55

Kahlan beugte sich über Richards Schulter und strich ihm über den Rücken, während er an dem kleinen Tischchen saß.

»Schon fündig geworden?«, erkundigte sie sich.

Er wischte sich das Haar aus der Stirn. »Ich bin mir noch nicht sicher.« Er tippte auf die Pergamentschriftrolle. »Aber diese hier hat etwas … sie enthält mehr präzise Informationen als die meisten Schriften Anders in der Bibliothek auf dem Anwesen des Ministers.«

Kahlan lächelte. »Das will ich auch hoffen. Ich werde mir die Beine vertreten gehen und nach den anderen sehen.«

Tief unten aus seiner Kehle kam ein zustimmender Laut, während er sich wieder über die Schriftrolle beugte.

Zwei Tage lang hatten sie in der Bibliothek des Anwesens damit zugebracht, alles über oder von Joseph Ander durchzugehen, was es dort gab. Größtenteils handelte es sich um Schriften über ihn selbst und über das, was er für bis dahin unbekannte Einblicke in das menschliche Verhalten hielt. Weitschweifig ließ er sich darüber aus, seine Beobachtungen seien für die Lebensweise der Menschen von größerem Belang als die aller anderen vor ihm.

Einen großen Teil der Schriften hatten sie mit erstaunt hochgezogenen Brauen gelesen. Fast war es, als hörte man einem Heranwachsenden zu, der alles zu wissen glaubt und dabei vollkommen übersieht, wie unwissend er in Wahrheit ist. Man war gezwungen, seine Worte schweigend in sich aufzunehmen, ohne all die hochtrabenden Erklärungen richtig stellen zu können, die ein erwachsener Mensch eigentlich längst abgelegt haben sollte.

Joseph Ander war in dem Glauben, den perfekten Ort zu kennen, an den er die Menschen führen und wo er sie zu einem vorbildlichen Leben anhalten könne, ohne dass Kräfte von außen in der Lage wären, seine ›ausgewogene Gemeinschaft‹, wie er es nannte, aus dem Gleichgewicht zu bringen. Als Erklärung führte er an, er habe erkannt, dass er weder Unterstützung noch Rat von anderen länger benötige – womit er die Zauberer in der Burg in Aydindril meinte, wie Richard vermutete – und dass er darüber hinaus zu der Erkenntnis gelangt sei, eine solche Einmischung von außen sei zutiefst schädlich, da sie die Menschen in seinem Gemeindekollektiv mit dem Übel des Eigennutzes infiziere.

Kein einziger Name außer seinem eigenen war je von Joseph Ander aufgezeichnet worden. Bezog er sich auf andere, sprach er von ›einem Mann‹, oder ›einer Frau‹, oder aber er schrieb, ›die Menschen‹ hätten errichtet, gepflanzt, sich versammelt oder an einem Gottesdienst teilgenommen.

Joseph Ander schien den perfekten Ort für sich gefunden zu haben: ein Land, wo seine Macht die aller anderen überschattete und wo alle Menschen ihn zutiefst bewunderten. Richard glaubte, Joseph Ander verwechselte Angst mit Bewunderung. Wie auch immer, die Umstände erlaubten es ihm, sich als geschätzter und gefeierter Führer zu etablieren – geradezu als König –, der uneingeschränkte Macht über eine Gesellschaft hatte, in der niemand Individualität an den Tag legen oder Überlegenheit beweisen durfte.

Joseph Ander glaubte, ein Land der Glückseligkeit geschaffen zu haben, wo Leid, Missgunst und Neid ausgemerzt waren – und wo ein gemeinsames Miteinander an die Stelle der Habsucht trat. Kulturelle Säuberungen – öffentliche Hinrichtungen – brachten den harmonischen Zustand des Gemeindekollektivs wieder ins Gleichgewicht. Er nannte das ›die Spreu vom Weizen trennen‹.

Aus Joseph Ander war ein Despot geworden. Entweder die Menschen bekannten sich zum Glauben an ihn und lebten nach seinem Vorbild, oder sie starben.

