54

»Was sollen wir tun?«, flüsterte Morley.

Snip kratzte sich am Ohr. »Still. Darüber denke ich gerade nach.« Snip hatte keine Ahnung, was sie tun sollten, aber das durfte Morley nicht wissen. Morley war beeindruckt, dass Snip den Ort überhaupt gefunden hatte. Mittlerweile verließ Morley sich darauf, dass Snip wusste, was zu tun war.

Nicht, dass es da sonderlich viel zu wissen gab. Meist ritten sie scharf. Sie hatten das viele Geld, das Campbell ihnen gegeben hatte, also waren keine großen Kenntnisse erforderlich. Essen konnten sie sich kaufen, sie brauchten es weder zu jagen noch zu sammeln. Sie konnten sich alles kaufen, was sie benötigten; nichts mussten sie selber machen.

Snip hatte gelernt, dass Geld sehr weit reichte, wenn es darum ging, Unwissenheit wettzumachen. Da er in den Straßen Fairfields aufgewachsen war, wusste er, wie man auf sein Geld aufpasste und verhinderte, dass es einem durch Betrug oder Diebstahl abgeluchst wurde. Er ging mit dem Geld vorsichtig um, benutzte es niemals, um sich auffällige Kleidungsstücke oder andere Dinge zu kaufen, die den Eindruck erwecken könnten, es lohne sich, ihnen eins über den Schädel oder Schlimmeres zu verpassen.

Zu ihrer großen Überraschung scherte sich niemand sonderlich darum, dass sie Hakenier waren, es schien überhaupt niemandem aufzufallen. Die meisten Leute hielten sie für höfliche junge Männer und behandelten sie anständig.

Snip ließ sich von Morley nicht dazu breitschlagen, ihr Geld in Gasthäusern für Getränke auszugeben; er wusste, das war eine sichere Methode, unangenehmem Gesindel zu zeigen, dass sie Geld besaßen, außerdem war es in betrunkenem Zustand leichter, alle Vorsicht zu vergessen. Stattdessen kauften sie sich eine Flasche, und erst wenn sie ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten, an einem Ort, wo wahrscheinlich niemand zufällig auf sie stoßen würde, ließen er und Morley sich voll laufen. Anfangs taten sie das oft. Es half Snip zu vergessen, dass die Leute dachten, er habe Beata vergewaltigt.

In einer Stadt, durch die sie kamen, hatte Morley einen kleinen Betrag für Huren auf den Kopf hauen wollen, doch Snip war dagegen gewesen. Schließlich hatte er nachgegeben und Morley seinen Willen gelassen, schließlich war es auch sein Geld. Snip hatte bei ihren Pferden und den anderen Sachen draußen vor der Ortschaft gewartet, denn ihm war zu Ohren gekommen, was Reisenden gelegentlich widerfuhr, die nach Fairfield kamen, um Prostituierte aufzusuchen.

Anschließend hatte ein feixender Morley angeboten, auf ihre Sachen aufzupassen, während Snip zurückgehen sollte, um seinerseits eine dieser Frauen aufzusuchen. Snip war versucht gewesen, andererseits jagte ihm die Vorstellung eine Heidenangst ein. Als er schon dachte, er hätte den Mut dafür zusammen, stellte er sich vor, wie die Frau ihn auslachte, woraufhin seine Knie zu zittern und seine Hände heftig zu schwitzen begannen. Er wusste einfach, dass sie ihn auslachen würde.

Morley war groß und kräftig, männlich, Morley würden die Frauen nicht auslachen; Beata hatte Snip immerzu ausgelacht. Er wollte nicht, dass irgendeine Frau, die er nicht mal kannte, anfing, über seinen hageren Körper zu lachen, sobald er seine Kleider auszog.

Schließlich entschied er, dass er weder sein Vorhaben gefährden noch Geld dafür verschwenden wollte. Er hatte keine Vorstellung, wie viel es kosten würde, an ihr Ziel zu gelangen, und befürchtete, ihnen könnte allzu bald das Geld ausgehen. Morley schimpfte ihn einen Narren und behauptete, die Sache sei ihr Geld mehr als wert; in der darauf folgenden Woche redete er über nichts anderes. Mittlerweile war Snip so weit, dass er sich wünschte, er hätte es einfach getan, nur um Morley das Maul zu stopfen.

Wie sich herausstellte, hätte er sich wegen des Geldes keine Sorgen zu machen brauchen. Sie hatten alles andere als viel ausgegeben – verglichen mit der Summe, die sie bei sich trugen. Dank des Geldes waren sie gut vorangekommen. Mit Geld konnten sie frische Pferde eintauschen und weiterreiten, ohne die Pferde durch eine langsamere Gangart schonen zu müssen.

