10

Kahlan wollte das Huhn von der Leiche fortscheuchen, konnte sich aber nicht recht überwinden. Das Tier verdrehte ein Auge, um sie zu betrachten, während es seelenruhig weiterpickte.

Pick, pick. Pick. Pick. Pick. Das war das Geräusch, das sie gehört hatte.

»Schsch!« Sie versuchte den Vogel mit einer schnellen Handbewegung zu vertreiben. »Schsch!«

Es mußte wegen der Käfer hergekommen sein. Deshalb war es hier. Wegen der Käfer.

Irgendwie gelang es ihr nicht, sich selbst davon zu überzeugen.

»Schsch! Laß ihn in Ruhe!«

Fauchend, mit aufgestellten Halsfedern, hob das Huhn den Kopf.

Kahlan wich zurück.

Die Krallen in das steife, tote Fleisch geschlagen, drehte sich das Huhn gemächlich zu ihr um, legte den Kopf geneigt, so daß sein Kamm zur Seite kippte und seine Kehllappen zitterten.

»Schsch«, hörte Kahlan sich leise sagen.

Es gab nicht genügend Licht, außerdem war sein Schnabel an der Seite blutverklebt, daher vermochte sie nicht zu erkennen, ob es einen dunklen Fleck aufwies. Sie brauchte ihn jedoch nicht unbedingt zu sehen.

»Gütige Seelen, steht mir bei«, betete sie flüsternd.

Der Vogel gab ein leises Hühnergackern von sich. Das Tier klang wie ein Huhn, in ihrem Herzen jedoch wußte sie, daß es keines war.

In diesem Augenblick wurde ihr der Begriff eines Huhns, das keins war, in aller Deutlichkeit bewußt. Es sah aus wie ein Huhn, es sah aus wie die meisten Hühner der Schlammenschen. Und doch war es keins.

Dies war das fleischgewordene Böse.

Sie spürte es bis in ihr Innerstes: Dies war ebenso obszön wie die grinsende Fratze des Todes.

Mit einer Hand raffte Kahlan ihr Hemd am Hals zusammen. Sie wurde so fest nach hinten gegen die Plattform mit der Babyleiche gestoßen, daß sie sich verwundert fragte, ob sie die harte, mit Mörtel verbundene Masse umgestoßen hatte.

Ihr Instinkt sagte ihr, blitzschnell die Hand vorzustrecken und dieses abstoßende Etwas mit ihrer Konfessorenkraft zu berühren. Ihre Magie zerstörte das Wesen eines Menschen für alle Zeiten und erzeugte in der dadurch entstandenen Leere eine totale und uneingeschränkte Ergebenheit für den Konfessor. Auf diese Weise gestanden die zum Tode Verurteilten ihre abscheulichen Verbrechen – oder ihre Unschuld. Es diente als äußerstes Mittel, der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen.

Niemand schien gegen die Berührung eines Konfessors gefeit; sie war ebenso allumfassend wie endgültig. Selbst der wahnsinnigste Mörder besaß eine Seele und war somit verwundbar.

Gleichzeitig bildete ihre Kraft, ihre Magie, eine Waffe der Verteidigung; sie funktionierte jedoch nur bei Menschen.

Gewiß nicht bei einem Huhn, und ganz bestimmt nicht bei einer fleischgewordenen Gottlosigkeit.

Ihr Blick zuckte, die Entfernung abschätzend, hinüber zur Tür. Das Huhn machte einen Hüpfer auf sie zu; die Krallen aber dabei noch immer fest in Junis Arm geschlagen, beugte es sich in ihre Richtung. Ihre Beinmuskeln spannten sich an, bis sie zu zittern begannen.

Das Huhn machte einen Schritt zurück, straffte den Körper und spritzte Juni Kot ins Gesicht.

Dabei stieß es ein Gackern aus, das wie Lachen klang.

Sie wünschte sich von ganzem Herzen, sich einreden zu können, sie sei albern und bilde sich bloß irgend etwas ein.

Aber sie wußte es besser.

Ebenso wie ihre Kraft bei der Zerstörung dieses Wesens wirkungslos wäre, so spürte sie auch, daß ihre scheinbare Größe und Stärke gegen dieses Etwas machtlos waren. Weit besser war es, entschied sie, sich einfach aus dem Staub zu machen.