Richard drückte Kahlans Hand, bevor sie sich zum Gehen wandte. Das kleine Gebäude war nicht groß genug, um den anderen Platz zu bieten. Es reichte gerade für den kleinen Tisch und Joseph Anders Stuhl, den Richard, zum Entsetzen des alten Mannes, dessen Aufgabe es war, über die unschätzbaren Artefakte zu wachen, mit Beschlag belegte. Der Alte hatte nicht den Mut, Richard diese Bitte abzuschlagen.

Richard wollte auf Joseph Anders Platz sitzen, um einen Eindruck von diesem Mann zu gewinnen. Kahlan genügten die Eindrücke, die sie von diesem totalitären Despoten bereits bekommen hatte.

Ein Stück den Pfad hinunter hatten sich Bewohner der Ortschaft Westbrook versammelt. Ehrfürchtigen Blicks verfolgten sie, wie Kahlan sie mit erhobener Hand grüßte. Viele sanken auf ein Knie, nur weil sie in ihre Richtung geblickt hatte.

Wie in vielen anderen Orten auch, hatten Soldaten bereits Kunde von der bevorstehenden Abstimmung gebracht. Jetzt, da Richard und Kahlan hier waren, hofften die Menschen, sie darüber sprechen zu hören, man solle sich, wie bereits der größte Teil der übrigen Midlands, dem d’Haranischen Reich anschließen. Obwohl selbst ein Teil von ihnen, waren die Midlands für diese Menschen ein fremdes und fernes Land. Sie fristeten ihr Dasein an diesem kleinen Ort, wo sie, von Gerüchten abgesehen, von der Welt um sie herum kaum etwas mitbekamen.

D’Haranische Gardisten hielten die Menschenmenge freundlich auf Distanz, während Richard die Artefakte des leuchtenden Gründers und Namensgebers ihres Landes begutachtete. Richard hatte die Soldaten angewiesen, sich freundlich und ›nett‹ zu verhalten.

Als Kahlan den Pfad entlangging, erspähte sie Du Chaillu, die ein Stück abseits des Pfades allein auf einer aus einem gespaltenen Baumstamm gefertigten Bank im Schatten einer sich ausbreitenden Zeder saß. Mittlerweile empfand Kahlan Respekt für die Unbeirrbarkeit dieser Frau. Sie schien zu Recht darauf bestanden zu haben, sie zu begleiten, und sei es nur, weil sie fest entschlossen war, Richard, ihren ›Gemahl‹ und Caharin ihres Volkes, zu unterstützen. Du Chaillu hatte Richard zwar mehrfach daran erinnert, dass sie als seine Gemahlin zur Verfügung stehe, sollte er nach ihr verlangen, selbst aber keine Annäherungsversuche unternommen. Auf eine verschrobene Weise schien dies für sie nichts weiter als eine Frage der Höflichkeit zu sein. Es hatte ganz den Anschein, als sei Du Chaillu zwar durchaus bereit, ihm in jeder Eigenschaft als Gemahlin zu dienen und sich ihm zu fügen, biete ihre Dienste aber eher aus Achtung vor den Gesetzen ihres Volkes an, denn aus persönlicher Begierde.

Du Chaillu verehrte, wofür Richard stand, nicht Richard als Person. Für Richard war dies kaum ein Trost, für Kahlan dagegen schon.

Solange es dabei blieb, hielten Du Chaillu und Kahlan einen verlegenen Waffenstillstand. Kahlan traute der Frau nach wie vor nicht ganz über den Weg, nicht, solange Richard das Ziel ihrer Aufmerksamkeit war – ob nun aus Pflichtgefühl oder nicht.

Du Chaillu ihrerseits sah Kahlan in ihrer Rolle als Anführerin ihres Volkes, in ihrer Magie und als Richards Gattin, nicht als überlegen, sondern schlicht als ebenbürtig an. Kahlan musste zu ihrer Schande gestehen, dass sie dies empfindlicher traf als alles andere.