Morley schüttelte den Kopf. »Der ganze lange Weg, und jetzt sitzen wir hier fest, kurz vor dem Ziel.«

»Still, hab ich gesagt. Willst du, dass man uns schnappt?«

Morley verstummte bis auf das Gekratze an seinem Stoppelbart. Snip hätte gern mehr als nur ein paar Haare am Kinn gehabt; Morley bekam bereits einen Bart. Neben Morley mit seinen breiten Schultern und den Stoppeln überall im Gesicht kam sich Snip manchmal vor wie ein kleiner Junge.

Snip beobachtete, wie die Wachen in der Ferne auf und ab patrouillierten. Es gab keinen anderen Weg hinein, außer über diese Brücke. Genau das hatte Franca ihm erzählt, und jetzt war er hier und sah es deutlich mit seinen eigenen Augen. Sie mussten diese Brücke überqueren – oder alles war vorbei.

Snip spürte einen seltsam wispernden Wind, der ihm durch den Nacken strich; ihn schauderte.

»Was glaubst du, was er dort macht?« erkundigte sich Morley leise.

Snip kniff die Augen zusammen, um auf die Entfernung besser sehen zu können. Einer der Posten schien auf die steinerne Seitenmauer der Brücke zu klettern.

Snip fiel der Unterkiefer herunter. »Bei den Gütigen Seelen! Hast du das gesehen?«

Morley stockte der Atem. »Warum hat er das bloß getan?«

Selbst aus dieser Entfernung konnte Snip das Geschrei der Soldaten hören, die zum Brückenrand liefen, um hinunterzusehen.

»Das glaube ich einfach nicht!«, entfuhr es Morley. »Warum sollte er hinunterspringen?«

Snip schüttelte den Kopf. Er wollte gerade ansetzen und etwas sagen, als er einen Mann auf der anderen Brückenseite die steinerne Brüstung hinaufklettern sah.

Snip streckte seinen Arm aus. »Sieh doch! Dort springt wieder einer!«

Der Mann breitete die Arme aus, als wollte er die Luft umarmen, als er von der Brücke hinunter in den Abgrund sprang.

Als daraufhin die Soldaten zu dieser Brückenseite hinüberrannten, sprang ein dritter in den Tod. Verrückt! Snip lag auf dem Bauch und war sprachlos.

Aus der Ferne erinnerte das Geräusch der schreienden Soldaten, die sich in immer größerer Zahl von der Brücke stürzten, an das chimärenhafte Geläut von Glocken. Sie zogen ihre Waffen, nur um sie gleich darauf fallen zu lassen und selber auf die Steinbrüstung zu klettern.

Irgendetwas schien Snip einen leichten Stoß in den Rücken zu versetzen, als dränge ihn seine eigene Phantasie, die Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen. Das Gefühl kribbelte im Nacken; mühsam rappelte er sich auf.

»Komm schon, Morley. Gehen wir.«

Morley folgte, als Snip zu den zwischen den Bäumen versteckten Pferden hinunterlief. Snip steckte seinen Fuß in den Steigbügel und sprang in den Sattel. Morley war unmittelbar hinter ihm, als Snip sein Pferd antrieb und es im Galopp die Straße hinaufjagte.

Es ging steil aufwärts, die Serpentinen hoch. Durch die Bäume konnte er nicht erkennen, ob die Soldaten im Begriff waren, wieder zur Vernunft zu kommen, oder ob nach wie vor Schock und Verwirrung herrschten, sodass sie beide passieren konnten. Snip sah keine andere Möglichkeit. Er hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging, allerdings war es unwahrscheinlich, dass sich jeden Tag Wachen von der Brücke stürzten. Es galt – jetzt oder nie.

Als sie um die letzte Kurve bogen, flogen sie dahin wie der Wind. Snip ging davon aus, dass er und Morley in dem Durcheinander an den letzten noch verbliebenen Wachen vorüberstürmen und die Brücke überqueren konnten.

Die Brücke war menschenleer, nirgendwo waren Soldaten zu sehen. Snip ließ die Pferde im Schritt weitergehen. Beim Gedanken an all die Soldaten, die er noch Augenblicke zuvor gesehen hatte, liefen ihm eiskalte Schauer über den Rücken. Jetzt bewachte allein der Wind die Brücke.

»Willst du wirklich da oben rauf, Snip?«

In der Stimme seines Freundes schwang ein furchtsames Beben mit. Dann folgte Snip Morleys Blick und sah sie ebenfalls: Sie ragte aus dem Fels des Berges heraus, als sei sie aus dem Berg geschlagen, als sei sie Teil des Berges. Sie war dunkel und hatte etwas Bösartiges an sich. Es war so ziemlich der garstigste Ort, den er je zu Gesicht bekommen hatte oder sich vorstellen konnte. Festungswälle, Türme und Mauern ragten jenseits der gewaltigen, mit Zinnen versehenen Außenmauern in die Höhe.