Sie wünschte sich nichts sehnlicher als das: zu verschwinden.

Ein fetter brauner Käfer krabbelte ihren Arm hinauf. Als sie ihn herunterschlug, entfuhr ihr ein halb verschluckter Schrei. Schlurfend machte sie einen Schritt in Richtung Tür.

Das Huhn sprang von Juni herunter und landete vor der Tür.

Während das Huhn unablässig gackerte, versuchte Kahlan panikartig nachzudenken. Es pickte den Käfer auf, den Kahlan von ihrem Arm heruntergewischt hatte. Als es den Käfer hinuntergeschlungen hatte, drehte es sich um und blickte sie, den Kopf mal hier-, mal dorthin neigend, mit zitternden Kehllappen von unten herauf an.

Kahlan musterte die Tür. Sie versuchte zu überlegen, wie sie am besten nach draußen gelangen konnte. Sollte sie das Huhn mit einem Fußtritt aus dem Weg räumen? Sollte sie versuchen, es von der Tür zu verscheuchen? Sollte sie es ignorieren und einfach an ihm vorbeigehen?

Sie mußte daran denken, was Richard gesagt hatte. »Juni hat auf die Ehre dessen gespien, der dieses Huhn getötet hat. Kurz darauf ist Juni gestorben. Ich habe mit einem Stock nach dem Huhn im Fester geworfen, und kurz darauf hat es den kleinen Jungen angegriffen. Es war meine Schuld, daß Ungi von Krallen zerkratzt wurde. Ich möchte denselben Fehler nicht noch einmal machen.«

Sie wollte diesen Fehler ebensowenig wiederholen. Womöglich flog ihr dieses Etwas ins Gesicht, kratzte ihr die Augen aus, riß ihr mit seinen Sporen die Schlagader seitlich am Hals auf oder ließ sie verbluten. Wer wußte schon, wie kräftig es in Wirklichkeit war, zu was es tatsächlich fähig sein mochte?

Richard hatte mit Nachdruck darauf bestanden, daß alle sich den Hühnern gegenüber höflich verhielten. Plötzlich hing Kahlans Leben von Richards Worten ab. Eben noch hatte sie sie für töricht gehalten, jetzt wog sie aufgrund von Richards Worten ihre Möglichkeiten ab und traf ihre Entscheidungen.

»O Richard«, flehte sie leise, »verzeih mir.«

Dann spürte sie etwas auf ihren Zehen. In dem trüben Licht reichte ein schneller Blick nicht, um sich Gewißheit zu verschaffen, sie glaubte jedoch, Käfer über ihre Füße krabbeln zu sehen. Sie fühlte, wie ihr einer mit winzigen Bewegungen am Knöchel hoch und unter das Hosenbein huschte. Sie stapfte mit dem Fuß auf, der Käfer hielt fest.

Sie bückte sich, um auf das Biest unter ihrem Hosenbein einzudreschen, doch sie schlug zu fest zu und zerquetschte es auf ihrer Haut.

Mit einer hektischen Bewegung richtete sie sich auf und schlug blind nach den Biestern, die mittlerweile auch in ihrem Haar herumkrabbelten. Als ihr ein Tausendfüßler in den Handrücken biß, entfuhr ihr ein spitzer Schrei, sie schüttelte ihn ab. Als er auf den Boden fiel, pickte das Huhn ihn auf und schlang ihn hinunter.

Plötzlich sprang das Huhn mit einem einzigen Flügelschlag zurück auf Juni. Seine Krallen arbeiteten in zügelloser Unmäßigkeit, während es sich langsam auf der Leiche drehte und sie ansah, sie eiskalt und interessiert aus einem schwarzen Auge betrachtete. Kahlan schob einen Fuß in Richtung Tür.

»Mutter…«, krächzte das Huhn.

Kahlan zuckte zusammen und schrie auf.

Sie versuchte ihren Atem zu beruhigen; ihr Herz pochte so heftig, daß sie das Gefühl hatte, ihr Hals schwelle an. Als sie hinter sich nach der rauhen Plattform tastete, schürfte sie sich das Fleisch von den Fingern.