»Darf ich mich zu dir setzen?«

Du Chaillu lehnte sich zurück, streckte sich und lehnte sich mit den Schultern an den Baum. Sie deutete mit der Hand auf den leeren Platz neben sich und gewährte somit die Bitte. Kahlan raffte ihr weißes MutterKonfessoren-Kleid hinter die Knie und setzte sich.

Auf einer kleinen, an den Pfad angrenzenden Stelle, zwischen den Bäumen verborgen, waren sie für Passanten nicht zu sehen – ein intimes Plätzchen, eher geeignet für zwei Liebende als für die beiden Frauen eines Mannes.

»Ist alles in Ordnung mit dir, Du Chaillu? Du siehst ein wenig … erschlagen aus.«

Du Chaillu war über Kahlans Ausdruck der Besorgnis ein wenig verdutzt. Schließlich ging ihr die Bedeutung auf, und sie lächelte. Sie nahm Kahlans Hand, legte sie sich auf den festen, runden Bauch, wo sie sie mit ihren beiden Händen festhielt. Du Chaillus Leibesumfang bekam allmählich etwas Üppiges.

Kahlan spürte, wie sich das Leben in Du Chaillu rührte. Wie sich das Kind bewegte.

Du Chaillu lächelte stolz. Kahlan zog ihre Hand zurück.

Kahlan verschränkte ihre Hände im Schoß. Sie blickte zu den aufziehenden Wolken hoch. Dies war nicht so, wie es sein sollte. Sie hatte es sich immer als freudig vorgestellt.

»Es missfällt dir?«

»Was? Nein – ganz und gar nicht. Es ist ganz wunderbar.«

Du Chaillu nahm Kahlans Kinn und zog ihr Gesicht zu sich herum.

»Kahlan, du weinst?«

»Nein. Schon gut.«

»Du bist unglücklich, weil ich ein Kind bekomme?«

»Nein, Du Chaillu, ich bin nicht unglücklich, wirklich…«

»Du bist unglücklich, weil ich ein Kind haben werde und du nicht?«

Kahlan hielt ihre Zunge im Zaum, um nicht die Selbstbeherrschung zu verlieren.

»Du solltest nicht unglücklich sein, Kahlan. Du wirst ebenfalls eines Tages ein Kind haben. Ganz bestimmt.«

»Du Chaillu – ich bin schwanger.«

Du Chaillu stemmte eine Hand in ihr Kreuz und streckte sich. »Wirklich? Das überrascht mich. Jiaan hat mir nichts davon erzählt, dass du und dein Gemahl auf diese Weise zusammengewesen wärt.«

Es schockierte Kahlan, zu erfahren, dass man Du Chaillu derartige Dinge berichtete. Einerseits war sie erleichtert, dass es nichts zu berichten gegeben hatte, andererseits wünschte sie sich, es hätte etwas gegeben, nur um ihren Wettstreit unter Ehefrauen mit etwas mehr Leidenschaft führen zu können.

»Unser Gemahl muss überglücklich sein. Er scheint Kinder zu mögen. Er wird ein guter…«

»Richard weiß nichts davon. Du musst mir versprechen, Du Chaillu, ihm nichts davon zu erzählen.«

Die Frau runzelte die Stirn. »Warum sollte ich ein solches Versprechen geben?«

Kahlan beugte sich ein wenig näher. »Weil ich es war, die Richard dazu bewogen hat, dich mitkommen zu lassen. Weil ich es war, die gesagt hat, du kannst auch nach Eintreffen unserer Soldaten bei uns bleiben. Du hattest Richard versprochen, du würdest zurückgehen, sobald unsere Soldaten kommen, doch dann wolltest du bei uns bleiben, und ich habe ihn überredet. Schon vergessen?«

Du Chaillu zuckte mit den Achseln. »Wenn du es wünschst, werde ich ihm nichts davon erzählen. Du solltest das Geheimnis ohnehin für dich behalten und ihn damit überraschen, wann es dir am besten passt.« Sie bedachte Kahlan mit einem Lächeln. »Die Gemahlinnen des Caharin müssen zusammenhalten.«

»Danke«, erwiderte Kahlan leise.