Er war froh, im Sattel zu sitzen, denn er war sich keineswegs sicher, ob seine Beine ihn beim Anblick dieses Ortes getragen hätten. Noch nie hatte er etwas so Gewaltiges oder Unheilvolles gesehen wie die Burg der Zauberer.

»Komm weiter«, meinte Snip. »Bevor sie herausgefunden haben, was passiert ist, und womöglich noch mehr Wachen schicken.«

Morley sah sich nach der menschenleeren Brücke um. »Und was ist passiert?«

»Dies ist ein Ort der Magie. Hier kann alles Mögliche passiert sein.«

Snip schob sein Hinterteil im Sattel nach vorn und drängte sein Pferd voran. Dem Pferd war auf der Brücke unbehaglich zumute; es war nur zu gern bereit, loszugaloppieren. Sie galoppierten sogar dann noch, als sie durch die Öffnung in der äußeren Ummauerung flogen, unter dem mit Eisenspitzen versehenen Fallgatter hindurch.

Drinnen gab es eine umzäunte Koppel für die Pferde. Bevor sie die Tiere laufen ließen, trug Snip Morley auf, sie gesattelt zu lassen, damit sie rasch wieder aufbrechen konnten. Morley war ebenso wenig daran interessiert hier zu verweilen wie Snip. Gemeinsam rannten sie das Dutzend weißer, zweifelsohne über die Jahrhunderte von den Füßen zahlloser Zauberer abgenutzter und ausgetretener Granitstufen hinauf.

Im Innern sah es genau so aus, wie Franca ihm erzählt hatte, nur wurde ihre Schilderung der Größe und dem tatsächlichen Anblick auch nicht annähernd gerecht: Einhundert Fuß weit oben ließ ein glasgedecktes Dach das Sonnenlicht herein; in der Mitte des gefliesten Fußbodens stand ein kleeblattförmiger Brunnen; über der obersten Schale schoss das Wasser fünfzehn Fuß hoch in die Luft, woraufhin es über die zunehmend größer werdenden Schalen darunter strömte, bis es sich schließlich in einem von einem weißen, möglicherweise als Bank dienenden Mäuerchen umgebenen Becken sammelte.

Die roten Marmorsäulen waren genauso hoch, wie Franca sie geschildert hatte. Sie stützten Bögen unterhalb eines Balkons, der um den gesamten ovalen Saal herumlief. Morley stieß ein Pfeifen aus; das Echo hallte von weit her zurück.

»Komm weiter«, sagte Snip, der sich mit einem Schütteln aus seiner ehrfürchtigen Scheu befreite.

Sie liefen durch die Hallen, von denen Franca ihm erzählt hatte, und platzten am oberen Ende mehrerer Treppenläufe durch eine Tür. Anschließend folgten sie einem um mehrere fensterlose, rechteckige Gebäude herumführenden Weg, stiegen dann halb um einen Turm herumführende Stufen hinauf bis zu einem durch einen Tunnel unter einer Straße führenden Gang, bevor sie eine Steinbrücke über einem kleinen, begrünten Innenhof tief unten überquerten.

Schließlich gelangten sie auf eine massive, straßenbreite Umwallung. Snip blickte über die rechte Seite nach unten, durch die Lücken zwischen den Zinnen hindurch, die groß genug waren, dass ein Mann sich hineinstellen konnte. Unten sah er ausgebreitet die Stadt Aydindril liegen. Für einen im flachen Anderith aufgewachsenen Jungen war der Anblick schwindelerregend. Vieles hatte Snip unterwegs beeindruckt, aber nichts davon reichte nur annähernd an diesen Anblick heran.

Am anderen Ende der Umwallung stützte ein Dutzend mächtiger Säulen aus buntscheckigem, rötlichem Gestein ein Hauptgesims aus dunklem Fels. Sechs dieser Säulen befanden sich zu beiden Seiten einer mit Gold plattierten Tür. Darüber befanden sich mehrere Lagen prunkvoller Steinmetzarbeiten, einige von ihnen mit Messingschmuckplatten und runden Metallscheiben verziert, die sämtlich mit eigenartigen Symbolen bedeckt waren.

Beim Überqueren der langen Umwallung erkannte Snip, dass die Tür mindestens zehn bis zwölf Fuß hoch und gute vier Fuß breit sein musste. Die goldplattierte Tür war mit einigen derselben Symbole gekennzeichnet, wie man sie auf den Zierplatten und Scheiben fand.

Als Snip gegen die Tür drückte, schwang sie lautlos nach innen.

»Hier hinein«, meinte Snip leise. Er wusste nicht, wieso er flüsterte, vielleicht deswegen, weil er Angst hatte, die Seelen der Zauberer zu wecken, die an diesem Ort herumspukten.