Ganz sicher hatte es nur einen Laut von sich gegeben, der wie das Wort ›Mutter‹ klang. Sie war die Mutter Konfessor und daran gewöhnt, das Wort ›Mutter‹ zu hören. Wahrscheinlich hatte sie einfach Angst und sich das alles nur eingebildet.

Der nächste Schrei entfuhr ihr, als ihr etwas in den Knöchel biß. Während sie auf einen Käfer eindrosch, der ihr in einen Ärmel krabbelte, stieß sie versehentlich die Kerze zu Boden; sie landete mit leisem Klirren auf der Erde.

Im Nu versank der Raum in tiefster Dunkelheit.

Sie wirbelte herum und versuchte wie von Sinnen etwas herunterzuschubsen, das sich zwischen ihren Schulterblättern in ihr Haar hinaufschlängelte. Nach dem Gewicht und dem Quieken zu urteilen, mußte es sich um eine Maus handeln; gnädigerweise wurde sie durch ihr Winden und Drehen heruntergeschleudert.

Kahlan erstarrte. Sie horchte, ob das Huhn sich von der Stelle gerührt hatte, ob es auf den Lehmboden gesprungen war. Bis auf das schnelle Rauschen des Pulses in ihren Ohren war es jedoch totenstill im Raum.

Sie begann Richtung Tür zu schleichen; während sie sich durch das faulige Stroh tastete, wünschte sie sich, sie hätte ihre Stiefel angezogen. Der Gestank raubte ihr fast den Atem, und sie zweifelte, ob sie sich jemals wieder sauber fühlen würde. Doch das war egal, solange sie nur lebend hier herauskam.

Das Hühnerwesen gab im Dunkeln ein leises, gackerndes Hühnerlachen von sich.

Es kam nicht von der Stelle, wo sie das Huhn vermutet hatte, plötzlich befand es sich hinter ihr.

»Bitte, ich habe nichts Böses im Sinn«, rief sie in die Dunkelheit. »Ich will nicht respektlos sein. Wenn du einverstanden bist, überlasse ich dich jetzt deinen Angelegenheiten.«

Sie machte einen weiteren schlurfenden Schritt in Richtung Tür und bewegte sich dabei vorsichtig, langsam, für den Fall, daß das Huhn ihr im Weg hockte. Sie wollte es nicht anstoßen und seinen Zorn wecken; auf keinen Fall durfte sie es unterschätzen.

Unzählige Male hatte Kahlan sich voller Ungestüm scheinbar unbesiegbaren Feinden entgegengeworfen. Sie war sich der Wirkung eines entschiedenen, brutalen Angriffs durchaus bewußt, irgendwie war ihr aber auch jenseits allen Zweifels klar, daß dieser Gegner sie, wenn er wollte, ebenso mühelos töten konnte, wie sie einem Huhn den Hals umzudrehen vermochte. Wenn sie auf einen Kampf drängte, würde sie ihn womöglich verlieren.

Sie stieß mit der Schulter gegen die Mauer. Blind nach der Tür tastend, ließ sie eine Hand über die verputzten Schlammziegel gleiten. Sie war nicht da. Sie tastete die Wand in alle Richtungen ab. Da war keine Tür.

Verrückt! Sie war durch die Tür hereingekommen, also mußte es eine Tür geben. Das hühnerähnliche Etwas gab ein leises Gackern von sich.

Schniefend unterdrückte Kahlan ihre Tränen der Angst, drehte sich um und preßte ihren Rücken gegen die Wand. Bestimmt hatte sie beim Herunterschleudern der Maus durch die Drehung die Orientierung verloren. Sie hatte sich gedreht, das war alles. Die Tür hatte sich nicht von der Stelle gerührt.

Aber in welcher Richtung lag dann die Tür?

Die Augen so weit wie möglich aufgerissen, versuchte sie in der undurchdringlichen Dunkelheit etwas zu erkennen. Ein neuer Schrecken fraß sich bohrend in ihre Gedanken: Was, wenn das Huhn ihr die Augen auspickte? Was, wenn es gerade das besonders gerne tat? Einem die Augen auspicken.