»Aber wann …?«

»In unserer Hochzeitsnacht. Als wir bei den Schlammenschen waren, kurz bevor ihr gekommen seid.«

»Aha. Wahrscheinlich habe ich deswegen nichts davon gehört.«

Kahlan überging die Bemerkung.

»Aber warum willst du, dass Richard nichts davon erfährt? Er wäre sehr glücklich.«

Kahlan schüttelte den Kopf. »Nein, wäre er nicht. Es würde großen Ärger geben.« Kahlan hob das Halsband mit dem kleinen Stein an. »Dies hat uns eine Hexe geschenkt, um zu verhindern, dass wir derzeit ein Kind zeugen. Es ist eine lange Geschichte, im Augenblick jedoch dürfen wir keines bekommen, oder wir geraten in große Schwierigkeiten.«

»Wieso trägst du dann ein Kind in dir?«

»Daran sind die Chimären schuld. Die Magie ist versiegt. Doch ehe wir davon erfuhren … Nun, wir wussten eben nicht, dass das Halsband in jener Nacht nach unserer Trauung nicht funktionieren würde. Die Magie sollte verhindern, dass wir ein Kind zeugen, aber seine Magie war versiegt. Es hatte gar nicht passieren sollen.«

Kahlan musste sich auf die Innenseiten ihrer Wangen beißen, um ihre Tränen zurückzuhalten.

»Richard wäre trotzdem überglücklich«, sagte Du Chaillu.

Kahlan schüttelte den Kopf. »Du begreifst nicht, was dabei alles eine Rolle spielt. Sein Leben geriete in große Gefahr, wenn jemand davon erführe. Die Hexe hat geschworen, dieses Kind zu töten, aber was schlimmer ist, ich kenne sie; um in Zukunft allen Ärger zu vermeiden, wird sie zu dem Schluss kommen, dass sie mich oder Richard töten muss.«

Du Chaillu dachte darüber nach. »Nun, bald wird diese alberne Abstimmung stattfinden, bei der ihm die Menschen sagen, was er eigentlich längst wissen sollte, nämlich dass er der Caharin ist. Danach wird alles gut werden. Dann konntest du dich verstecken und dein Kind zur Welt bringen.« Die Seelenfrau legte Kahlan eine Hand auf die Schulter. »Du kommst mit mir zu den Baka Tau Mana. Wir werden dich und dein Kind beschützen.«

Kahlan atmete tief und gleichmäßig durch, um ein Schluchzen zu unterdrücken. »Ich danke dir, Du Chaillu, du bist ein freundlicher Mensch. Aber das würde nichts nützen. Ich muss etwas tun, um es loszuwerden. Eine Kräuterfrau finden oder eine Hebamme. Ich muss dieses Kind abtreiben, bevor es zu spät ist.«

Du Chaillu ergriff abermals Kahlans Hand und legte sie wieder auf das Baby. Kahlan presste die Augen zusammen, als sie spürte, wie das Kind sich bewegte.

»Das kannst du dem Leben in dir nicht antun, Kahlan. Dem Leben, das aus deiner Liebe entstanden ist. Das darfst du nicht. Es würde alles nur noch schlimmer machen.«

Richard trat aus dem kleinen Gebäude, die Schriftrolle in der Hand. »Kahlan?«, rief er.

Kahlan wandte sich zu Du Chaillu. »Du hast mir dein Wort gegeben, kein Wort darüber zu verlieren.«

Du Chaillu lächelte und strich Kahlan über die Wange, so wie eine Großmutter ihr Enkelkind aus Mitgefühl berühren würde. Kahlan war sich bewusst, dass in diesem Augenblick nicht Du Chaillu, Richards erste Gemahlin, sondern Du Chaillu, die Seelenfrau der Baka Tau Mana, sie berührt hatte.

Kahlan erhob sich, im selben Augenblick ihre Konfessorenmiene aufsetzend. Richard sah sie und eilte herbei.