Er wollte nicht, dass diese Seelen ihn zwangen, sich von der Umwallung zu stürzen – wie zuvor die Soldaten von der Brücke; so wie es aussah, ging es von dem Berg jenseits der Kante über Tausende von Fuß jäh in die Tiefe.

»Bist du sicher?«, fragte Morley.

»Ich gehe jedenfalls rein. Du kannst hier warten oder mitkommen. Liegt ganz bei dir.«

Morleys Augen sahen sich nach allen Seiten um, offenbar außerstande zu entscheiden, wo sie sich niederlassen wollten. »Schätze, ich werde dich begleiten.«

Drinnen ruhten zu beiden Seiten ungefähr kopfgroße Glaskugeln auf grünen Marmorpostamenten, armlosen Statuen gleich, die darauf zu warten schienen, die Besucher dieses riesigen Raumes voller kunstvoll verzierter Steinmetzarbeiten zu begrüßen. In der Mitte bildeten vier Säulen aus poliertem schwarzem Marmor mit einem Umfang von mindestens einer Pferdelänge ein Quadrat, das die Bögen am äußeren Rand einer zentralen Kuppel stützte.

Überall im gesamten Raum gab es schmiedeeiserne, mit Kerzen bestückte Wandleuchter, oben in der Kuppel jedoch ließ ein Ring aus Fenstern das Licht herein, sodass sie die Kerzen nicht anzuzünden brauchten. Snip kam sich vor wie an einem Ort, an dem der Schöpfer persönlich wohnen mochte. Ihm war, als müsste er auf die Knie fallen und beten.

Ein roter Teppich führte den Flügel entlang, in dem sie sich befanden. Zu beiden Seiten des Teppichs standen aufgereiht sechs Fuß hohe Postamente aus weißem Marmor, jedes einzelne zweifelsohne umfangreicher als Meister Drummonds Bauch. Auf jedem der Postamente standen verschiedenartige Gegenstände: Man sah hübsche Schalen, kunstvoll gearbeitete Goldketten, ein tintenschwarzes Fläschchen sowie andere, aus Wurzelholz geschnitzte Gegenstände. Aus einigen der Gegenstände wurde Snip nicht klug.

Den Gegenständen auf den Postamenten schenkte er keine große Beachtung, stattdessen schaute er quer durch den riesigen Raum zur anderen Seite der zentralen Kuppel hinüber. Dort erblickte er einen mit allen möglichen Dingen überhäuften Tisch, und dort schien – an den Tisch gelehnt – auch jener Gegenstand zu stehen, dessentwegen er hergekommen war.

Zwischen jedem golden überkrönten schwarzen Säulenpaar führte ein Seitenflügel aus dem riesigen zentralen Saal hinaus. Nach links blickte man in eine unaufgeräumte Bibliothek mit über den gesamten Fußboden verteilten Stößen übereinander gestapelter Bücher, der Flügel rechts lag im Dunkeln.

Snip schritt über den roten Teppich. An dessen Ende führte nahezu ein Dutzend breiter Stufen hinunter auf den abgesenkten Fußboden aus cremefarbenem Marmor im Zentrum der Enklave des Obersten Zauberers, unterhalb der Kuppel. Auf der anderen Seite sprang er, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf zu dem unmittelbar vor einem hohen Bogenfenster stehenden Tisch.

Der gesamte Tisch war mit einem Wirrwarr von Dingen überhäuft: Schalen, Kerzen, Schriftrollen, Bücher, Krüge, Kugeln, Quadrate und Dreiecke aus Metall – sogar ein Schädel war darunter. Andere, größere Gegenstände standen über den Fußboden verteilt herum.

Morley wollte nach dem Schädel greifen, doch Snip schlug seine Hand weg.

»Fass bloß nichts an.« Snip deutete auf den Schädel, der ihnen entgegenstarrte. »Das könnte der Schädel eines Zauberers sein, und wenn du ihn anfasst, erwacht er womöglich wieder zum Leben. Zauberer können das, musst du wissen.«

Morley zog seine Hand zurück.

Mit zitternden Fingern langte Snip schließlich nach unten und nahm jenen Gegenstand in die Hand, von dem er bislang stets nur hatte träumen können. Es sah genauso aus, wie er es sich vorgestellt hatte. Die Gold- und Silberarbeiten waren die prächtigsten, die Snip je zu Gesicht bekommen hatte, und auf dem Anwesen des Ministers hatte er eine Menge prachtvoller Gold- und Silberarbeiten gesehen. Kein Anderier besaß etwas, das an die Schönheit dieses Gegenstandes heranreichte.

»Ist es das?«, fragte Morley.