Sie vernahm ihr eigenes, von panischer Angst erfülltes Schluchzen. Regen sickerte durch das Grasdach; als es ihr auf den Kopf tropfte, zuckte sie zusammen. Wieder blitzte es. Kahlan sah, wie die Helligkeit durch die Wand zu ihrer Linken drang. Dort war die Tür! Licht drang an den Seiten der Tür herein. Plötzlich donnerte es scheppernd.

Wie von Sinnen rannte sie zur Tür. In der Dunkelheit stieß sie mit der Hüfte gegen den Rand einer Plattform, an der gemauerten Ecke schrammte sie sich die Zehen auf. Reflexartig griff sie nach dem stechenden Schmerz. Auf ihrem anderen Fuß hüpfend, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, trat sie auf einen harten Gegenstand. Ein glühendheißer Schmerz durchzog brennend ihren Fuß. Sie versuchte, sich irgendwo festzuhalten, und schreckte zurück, als sie die steife, kleine Leiche unter ihrer Hand spürte. Krachend schlug sie hin.

Leise fluchend stellte sie fest, daß sie auf den heißen Kerzenhalter getreten war. Sie hatte sich nicht wirklich daran verbrannt, sondern sich in ihrer panischen Angst eingebildet, heißes Metall versenge sie. Allerdings blutete ihr anderer Fuß vom Tritt gegen die Ziegel.

Kahlan atmete tief durch. Sie durfte auf keinen Fall in Panik geraten, ermahnte sie sich, oder sie wäre nicht mehr imstande, sich selber zu helfen. Niemand sonst konnte sie hier rausholen. Sie durfte nicht den Verstand verlieren und mußte die Nerven behalten, wenn sie aus dem Haus für die Toten entkommen wollte.

Noch einmal holte sie Luft. Sie brauchte nur die Tür zu erreichen, dann konnte sie das Haus verlassen und wäre in Sicherheit.

Sich Zoll um Zoll auf dem Bauch vorwärts schiebend, tastete sie den Lehmboden ab. Das Stroh war feucht, ob vom Regen oder von den ekelhaften Flüssigkeiten, die von den Plattformen herunterliefen, vermochte sie nicht zu sagen. Die Schlammenschen hatten Achtung vor den Toten, redete sie sich ein. Sie würden hier kein verschmutztes Stroh liegen lassen, es war bestimmt sauber. Nur warum stank es dann so?

Dank einer übermenschlichen Willensanstrengung gelang es Kahlan, die über sie hinweghuschenden Käfer nicht zu beachten. Als ihre Konzentration, die Ruhe zu bewahren, abzuschweifen begann, vernahm sie ein schwaches Wimmern, das aus ihrer eigenen Kehle stammte. Das Gesicht an den Boden gedrückt, sah sie den nächsten Blitz unter der Tür aufleuchten. Es war nicht mehr weit.

Sie wußte nicht, wohin das Huhn verschwunden war. Stumm betete sie, es möge zu Juni zurückgekehrt sein, um ihm die Augen auszupicken.

Beim nächsten Blitz erkannte sie jedoch, daß das Huhn zwischen ihr und dem Spalt unter der Tür stand. Das Biest war kaum mehr als einen Fuß von ihrem Gesicht entfernt!

Ganz langsam schob Kahlan ihre zitternde, hohle Hand vor die Stirn, um die Augen zu bedecken. Sie wußte, jeden Augenblick konnte das Hühnermonster ihr wie Juni die Augen auspicken; allein die bildhafte Vorstellung ließ sie aufstöhnen, die Vorstellung von Blut, das aus ihren leeren, von ausgefransten Rändern umsäumten Augenhöhlen strömte.

Sie würde erblinden, hilflos sein, nie wieder sehen, wie Richard sie aus seinen grauen Augen anlächelte.

Ein Käfer hatte sich in ihrem Haar verfangen und versuchte, sich zappelnd aus dem Gewirr zu befreien. Kahlan streifte ihn mit der Hand, ohne ihn herunterzubekommen.