Sein verwunderter Blick wanderte zwischen ihr und Du Chaillu hin und her; schließlich zeigte er ihr die Schriftrolle.

»Ich wusste, es hatte etwas mit dem Wort ›Schule‹ zu tun.«

»Was?«, fragte Kahlan.

»Die Dominie Dirtch. Schau hier.« Er tippte auf die Schriftrolle. »Hier steht, er habe die Einmischung neidischer Kollegen nicht gefürchtet, da er« – Richard fuhr mit dem Finger über das Wort, während er es laut vorlas – »unter dem Schutz der Dämonen stand.«

Kahlan hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon er sprach. »Und was ist daran so wichtig …?«

Richard las wieder in der Schriftrolle. »Was? Ach ja. Nun, als du mir gegenüber den Namen Dominie Dirtch zum ersten Mal erwähntest, war ich der Meinung, er sei Hoch-D’Haran, konnte mir aber nicht erklären, was er bedeutete. Es handelt sich um eine dieser tückischen, mehrschichtigen Wendungen, von denen ich dir erzählt habe.

Wie auch immer, bei ›Dominie‹ handelt es sich um ein Wort, das mit Schule oder Zucht zu tun hat, wie in den Begriffen Unterrichten oder Ausbilden oder, noch wichtiger, Anleiten oder Führen. Als mir jetzt dieser andere Aspekt der Bedeutung klar wurde, half das meinem Gedächtnis auf die Sprünge, und ich konnte das Wort übersetzen.

›Dominie Dirtch‹ bedeutet ›Schulung der Dämonen‹.«

Kahlan konnte einen Augenblick nur ausdruckslos starren. »Aber – was soll das heißen?«

Richard warf die Arme in die Höhe. »Keine Ahnung, aber das wird sich alles finden, da bin ich mir sicher.«

»Na ja, gut und schön«, meinte Kahlan.

Er blickte sie missbilligend an. »Was ist denn los? Dein Gesicht sieht irgendwie – komisch aus.«

»Na, vielen Dank.«

Er wurde rot. »Ich meinte nicht, dass es schlecht aussieht.«

Kahlan machte eine abwehrende Handbewegung. »Nein, schon gut. Ich bin nur müde. Wir haben eine lange, beschwerliche Reise hinter uns und mussten endlos vor irgendwelchen Leuten reden.«

»Ist dir ein Ort mit Namen ›die Öfen‹ bekannt?«

»Die Öfen.« Kahlan runzelte nachdenklich die Stirn. »Ja, ich erinnere mich an den Ort. Tatsächlich ist er gar nicht weit von hier entfernt. Er liegt ein kleines Stückchen höher, oberhalb des Nareef-Tales.«

»Wie weit?«

Kahlan zog eine Schulter hoch. »Wir könnten in ein paar Stunden dort sein, so gegen Nachmittag, falls das aus irgendeinem Grund wichtig ist.«

»Ander lässt sich in den Schriftrollen über diesen Ort aus. Er erwähnt ihn indirekt im Zusammenhang mit den Dämonen – den Dominie Dirtch. Das war der Abschnitt, wo ich beides dann miteinander in Verbindung brachte.«

Richard blickte den Pfad hinunter zu der Gruppe von Menschen, die sich dort geduldig wartend versammelt hatten. »Sobald wir mit diesen Leuten gesprochen haben, möchte ich dort hinaufsteigen und mich umsehen.«

Kahlan ergriff seinen Arm. »Es ist ein hübsches Fleckchen. Ich hätte nichts dagegen, es mir noch einmal anzusehen. Und jetzt lass uns zu den Leuten gehen und ihnen erklären, warum sie das Kreiszeichen machen müssen, wenn sie sich uns anschließen wollen.«

Die erwartungsvollen Gesichter gehörten fast ausschließlich Hakeniern. Die meisten arbeiteten auf Farmen in der Gegend um die kleine Ortschaft Westbrook. Wie alle, die gekommen waren, um sie auf ihrer Rundreise durch Anderith zu sehen, waren diese Menschen erfüllt von Sorge und Kummer. Sie wussten, dass eine Veränderung in der Luft lag. Für die meisten Menschen war Veränderung gleichbedeutend mit Gefahr.