Snip fuhr mit den Fingern über die erhabenen Buchstaben auf dem Heft. Dort stand das einzige Wort, das er lesen konnte.

»Ja, das ist es. Das Schwert der Wahrheit.«

Snip hatte das Gefühl, auf der Stelle festzuwachsen, als er die herrliche Waffe in Händen hielt, die Finger über das mit Draht umwickelte Heft gleiten ließ, über den nach unten gebogenen Handschutz, die prunkvoll gearbeitete goldene und silberne Scheide. Selbst der lederne Waffengurt war wunderbar gearbeitet und fühlte sich zwischen Daumen und Zeigefinger butterweich an.

»Nun, wenn du das mitnimmst«, meinte Morley, »was meinst du, kann ich dann mitnehmen?«

»Gar nichts«, war eine Stimme in ihrem Rücken zu vernehmen.

Die beiden zuckten zusammen und schrien wie aus einem Munde auf; wie ein Mann wirbelten sie herum.

Fassungslos starrten die beiden auf das, was sie sahen. Sie trauten ihren Augen kaum: Dort stand eine entzückende blonde Frau mit blauen Augen in einem roten Lederanzug, der sich wie eine zweite Haut um ihren Körper schmiegte. Er brachte ihre weiblichen Formen auf eine Weise zur Geltung, wie Snip es zuvor noch nie gesehen hatte. Die tief ausgeschnittenen Kleider, die die anderischen Frauen trugen, ließen den Ansatz ihrer Brüste erkennen, dieser Anzug dagegen schien, obwohl er alles verdeckte, irgendwie noch mehr zu offenbaren. Er konnte das Spiel ihrer schlanken, sich deutlich abzeichnenden Muskeln genau verfolgen, als sie auf die beiden zugeschritten kam.

»Das gehört euch nicht«, sagte die Frau. »Gebt es her, bevor ihr Jungen euch verletzt.«

Morley mochte nicht mehr als Junge bezeichnet werden, wenigstens nicht von einer Frau. Snip sah, wie seine kräftigen Muskeln sich spannten.

Die Frau stemmte die Fäuste in die Hüften. Für eine auf sich allein gestellte Frau benahm sie sich reichlich unverfroren, zumal die beiden ihr körperlich weit überlegen waren. Snip war bestimmt noch nicht vielen Frauen begegnet, die so finster blicken konnten wie diese hier, aber Angst hatte er wirklich nicht. Er war jetzt sein eigener Herr und brauchte niemandem Rechenschaft abzulegen.

Snip musste daran denken, wie hilflos Claudine Winthrop gewesen war, wie leicht es gewesen war, sie festzuhalten, bis sie sich nicht mehr wehren konnte. Dies war nur eine Frau wie Claudine, weiter nichts.

»Was habt ihr zwei eigentlich hier drinnen zu suchen?«, fragte sie.

»Schätze, wir könnten Euch dasselbe fragen«, erwiderte Morley.

Sie funkelte ihn an, dann hielt sie Snip die Hand hin. »Das gehört dir nicht.« Sie machte eine winkende Bewegung mit den Fingern. »Gib es heraus, bevor ich meine Beherrschung verliere und dir womöglich noch wehtun muss.«

Snip und Morley rannten im selben Augenblick in entgegengesetzte Richtungen los. Die Frau stürzte sich auf Snip, der warf Morley das Schwert zu. Morley fing es lachend auf, fuchtelte damit vor der Frau herum und neckte sie damit.

Snip umlief sie im Rücken und schlug die Richtung zur Tür ein, deshalb langte sie nach Morley, der aber schleuderte das Schwert über ihren Kopf und ihre ausgestreckten Arme hinweg.

Die drei rannten über den abgesenkten Fußboden in der Mitte des Saales. Wieder warf sich die Frau auf Snip, bekam sein Bein zu fassen und brachte ihn zu Fall, dabei warf er jedoch das Schwert erneut hinüber zu Morley.

Sogleich war die blonde Schönheit wieder auf den Beinen und rannte los, bevor Snip sich auf die Füße wälzen konnte. Morley stieß mit der Schulter gegen eine der weißen Marmorsäulen und kippte sie vor ihr quer über den roten Teppich. Die Schale auf der Säule fiel krachend zu Boden und zersprang zu tausend Splittern, die mit einem leise klingelnden, beinahe melodischen Klirren über Marmor und Teppich glitten.

»Ihr zwei habt keine Ahnung, was ihr tut!«, brüllte sie. »Hört sofort damit auf! Das gehört euch nicht! Das hier ist kein Spiel für Kinder! Ihr habt kein Recht, hier irgend etwas anzufassen! Ihr könntet ungeheures Unheil anrichten! Hört auf! Menschenleben stehen auf dem Spiel!«

Sie und Morley tänzelten um die gegenüberliegenden Seiten der nächsten Säule herum. Jedesmal, wenn sie nach ihm langte, schob er die Säule in ihre Richtung. Als die schwere goldene Vase auf der Säule ins Wanken geriet und ihr auf die Schulter fiel, entfuhr ihr ein Schrei. Snip wusste nicht, ob es Wut war oder Schmerz, was sie aufschreien ließ.