Plötzlich hackte etwas gegen ihren Kopf, und sie stieß einen Schrei aus. Der Käfer war verschwunden; das Huhn hatte ihn ihr vom Kopf gepickt; ihre Kopfhaut brannte nach dem kräftigen Hieb.

»Danke«, zwang sie sich zu dem Huhn zu sagen. »Vielen Dank. Ich weiß das sehr zu schätzen.«

Sie kreischte, als der Schnabel erneut zustieß und sie am Arm erwischte. Der Grund war ein Käfer. Das Huhn hatte nicht sie in den Arm gepickt, sondern einen Käfer verschlungen.

»Tut mir leid, daß ich geschrien habe«, stammelte sie, und ihre Stimme bebte. »Du hast mich erschreckt, das ist alles. Nochmals vielen Dank.«

Der Schnabel erwischte sie heftig an der Schädeloberseite, diesmal saß dort allerdings kein Käfer. Kahlan wußte nicht, ob das Huhn geglaubt hatte, dort säße ein weiteres Opfer, oder ob es sie absichtlich hatte in den Kopf picken wollen. Das Brennen war überaus unangenehm.

Sie schob ihre Hand wieder vor die Augen. »Bitte, tu das nicht. Es tut weh.«

Der Schnabel packte die Vene auf dem Rücken der vor ihren Augen liegenden Hand. Das Huhn zerrte daran, als wollte es einen Wurm aus dem Boden ziehen.

Es war ein Befehl: Sie sollte die Hand von den Augen nehmen.

Der Schnabel zupfte einmal heftig an ihrer Haut, die Bedeutung des beharrlichen Gezerres war unmißverständlich. Nimm die Hand fort, jetzt sofort, besagte es, oder es wird dir leid tun.

Niemand wußte, zu was das Huhn fähig wäre, wenn sie es verärgerte. Über ihr lag Juni, tot – und warnte sie vor dem, was möglich war.

Wenn es ihr tatsächlich die Augen auspickte, redete sie sich ein, bliebe ihr nichts anderes übrig, als es zu packen und ihm den Hals umzudrehen. Wenn sie schnell war, konnte es vielleicht nur ein einziges Mal zupicken, dann bliebe ihr wenigstens noch ein Auge. Anschließend würde sie mit ihm kämpfen müssen, jedoch nur, wenn das Huhn es auf ihre Augen abgesehen hatte.

Instinktiv wußte sie, daß ein solches Vorgehen das Törichtste, Gefährlichste wäre, was sie tun konnte. Sowohl der Vogelmann als auch Richard hatten behauptet, dies sei kein Huhn. Sie zweifelte längst nicht mehr daran, aber womöglich blieb ihr keine Wahl.

Wenn sie anfinge, käme es zu einem Kampf auf Leben und Tod. Was ihre Chancen anbetraf, gab sie sich keinen Illusionen hin. Trotzdem, vielleicht würde sie gezwungen sein, mit ihm zu kämpfen. Bis zum letzten Atemzug, wenn es sein mußte, so wie ihr Vater es ihr beigebracht hatte.

Zusammen mit der Ader packte das Huhn ein größeres Stück Haut mit dem Schnabel und drehte daran. Eine letzte Warnung.

Vorsichtig nahm Kahlan ihre Hand fort. Das Hühnerwesen gab ein leises, zufriedenes Gackern von sich.

Wieder blitzte es, doch hätte sie kein Licht gebraucht, um zu erkennen, daß das Huhn nur wenige Zoll entfernt war. So nah, daß sie seinen Atem spürte.

»Bitte tu mir nicht weh.«

Ein Donner krachte, so laut, daß es schmerzte. Das Huhn kreischte und wirbelte herum.

Da erkannte sie, daß es gar kein Donner war, sondern die Tür, die aufgestoßen wurde.

»Kahlan!« Es war Richard. »Wo steckst du?«

Sie sprang auf. »Richard! Sieh dich vor! Es ist das Huhn! Das Huhn ist hier!«

Richard versuchte es zu packen, doch das Huhn schoß zwischen seinen Beinen hindurch und zur Tür hinaus.