Statt kühl das Wort an sie zu richten, mischte sich Richard unter sie, fragte sie nach ihrem Namen, lächelte den Kindern zu, strich den ganz Kleinen mit Hand oder Finger über die Wange. Weil dies Richards wahrem Wesen entsprach, weil es ernst gemeint und nicht aufgesetzt war, sah er sich innerhalb weniger Minuten von einer Kinderschar umringt. Mütter lächelten, sobald er den Kleinen über ihre roten oder dunkelhaarigen Köpfe streichelte. Auch die sorgenzerfurchten Mienen der Väter entspannten sich.

»Liebe Bürger von Anderith«, hob Richard, mitten unter ihnen stehend, an, »die Mutter Konfessor und ich sind gekommen, nicht um als Herrscher, sondern als eure bescheidenen Fürsprecher das Wort an euch zu richten. Wir sind nicht gekommen, um euch Vorschriften zu machen, sondern um euch zu helfen, die Entscheidungen, vor denen wir alle stehen, sowie die Chance, selbst über eure Zukunft zu entscheiden, zu begreifen.«

Er winkte ihr zu, und Kahlan bahnte sich behutsam einen Weg durch das Gedränge strahlender Kinder, um sich neben ihn zu stellen. Sie hatte angenommen, sie könnten sich vor einem so großen Mann wie Richard in seinem schwarzgoldenen Anzug, der ihn noch eindrucksvoller erscheinen ließ, fürchten, stattdessen schmiegten sich viele von ihnen an ihn, als wäre er ein Lieblingsonkel.

Es war das weiße Kleid der Mutter Konfessor, das ihnen Angst machte, denn wie die meisten Menschen in den Midlands waren sie von Geburt an vor der Mutter Konfessor und ihrer Kraft gewarnt worden. Sie machten ihr Platz, wobei sie ihr Möglichstes taten, nicht mit ihrem weißen Kleid in Berührung zu kommen, gleichzeitig aber in Richards Nähe zu bleiben. Kahlan sehnte sich danach, zu erleben, wie sie sich um sie genauso scharten wie um Richard, doch sie verstand. Sie hatte ihr ganzes Leben lang verstanden.

»Die Mutter Konfessor und ich haben geheiratet, weil wir einander lieben. Aber wir lieben auch die Völker der Midlands und D’Hara. So wie wir in der Ehe vereint sein wollten, um uns auf eine gemeinsame Zukunft freuen zu können, so wollen wir das Volk Anderiths mit uns und den anderen Völkern der Midlands vereint sehen, damit wir gemeinsam in eine starke und gesicherte Zukunft schreiten können, die euch und euren Kindern die Hoffnung auf ein besseres Leben garantiert.

Aus der Alten Welt marschiert die Tyrannei heran. Die Imperiale Ordnung will euch zu Sklaven machen. Sie lassen euch keine andere Wahl, als euch entweder zu unterwerfen oder zu sterben. Nur wenn ihr euch uns anschließt, werdet ihr eine Chance haben, in Sicherheit zu leben.

Die Mutter Konfessor und ich sind überzeugt, wenn wir die Völker der Midlands und D’Haras vereinen und alle wie ein Mann zusammenstehen, um unsere Freiheit zu bewahren, dann wird es uns gelingen, diese Bedrohung für unser Zuhause und unsere Sicherheit … und die Zukunft unserer Kinder zurückzuschlagen.

Unterwerfen wir uns aber ängstlich der Tyrannei, werden wir nie wieder Gelegenheit bekommen, flügge zu werden. Nie wieder werden sich unsere Seelen stolz auf dem Wind der Hoffnung in die Höhe schwingen. Niemand wird Gelegenheit erhalten, in Frieden eine Familie zu gründen, oder davon träumen können, seinen Kindern werde es eines Tages besser gehen.