Schlangengleich wanden sich die drei um die Säulen zu beiden Seiten des roten Teppichs herum und kamen der Tür immer näher. Snip und Morley warfen sich das Schwert abwechselnd zu, ihre Aufmerksamkeit immer wieder in eine andere Richtung lenkend. Snip wollte eine der Säulen umstoßen, um die Fremde aufzuhalten, und war schockiert, wie schwer sie war. Als Morley sie umgeworfen hatte, hatte er geglaubt, sie wären leicht zu kippen – Fehlanzeige! Er versuchte es nicht noch einmal.

Die ganze Zeit über brüllte die Frau die beiden an, mit der Zerstörung der unbezahlbaren magischen Gegenstände aufzuhören, als Morley dann aber die Säule mit dem tintenschwarzen Fläschchen darauf umstieß, entfuhr ihr ein spitzer Schrei. Die Säule stürzte krachend zu Boden, das Fläschchen segelte durch die Luft.

Mit wehendem Zopf warf sie sich im Hechtsprung über den Boden, schlug auf und rutschte. Das Fläschchen entglitt ihren Händen, sprang hoch, landete auf dem Teppich und rollte aus, ohne jedoch zu zerbrechen.

Ihrem Gesichtsausdruck nach vermutete Snip, ihr Leben sei durch das Nichtzerbrechen des Fläschchens verschont geblieben.

Sie rappelte sich hoch und kam hinter ihnen hergestürzt, als sie durch die Tür nach draußen liefen. Im Freien warf Morley Snip lachend das Schwert zu, während sie am Rand der Umwallung entlangrannten.

»Ihr habt ja keine Vorstellung, was auf dem Spiel steht! Ich brauche dieses Schwert unbedingt. Es gehört euch nicht. Gebt es mir, und ich lasse euch laufen.«

Morley hatte diesen gewissen Blick in den Augen, diesen Blick, als wollte er ihr wehtun. Sehr weh tun. Diesen Blick hatte er schon bei Claudine Winthrop gehabt.

Snip wollte nichts weiter als das Schwert, sah aber ein, dass sie ernsthaft würden versuchen müssen, sie aufzuhalten, sonst würde sie ihnen Scherereien ohne Ende machen. Er hatte nicht die Absicht, das Schwert wieder herzugeben. Nicht jetzt, nicht nach allem, was sie durchgemacht hatten.

»He, Snip!«, rief Morley »Ich denke, es wird Zeit, dass du dir mal 'ne Frau vornimmst. Die hier gibt’s sogar umsonst. Was meinst du, soll ich sie für dich festhalten?«

Snip fand durchaus, dass sie ziemlich gut aussah. Außerdem war sie es, die die Scherereien machte. Sie wäre selbst dran schuld, sie wollte sie einfach nicht in Frieden lassen und sie wollte sich einfach nicht um ihre eigenen Dinge kümmern. Es geschähe ihr nur recht.

Da er es aus den richtigen Gründen tat, aus guten Gründen, verdiente er es, der Sucher der Wahrheit zu sein, davon war Snip überzeugt. Diese Frau hatte nicht das Recht, sich einzumischen.

Draußen im grellen Sonnenlicht wirkte die Farbe ihres Lederanzuges noch zorniger, ihr Gesicht war es ganz zweifellos. Sie sah aus, als hätte jemand sie an ihrem langen blonden Zopf gepackt und in Blut getaucht.

»Da versuche ich, es so zu machen wie er«, murmelte sie. »Ich versuche, es ihm recht zu machen.« Snip glaubte, sie sei womöglich verrückt geworden, so wie sie dastand, die Hände auf den Hüften, und in den Himmel sprach. »Und was habe ich davon? Das hier. Mir langt’s. Ich hab genug.«

Sie presste ein wütendes Stöhnen hervor, dann zerrte sie rote Lederhandschuhe hervor, die sie unter dem doppelten, das Oberteil ihres Anzugs fest an der Hüfte zusammenschnürenden Riemengürtel stecken hatte. Die Art, wie sie die Handschuhe überstreifte, wie sie ihre Finger hin und her bewegend hineinschob, hatte etwas beängstigend Endgültiges.