Kahlan wollte ihm die Arme um den Hals schlingen, doch er stieß sie zurück und riß einem der draußen stehenden Jäger den Bogen von der Schulter. Bevor der Jäger vor dem überraschenden Ausfall zurückweichen konnte, hatte Richard bereits einen Pfeil aus dem über der Schulter des Mannes hängenden Köcher gezogen. Im nächsten Augenblick war der Pfeil eingelegt und die Sehne bis zur Wange zurückgezogen.

Das Huhn flitzte wie von Sinnen durch den Schlamm, den Durchgang entlang. Die unablässigen Blitze schienen das Huhn mitten im Schritt erstarren zu lassen, jeder Blitz ließ es bei eindrucksvoller Beleuchtung sichtbar werden, und mit jedem Aufblitzen war es weiter entfernt.

Unter dem Schwirren der Bogensehne verschwand der Pfeil sirrend in der Nacht.

Kahlan hörte, wie die stahlbeschlagene Pfeilspitze mit sattem Geräusch traf.

In der gleißenden Helligkeit sah sie, wie das Huhn sich umdrehte und sie anglotzte. Der Pfeil hatte es genau in den Hinterkopf getroffen, die vordere Hälfte des Pfeils ragte zwischen seinen auseinanderklaffenden Schnabelhälften hervor.

Blut rann am Schaft entlang und tropfte von der Pfeilspitze herab. Es tröpfelte in die Pfützen und verklebte die Halsfedern des Vogels.

Der Jäger gab einen leisen Pfiff der Bewunderung über diesen Schuß von sich.

Die Nacht versank in Dunkelheit, während ein Donner rollte und dröhnte. Beim nächsten Blitz konnte man erkennen, wie das Huhn um eine Ecke flitzte.

Kahlan folgte Richard, der hinter dem fliehenden Vogel herrannte. Der Jäger reichte Richard im Laufen den nächsten Pfeil, Richard legte ihn ein, spannte die Sehne und hielt den Bogen schußbereit, als sie um eine weitere Ecke hasteten.

Alle drei bremsten ab und blieben stehen. Dort im Schlamm, mitten im Durchgang, lag der blutverschmierte Pfeil. Das Huhn war nirgendwo zu sehen.

»Richard«, keuchte Kahlan, »jetzt glaube ich dir.«

»Das dachte ich mir«, erwiderte er.

Von hinten vernahmen sie einen lauten, dumpfen Knall.

Die Köpfe um die Ecke steckend, mußten sie mit ansehen, wie das Dach des Hauses, in dem die Toten präpariert wurden, in Flammen aufging. Durch die offenstehende Tür sah Kahlan, daß der Strohfußboden in Flammen stand.

»Ich hatte eine Kerze dabei. Sie ist ins Stroh gefallen, aber dabei ist die Flamme ausgegangen«, meinte Kahlan. »Ich bin ganz sicher, sie war aus.«

»Vielleicht war es ein Blitz«, meinte Richard, während er zusah, wie die Flammen in den Himmel schlugen.

Der grelle Lichtschein ließ die umstehenden Gebäude im Spiel der Flammen schwanken und tanzen. Trotz der Entfernung konnte Kahlan die wütende Hitze auf dem Gesicht spüren. Brennendes Gras und Funken stoben wirbelnd in die Nacht.

Die Jäger, die sie beschützen sollten, tauchten aus dem Regen auf und scharten sich um sie. Der Besitzer des Pfeils reichte diesen an seine Gefährten weiter, während er ihnen leise tuschelnd erklärte, Richard mit dem Zorn habe auf die böse Seele geschossen und sie verjagt.

Zwei weitere Personen traten aus dem Schatten hinter der Ecke eines Gebäudes hervor und besahen sich die lodernden Flammen, bevor sie sich zu ihnen gesellten. Zedd, dessen widerspenstiges Haar im Widerschein des Feuers orangefarben leuchtete, streckte seine Hand aus. Einer der Jäger legte ihm den blutverschmierten Pfeil hinein, und Zedd unterzog den Pfeil einer kurzen Untersuchung, bevor er ihn an Ann weitergab. Sie rollte ihn zwischen den Fingern und seufzte, als verrate er ihr seine Geschichte und bestätige ihre Befürchtungen.

