Der stämmige Soldat versetzte ihr mit der Stiefelseite einen Tritt in den Hintern. Sie hatte ihm, als er ansetzte, schnell ausweichen wollen, war aber nicht flink genug gewesen. Fest presste sie die Lippen gegen den stechenden Schmerz aufeinander.
Hätte wenigstens die Kraft ihrer Gabe funktioniert, dann hätte sie ihm gezeigt, wo es langgeht. Sie spielte mit dem Gedanken, ihren Stock zu benutzen, doch dann erinnerte sie sich an ihren Plan und verzichtete erst einmal darauf, Gerechtigkeit zu üben.
Mit ihren drei Kupfermünzen in ihrer Blechtasse rasselnd, zog Annalina Aldurren, vormals Prälatin der Schwestern des Lichts und für mehr als drei Viertel eines Jahrtausends die mächtigste Frau der Alten Welt, weiter, um die Soldaten am nächsten Lagerfeuer anzubetteln.
Wie die meisten Soldaten zeigte sich die nächste Gruppe, auf die sie bei ihrem Zug durch das Lager stieß, anfänglich interessiert, da sie sie für eine Hure hielten. Ihr Verlangen nach weiblicher Gesellschaft ebbte allerdings rasch ab, als sie in den Kreis des Feuerscheins trat und ihnen ein breites, lückenhaftes Grinsen zeigte – oder zumindest, dank der Hilfe von ein wenig fettigem Ruß auf ein paar ausgewählten Zähnen, die Nachahmung eines solchen.
Tatsächlich wirkte alles zusammen recht überzeugend: die Lumpen, die sie in mehreren Lagen über ihr Kleid gestreift hatte, das dreckverschmierte, um den Kopf gewickelte Tuch – damit niemand auf den Gedanken kam, er könnte ihr lückenhaftes Feixen übersehen – und der Gehstock. Am unangenehmsten war der Stock; durch das Vortäuschen eines schlimmen Rückens war sie im Begriff, sich tatsächlich einen einzuhandeln.
Zweimal hatten Soldaten es sich in den Kopf gesetzt, ihre Unzulänglichkeiten angesichts des Frauenmangels ignorieren zu können. Zwar waren sie auf ihre wilde, brutale Art recht gut aussehend, sie hatte ihr Ansinnen dennoch höflich abgelehnt. Das Abweisen derart hartnäckiger Annäherungsversuche war nicht ganz ohne Blutvergießen abgegangen. Zum Glück fiel es im Durcheinander des Lagerlebens niemandem auf, wenn ein Mann ganz plötzlich mit aufgeschlitzter Kehle verschied. Ein solcher Tod warf bei Männern wie denen der Imperialen Ordnung nicht mal Fragen auf.
Ann tötete nur mit größtem Widerwillen. In Anbetracht des Einsatzauftrages dieser Soldaten und der Zwecke, für die diese sie missbraucht hätten, bevor sie sie töteten, war ihr Widerwille allerdings nicht unüberwindbar.
Genau wie die Soldaten, die sich essend und Geschichten erzählend um das nächste Feuer scharten, dachte sich niemand etwas dabei, wenn sie durch ihre Reihen wanderte. Die meisten warfen ihr einen interessierten Blick zu, um sich dann aber wieder rasch ihrem Eintopf und dem harten Lagerbrot zuzuwenden, das sie mit Bier und unflätigen Geschichten hinunterspülten. Bettler entlockten ihnen kaum mehr als ein abfälliges Grunzen, das sie weiterscheuchen sollte.
Bei einer Armee dieser Größe entstand eine regelrechte Marketenderkultur. Kaufleute reisten auf ihren eigenen Karren mit oder teilten sich einen mit anderen. Sie folgten im Kielwasser der Armee und boten eine Vielzahl von Diensten an, die von der Imperialen Ordnung nicht bereitgestellt wurden. Sogar einen Künstler hatte Ann gesehen, der emsig Porträts von stolzen Offizieren auf einem erfolgreichen Feldzug zeichnete. Wie jeder Künstler mit dem Wunsch nach gesicherter Anstellung und vollständiger Fingerzahl benutzte er sein Talent, um seine Kundschaft in ein denkbar vorteilhaftes Licht zu rücken, indem er sie mit wissendem Blick und freundlichem Lächeln darstellte – oder auch einem alles erobernden finsteren Blick, je nach Geschmack des Mannes.
Fahrende Händler verkauften alles, von Fleisch und Gemüse bis hin zu seltenen Früchten aus der fernen Heimat – selbst Ann hungerte nach solchen saftigen Erinnerungen an die Alte Welt. Das Geschäft mit Glücksbringern lief glänzend. Sagte einem Soldat die von der Imperialen Ordnung bereitgestellte Verköstigung nicht zu und hatte er Geld, dann gab es Leute, die ihm nahezu alles zubereiteten, was das Herz begehrte. Spieler, Straßenhändler, Huren und Bettler umschwirrten diese gewaltige Armee wie ein Schwarm Mücken.
Als Bettlerin verkleidet, war es für Ann ein Leichtes, durch das Lager der Imperialen Ordnung zu schlendern und sich nach Belieben umzusehen. Der einzige Preis war ein gelegentlicher Tritt in den Hintern. Eine Armee von diesen Ausmaßen zu durchkämmen, blieb trotzdem ein gewaltiges Unterfangen. Seit nahezu einer Woche war sie jetzt damit beschäftigt; sie war bis auf die Knochen müde und wurde zunehmend ungeduldig.