»Ich werde euch Knaben nicht noch einmal warnen«, sagte sie, diesmal mit einem bedrohlichen Knurren, dass sich Snip die Nackenhaare sträubten. »Her damit, und zwar sofort.«

Morley griff bereits an, als sie Snip noch grimmig anfunkelte. Er holte mit seiner mächtigen Faust aus, um sie seitlich am Kopf zu treffen. Snip glaubte, er würde sie mit dem allerersten Schlag umbringen, so hart schlug er zu.

Die Frau sah nicht einmal in Morleys Richtung. Sie fing seine Faust mit der flachen Hand ab, riss sie herum, drehte sich blitzschnell darunter hindurch und bog ihm den Arm auf den Rücken. Die Zähne aufeinander gebissen, schob sie den Arm immer höher.

Snip war entsetzt, als er hörte, wie Morleys Schulter ein Übelkeit erregendes Knacken von sich gab. Morley brüllte, der Schmerz warf ihn auf die Knie.

Diese Frau war anders als alle Frauen, denen Snip zuvor begegnet war. Und jetzt ging sie auf ihn los. Nicht etwa rennend, sondern mit einer Entschlossenheit im Schritt, die ihm den Atem stocken ließ.

Er stand da wie festgewachsen und wusste nicht, was er tun sollte. Er durfte seinen Freund nicht im Stich lassen, doch seine Füße wollten davonlaufen. Außerdem konnte er das Schwert nicht aufgeben. Allerdings begann er, sich an der mit Zinnen versehenen Mauer entlangzutasten.

Morley war wieder auf den Beinen, wollte sich erneut auf die Frau stürzen. Diese aber hatte es nach wie vor auf Snip abgesehen – und auf das Schwert. Snip entschied, dass er das Schwert womöglich ziehen und sie damit durchbohren musste – vielleicht ins Bein, überlegte er. Verwunden konnte er sie bestimmt.

Doch dann sah es ganz so aus, als wäre dies gar nicht nötig, diesmal würde wohl nichts den kräftigen Kerl aufhalten können.

Ohne sich auch nur nach dem heranstürzenden Morley umzudrehen, trat sie elegant auf die Seite – ohne Snip aus ihrem zornentbrannten Blick zu lassen –, zog ihren Arm hoch und rammte Morley den Ellenbogen mitten ins Gesicht.

Sein Kopf wurde nach hinten gestoßen, Blut spritzte hervor.

Nicht einmal schwer atmend drehte sie sich um und packte Morleys gesunde linke Hand. Sie umfasste die Finger, drückte ihm den Daumen auf den Handrücken und bog sie am Handgelenk nach unten, bis Morleys Knie nachgaben, während sie ihn rückwärts gegen die Wand drängte.

Wie ein Kind wimmernd flehte Morley sie an, loszulassen. Sein anderer Arm war nicht mehr zu gebrauchen, die Nase fürchterlich zerquetscht. Blut schoss ihm aus dem Gesicht. Auch sie musste über und über damit bespritzt sein, doch wegen des roten Lederanzugs konnte Snip das nicht genau erkennen.

Unaufhaltsam, gnadenlos drängte sie Morley rückwärts an die Wand. Ohne ein Wort packte sie ihn mit der anderen Hand bei der Kehle und schob ihn ruhig und ungerührt rückwärts durch die Lücke zwischen zwei Zinnen ins Nichts.

Snip sackte der Unterkiefer herunter. Das hatte er nicht erwartet – dass sie so weit gehen würde.

Morley schrie sich die Seele aus dem Leib, als er rücklings den Abhang hinunterstürzte. Starr lauschte Snip auf die Stimme seines Freundes aus dem flachen Anderith. Morleys Schrei riss unvermittelt ab…

Die Frau hatte aufgehört zu sprechen, aufgehört, irgendwelche Forderungen zu stellen. Sie ging jetzt einfach nur auf Snip los, die blauen Augen fest auf ihn geheftet. Ihm war klar, dass sie ihn, wenn sie ihn zu fassen kriegte, ebenfalls töten würde.

Dies war keine Claudine Winthrop. Dies war keine Frau, die ihn jemals mit ›Sir‹ ansprechen würde.

Endlich bekamen Snips Füße ihren Willen.

Wenn Snip eines besser konnte als Morley mit all seinen Muskeln, dann war dies rennen wie der Wind. Und jetzt rannte er wie ein Sturm.

Ein kurzer Blick zurück versetzte ihm einen Schock: Die Frau konnte noch schneller rennen. Sie war groß und hatte die längeren Beine. Sie würde ihn einholen, ihm das Gesicht mit ebensolcher Leichtigkeit einschlagen wie Morley, ihn ebenfalls in den Tod stürzen. Oder ihm das Schwert abnehmen und das Herz herausschneiden.

Snip spürte, wie ihm die Tränen über die Wangen liefen. So schnell war er noch nie gerannt. Sie war schneller.