Wenn wir uns der Imperialen Ordnung nicht entgegenstemmen, werden wir im Schatten der Sklaverei dahinvegetieren. Wenn es so weit kommt, werden wir auf ewig in die Finsternis der Unterdrückung hinabsteigen.

Deshalb sind wir gekommen, um zu euch zu sprechen. Wir vertrauen darauf, dass ihr euch auf unsere Seite stellt, dass ihr euch auf die Seite aller friedliebenden Menschen schlagt, gemeinsam mit denen, die wissen, dass die Zukunft strahlend und voller Hoffnung sein kann.

Ihr müsst euch uns anschließen und einen Kreis machen, um damit unseren Bund für die Freiheit zu bekräftigen.«

Wie seit Wochen schon hörte Kahlan zu, wie Richard aus voller Überzeugung davon sprach, was es bedeutete, sich ihnen und der Sache der Freiheit anzuschließen.

Anfangs waren die Menschen angespannt und vorsichtig. Bald jedoch hatte Richard die meisten überzeugt. Er brachte sie zum Lachen und anschließend an den Rand der Tränen, als er in ihnen die Sehnsucht weckte, sich die Freiheit zu nehmen und Größe zu wagen, indem er ihnen aufzeigte, wie einfach sie zu Macht und Einfluss gelangen konnten, wenn man ihnen und ihren Kindern erlaubte zu lernen und zu lesen.

Anfangs reagierten die Menschen nervös darauf, bis Richard es mit Worten ausdrückte, die sie verstanden: ein Brief, den man an die anderswo lebenden Eltern schrieb, oder an ein Kind, das ausgezogen war, sich auf die Suche nach einem besseren Leben zu machen. Er brachte sie dazu, den Wert des Wissens zu erkennen und wie es ihr Leben auf sinnvolle Weise verändern konnte, indem es ihnen die Aussicht auf bessere Arbeit gab oder darauf, in ihrer gegenwärtigen Stellung mehr zu erreichen.

»Die Imperiale Ordnung dagegen wird euch das Lernen nicht erlauben, denn Wissen ist für Tyrannen eine Gefahr. Wer danach trachtet, euch zu beherrschen, der muss das Wissen unterdrücken, denn Menschen mit der Fähigkeit zu begreifen sind Menschen, die gegen die Ungerechtigkeit der Elite aufbegehren werden.

Ich möchte, dass alle lernen, damit jeder selbst entscheiden kann, was er will. Das ist der Unterschied: Ich vertraue darauf, dass ihr lernt, damit es euch besser geht, dass ihr um eure Ziele kämpft, die kleinen wie die großen. Die Imperiale Ordnung kennt kein Vertrauen, sondern wird alles diktieren.

Wir werden gemeinsam ein Land haben, mit einer Gesetzgebung, die die Sicherheit aller gewährleistet, wo niemand – sei er Gouverneur, Minister oder Herrscher – über dem Gesetz steht. Nur wenn alle sich demselben Gesetz beugen müssen, ist der Einzelne frei.

Ich bin nicht hierher gekommen, um zu herrschen, sondern um das Prinzip der Freiheit aufrechtzuerhalten. Mein eigener Vater, Darken Rahl, war ein Diktator, der durch Einschüchterung, Folter und Mord regierte. Nicht einmal er stand über dem Gesetz, nach dem wir alle, wie ich hoffe, leben werden. Ich übernahm seine Herrschaft, damit er sein Volk nicht länger missbrauchen konnte. Ich bin ein Anführer freier Menschen – kein Herrscher über Untertanen.

Ich möchte euch nicht vorschreiben, wie ihr zu leben habt, sondern möchte, dass ihr alle in Frieden und Sicherheit das Leben lebt, für das ihr euch selbst entscheidet. Für mich selbst und die Mutter Konfessor – meine Gemahlin – wünsche ich mir nichts sehnlicher, als in Frieden und Sicherheit eine Familie gründen zu können, ohne mich mehr als nötig den Geschäften des Herrschers widmen zu müssen.