»Es handelt sich um die in den Grußformeln genannten Chimären«, sagte Richard. »Sie sind hier. Glaubst du mir jetzt?«

»Ich habe es gesehen, Zedd. Es hat gesprochen. Es hat mich angesprochen – mit dem Titel ›Mutter Konfessor‹.«

Die tanzenden Flammen spiegelten sich in seinen ernsten Augen.

»In gewisser Hinsicht hast du recht, mein Junge. Es handelt sich tatsächlich um Schwierigkeiten der übelsten Sorte, aber die in den Grußformeln genannten Chimären sind es nicht.«

»Zedd«, wiederholte Kahlan beharrlich und deutete nach hinten auf das brennende Gebäude, »ich sage dir doch, es war…«

Sie verstummte, als Zedd die Hand ausstreckte und eine gestreifte Feder aus ihrem Haar zog. Er hielt die Feder, sie langsam zwischen Daumen und Zeigefinger drehend, in die Höhe. Sie verwandelte sich vor ihren Augen in Rauch und verdampfte in die Nacht.

»Es war ein Lauer«, murmelte der Zauberer.

»Ein Lauer?« fragte Richard stirnrunzelnd. »Was in aller Welt ist ein Lauer? Und woher willst du das wissen?«

»Ann und ich haben Prüfungsbanne ausgesprochen«, erklärte der alte Zauberer. »Du hast uns den Beweis erbracht, den wir brauchten, um sicher zu sein. Der winzige Überrest von Magie auf diesem Pfeil bestätigt unseren Verdacht. Wir stecken in großen Schwierigkeiten.«

»Er wurde herbeigerufen von denen, die dem Hüter verpflichtet sind«, meinte Ann. »Von denen, die imstande sind, Subtraktive Magie zu benutzen: den Schwestern der Finsternis.«

»Jagang«, meinte Richard leise. »Er hat Schwestern der Finsternis in seiner Gewalt.«

Ann nickte. »Das letzte Mal schickte Jagang einen Zauberer als gedungenen Mörder, du hast allerdings überlebt. Jetzt schickt er dir etwas weitaus Tödlicheres.«

Zedd legte Richard eine Hand auf die Schulter. »Deine Beharrlichkeit war richtig, nicht aber deine Schlußfolgerung. Ann und ich sind zuversichtlich, daß wir den Zauber zerlegen können, der ihn hergeführt hat. Versuch dir keine Sorgen zu machen. Wir werden uns darum kümmern und eine Lösung finden.«

»Du hast immer noch nicht erklärt, was dieses Wesen, dieser Lauer, ist. Was bezweckt er? Weswegen hat man ihn hergeschickt?«

Ann warf Zedd einen Blick zu, bevor sie sprach. »Er wird aus der Unterwelt heraufbeschworen«, erklärte sie. »Mittels Subtraktiver Magie. Er hat die Aufgabe, die Magie in dieser Welt zu stören.«

»Genau wie die Chimären aus den Grußformeln«, flüsterte Kahlan erschrocken.

»Es ist ernst«, gab Zedd ihr recht, »aber nicht zu vergleichen mit den Chimären. Ann und ich sind wohl kaum Neulinge und selber auch nicht ganz ohne Möglichkeiten.

Dank Richard ist der Lauer fürs erste wieder verschwunden. Wenn man ihn bloßstellt und erkennt, um was es sich handelt, kehrt er so schnell nicht wieder zurück. Geht und schlaft ein wenig. Jagang ist ungeschickt vorgegangen, und sein Lauer hat sich verraten, bevor er größeren Schaden anrichten konnte.«

Richard sah über seine Schulter in das prasselnde Feuer, als dächte er über etwas nach. »Aber wie sollte Jagang…«

»Ann und ich brauchen ein wenig Ruhe, um genau klären zu können, was Jagang getan hat und wie wir dem begegnen können. Die Sache ist verwickelt. Laßt uns tun, was wir tun müssen.«

Schließlich legte Richard aufmunternd einen Arm um Kahlans Hüfte, zog sie an sich und nickte seinem Großvater zu. Im Vorübergehen griff Richard in einer freundlichen Geste nach Zedds Schulter, bevor er Kahlan zum Seelenhaus begleitete.

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