans Bestrebungen, ihm das Leben zu retten, hatten andere bereits das ihre gekostet. Auch sie würde keinen Augenblick zögern, sich ihrer Pflicht zu stellen und alles in ihrer Macht Stehende tun, um den Chimären Einhalt zu gebieten. Das stand völlig außer Frage.

»Du hast mein feierliches Versprechen, Ältester Chandalen. Ich werde nicht eher ruhen, bis die Schlammenschen und alle anderen vor den Chimären sicher sind. Ich werde nicht eher ruhen, bis die Chimären wieder dorthin zurückgekehrt sind, wo sie hingehören, in die Unterwelt. Oder ich werde bei dem Versuch sterben.«

Ein dünnes, herzliches, stolzerfülltes Lächeln huschte über Chandalens Gesicht.

»Ich wußte, daß ich dich nicht an dein Versprechen zu erinnern brauchte, unser Volk zu beschützen, trotzdem tut es gut, aus deinem Munde zu hören, daß du dein Gelübde nicht vergessen hast.«

Chandalen überraschte Richard mit einem deftigen Schlag ins Gesicht.

»Kraft dem Richard mit dem Zorn. Möge seine Wut unsere Feinde heiß und schnell wie ein Lauffeuer verbrennen.«

Richard rieb sich das schmerzende Kinn und hatte Chandalen bereits den Rücken zugewandt, als er Kahlan mit Du Chaillu zurückkommen sah.

»Für einen Waldführer«, meinte Cara, »bringt Ihr Euch in eine Menge Schwierigkeiten. Was meint Ihr, werdet Ihr noch eine Ehefrau übrig haben, jetzt, nachdem die beiden miteinander fertig sind?«

Er wußte, Cara wollte ihn bloß auf ihre etwas seltsame Art aufziehen, um ihn ein wenig aufzumuntern. »Eine, hoffentlich.«

»Nun, wenn nicht«, setzte Cara feixend hinzu, »haben wir noch immer uns.«

Richard ging den beiden Frauen entgegen. »Die Stellung der Ehefrau ist vergeben, vielen Dank.«

Kahlan und Du Chaillu stapften Seite an Seite durchs Gras. Ihre Gesichter verrieten keinerlei Regung. Wenigstens konnte er kein Blut erkennen.

»Deine andere Gemahlin hat mich überredet, mit dir zu sprechen«, sagte Du Chaillu, als Richard bei den beiden angelangt war.

»Du kannst von Glück reden, daß du uns beide hast«, setzte sie hinzu.

Richard war klug genug, den Mund zu halten und sich seine flapsige Bemerkung zu verkneifen, die ihm bereits auf der Zunge lag.

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