Ich möchte euch bitten, einen Kreis zu machen und euch uns anzuschließen – um eurer selbst willen und um derentwillen, die nach euch folgen.«


Dalton lehnte sich mit einer Schulter an die Ecke des Gebäudes, verschränkte die Arme und hörte zu. Direktor Prevot vom Büro für Kulturelle Zusammenarbeit hielt von einem Balkon aus vor einer vielköpfigen Menge auf einem der städtischen Plätze eine Rede. Er redete schon eine ganze Weile.

Die Menge, größtenteils Hakenier, hatte sich versammelt, um von den bevorstehenden Ereignissen zu erfahren. Gerüchte gingen durch die Stadt. Die Menschen hatten Angst. Die meisten waren nicht gekommen, um zu erfahren, wie sie ein Unheil abwenden konnten, sondern um festzustellen, ob sie sich wegen der Gerüchte sorgen mussten.

Dalton betrachtete die gesamte Entwicklung mit Unbehagen.

»Wollt ihr leiden, während die kleine Elite belohnt wird?«, rief Direktor Prevot hinaus in die Menge. Sie antwortete mit einem einstimmigen ›Nein‹.

»Wollt ihr euch zu Tode schuften, während die Auserwählten aus D’Hara stets nur reicher werden?«

Abermals antwortete die Menge mit einem lauten ›Nein‹.

»Sollen wir unser gutes Werk, mit dem wir allen Hakeniern helfen, sich über ihre Natur zu erheben, von einem einzigen Mann verwerfen lassen? Sollen wir zulassen, dass unser Volk abermals von der unbarmherzigen Selbsttäuschung der Bildung in die Irre geleitet wird?«

Die Menge bekundete ihre Zustimmung zu Direktor Prevot mit lautem Rufen, wobei einige – auf Daltons Geheiß – sogar ihre Hüte schwenkten. Etwa fünfzig seiner hakenischen Boten hatten sich in ihren alten Kleidern unter die Menge gemischt und gaben sich größte Mühe, die Reaktionen auf Direktor Prevots Rede mit Emotionen aufzuladen.

Es gab Menschen, die sich von den leidenschaftlich vorgetragenen Worten mitreißen ließen, größtenteils jedoch sah die Menge schweigend zu und versuchte abzuschätzen, ob das Gehörte ihr Leben verändern würde. Die meisten Menschen wogen die Dinge wie auf einer Waage ab, auf deren einer Schale ihr eigenes Leben lag, und die bevorstehenden Ereignisse auf der anderen. Die meisten waren zufrieden, so wie es war, daher wurden sie erst besorgt, wenn die Geschehnisse auf der anderen Waagschale drohten, ihr Leben an Gewicht zu übertreffen oder zu verändern.

Dalton war alles andere als erfreut. Diese Menschen stimmten zwar zu, sahen aber offenbar nicht recht ein, wie die Ereignisse auf der anderen Waagschale ihr Leben groß beeinflussen sollten.

Dalton war sich darüber im Klaren, dass sie ein Problem hatten.

Die Botschaft drang an die Öffentlichkeit, stieß dort aber auf wenig mehr als gleichgültige Ohren.

»Er führt eine Menge guter Argumente an«, meinte Teresa.

Dalton zuckte mit den Achseln. »Ja, das ist wohl wahr.«

»Ich finde, der Mann hat Recht. Die armen Hakenier werden nur darunter leiden, wenn wir nicht auch weiterhin für ihr Wohlbefinden sorgen. Sie sind nicht darauf vorbereitet, ihr hartes Dasein selber in die Hand zu nehmen.«

Daltons Blick wanderte über die Reihen der Menschen hinweg, die Statuen gleich verfolgten, wie der Direktor seine leidenschaftlichen Reden schwang.

»Ja, mein Schatz, du hast Recht. Wir müssen mehr tun, um diesen Menschen zu helfen.«

In diesem Augenblick wurde Dalton bewusst, was fehlte und was er zu tun hatte.

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