Eher fallend als laufend flog er die Stufen hinunter. Er warf sich über das Geländer und sprang den nächsten Treppenlauf hinab. Alles verschwamm. Steinerne Mauern, Fenster, Treppengeländer, Stufen – alles huschte nur so vorbei.

Snip, das Schwert der Wahrheit vor die Brust geklammert, segelte durch einen Türdurchgang, bekam mit seiner freien Hand die Kante der mächtigen Tür zu fassen und schlug sie krachend zu. Das Scheppern der zugeschlagenen Tür war noch nicht verhallt, als er ein großes steinernes Postament hinter der Tür quer auf den Boden kippte. Es war schwerer als die weißen Marmorsäulen, aber seine entsetzliche Angst verlieh ihm die nötige Kraft.

Das granitene Postament schlug gerade auf dem Boden auf, als die Frau krachend gegen die schwere Eichentür prallte. Der Aufprall drückte die Tür einige Zoll weit auf, Staubwolken türmten sich auf. Einen Augenblick war alles still, dann gab die Frau ein benommenes Stöhnen von sich, und Snip wusste, dass sie sich verletzt hatte.

Die Gelegenheit nutzend rannte er weiter durch die Burg der Zauberer, schloss Türen und stieß hinter ihnen etwas um, wenn es günstig stand. Er wusste nicht mal, ob er in die richtige Richtung lief. Seine Lungen brannten, während er im Laufen um seinen Freund weinte. Snip konnte kaum glauben, was geschehen war, dass sein Freund Morley nicht mehr lebte. Immer wieder erschien das Gesicht vor seinem inneren Auge. Fast erwartete er, der große, blöde Kerl würde ihn einholen und behaupten, alles sei nur ein Scherz gewesen.

Das Schwert, das Snip in den Armen hielt, hatte Morley das Leben gekostet. Snip musste sich die Augen wischen, um etwas zu erkennen. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm einen langen, gewundenen, menschenleeren Korridor.

So einfach würde sie nicht aufgeben. Sie war eine rächende Seele, gekommen, um ihm das Leben zu nehmen, weil er das Schwert der Wahrheit von seinem Platz in der Burg der Zauberer entwendet hatte. Er lief weiter, noch schneller als vorher.

Snip stürzte hinaus ins Sonnenlicht und war für einen Augenblick orientierungslos. Er drehte sich um und sah die Pferde. Es waren drei. Seines, Morleys und das der Frau. Auf dem Zaun hingen die Satteltaschen mit ihrem Gepäck.

Um die Hände frei zu haben, steckte Snip den Kopf durch den Waffengurt des Schwertes, legte den Lederriemen über seine rechte Schulter und schräg über die Brust, sodass die Waffe wie beabsichtigt an seiner linken Hüfte hing. Er schnappte sich die Zügel aller drei Pferde, packte den Sattel des nächststehenden und schwang sich hinauf.

Mit einem Schrei, der sie antreiben sollte, drückte er dem Pferd die Stiefelabsätze in die Flanken. Es war das ihre; die Steigbügel waren zu lang eingestellt, sodass er mit den Füßen nicht bis zu ihnen hinunterreichte, also schlang er seine Beine um den Bauch des Pferdes und hielt sich krampfhaft daran fest, als das große Tier, die anderen beiden Pferde im Schlepptau, durch das Koppeltor galoppierte.

Die Pferde erreichten gerade in vollem Tempo die Straße, als die Frau in Rot, eine Seite des Gesichts blutverschmiert, aus der Burg gestolpert kam. Mit der einen Hand hielt sie fest ein schwarzes Fläschchen umklammert, das Fläschchen aus der Burg, jenes Fläschchen, das heruntergefallen, aber nicht zerbrochen war.

Er beugte sich nach vorn über den Hals des Pferdes, während es die Straße hinunterraste. Er hatte ihr Pferd. Sie war zu Fuß und weit vom nächsten Pferd entfernt.

Snip versuchte, die Gedanken an Morley aus seinem Kopf zu verbannen. Er war im Besitz des Schwertes der Wahrheit. Jetzt konnte er nach Hause zurückkehren und mit seiner Hilfe beweisen, dass er Beata nicht vergewaltigt hatte und das, was er Claudine Winthrop angetan hatte, nur gemacht hatte, um den Minister vor ihren gemeinen Lügen zu beschützen.

Snip sah erneut über die Schulter. Sie war weit zurückgefallen, rannte aber noch immer. Er durfte dennoch auf keinen Fall riskieren anzuhalten. Sie war hinter ihm her und würde für nichts und niemanden stehen bleiben.

Sie würde niemals aufgeben, niemals ruhen, niemals nachlassen. Wenn er ihr in die Hände fiele, würde sie ihm das Herz herausreißen.

Snip trieb das Pferd zu noch schnellerem Tempo an.

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