Während dieser einen Woche hätte sie ganz gut von dem leben können, was sie in ihrer Maskerade als Bettlerin zusammengeschnorrt hatte – vorausgesetzt, sie hatte nichts dagegen, madenverseuchtes, angegammeltes Fleisch und fauliges Gemüse zu verspeisen. Sie nahm solche Spenden dankend entgegen, nur um sie, sobald sie außer Sicht war, fortzuschütten. Die Soldaten machten sich einen grausamen Spaß daraus, ihr die Abfälle zu geben, die sie ohnehin hatten wegwerfen wollen. Unter den Bettlern gab es trotzdem einige, die sie kräftig salzten und pfefferten und dann aßen.
Jeden Tag, sobald es zu spät wurde, um weiterzusuchen, kehrte sie zu den Marketendern zurück und gab selbst ein wenig ihres Geldes für eine anspruchslose, aber etwas gesündere Mahlzeit aus. Alle nahmen an, sie verdiene sich den dürftigen Betrag mit ihrer Bettelei. Um der Wahrheit gerecht zu werden: Sie beherrschte das Geschäft des Bettelns nicht gerade gut, denn ein Geschäft war es. Einige der Bettler, die Mitleid mit ihr bekamen, sobald sie sie agieren sahen, versuchten ihre Technik zu verbessern.
Ann ließ solche Ablenkungen über sich ergehen, damit niemand dahinterkam, dass sie mehr war, als sie nach außen durchblicken ließ. Einige der Bettler konnten sich auf diese Weise ganz ordentlich durchschlagen. Es galt als Zeichen ihres Könnens, Männern wie diesen eine Münze abzuluchsen.
Sie wusste, dass eine grausame Fügung des Schicksals die Menschen gelegentlich gegen ihren Willen zu hilflosen Bettlern machte. Aus jahrhundertelanger Erfahrung, diesen Menschen zu helfen, wusste sie aber auch, dass Bettler zäh am Leben hingen.
Ann traute niemandem im Lager und den Bettlern am allerwenigsten; sie waren noch gefährlicher als die Soldaten. Soldaten waren, was sie waren, sie spielten niemandem etwas vor. Wenn sie einen nicht in ihrer Nähe wollten, befahlen sie einem zu verschwinden, oder man bekam einen Tritt. Einige zückten einfach nur warnend eine Klinge. Wenn sie einen verletzen oder töten wollten, dann ließen sie an ihrer Absicht keinen Zweifel.
Bettler dagegen lebten ein Leben voller Lügen. Sie logen vom Augenblick an, da sie des Morgens die Augen aufschlugen, bis sie schließlich dem Schöpfer in ihrem Gutenachtgebet eine letzte Unwahrheit auftischten.
Von allen missratenen Geschöpfen des Schöpfers mochte Ann die Lügner am wenigsten – sowie jene, die ihre Hoffnung und ihre Sicherheit immer wieder in die Hände dieser Lügner legten. Lügner waren die Schakale der Schöpfung. Täuschung für einen edlen Zweck war zwar bedauerlich, manchmal aber im Interesse eines höheren Zieles nicht zu vermeiden. Lügen aus Eigennutz dagegen bildeten ebenjenen Humus aus Unmoral, aus dem die Ranken des Bösen sprossen.
Wer Männern traute, die eine Neigung zum Lügen an den Tag legten, bewies, was für ein Narr er war, und solche Narren waren für den Lügner nichts weiter als der Staub unter seinen Stiefeln – nur dazu da, um draufzutreten.
Ann wusste, dass Lügner ebenso wie sie Kinder des Schöpfers waren und sie ihnen pflichtgemäß mit Geduld und Nachsicht begegnen müsste, doch dazu war sie außerstande. Sie konnte Lügner einfach nicht ausstehen, mehr gab es dazu nicht zu sagen. Sie hatte sich mit der Tatsache abgefunden, dass sie in einem späteren Leben dafür würde bezahlen müssen.
Die Bettelei erwies sich als zeitraubend. Um so schnell wie möglich voranzukommen, versuchte Ann daher, sich auf das Allernötigste zu beschränken. Jeden Abend geriet das Lager aufs Neue völlig durcheinander, weshalb auf die Erkenntnisse aus vorangegangenen Streifzügen kein Verlass war, also beschloss sie, so viel wie möglich aus jedem Beutezug zu machen. Glücklicherweise neigten die Soldaten aufgrund der ungeheuren Ausgedehntheit der Armee dazu, in etwa die gleiche Reihenfolge einzuhalten – ganz ähnlich einem Zug von Lastkarren, der entlang der Straße für die Nacht Halt macht.
Nach dem Aufbruch der Spitze des Trosses dauerte es morgens weit über eine Stunde, bis sich der hinterste Teil in Bewegung setzte. Abends war der Kopf bereits mit dem Zubereiten des Abendessens beschäftigt, lange bevor die Nachhut Halt machte. Man kam jeden Tag nicht sehr weit voran, dennoch war der Vormarsch unaufhaltsam.
Nicht nur ihre Absicht, auch ihre Marschrichtung beunruhigte Ann. Die Imperiale Ordnung hatte sich vor einiger Zeit unten bei Grafan Harbour in der Alten Welt gesammelt. Als sie sich schließlich in Bewegung setzte, war sie von der Küste dort in die Neue Welt eingedrungen, dabei aber der Küste gefolgt, zunächst nach Westen bis hin zu jener Stelle, wo Ann überraschend auf sie gestoßen war.
Ann war keine Militärtaktikerin, aber das Auftauchen der Imperialen Ordnung an dieser Stelle war ihr sofort seltsam erschienen. Sie hatte angenommen, die Truppen würden in nördlicher Richtung in die Neue Welt vordringen. Dass sie sich auf einem solchen, scheinbar sinnlosen Kurs bewegten, sagte ihr, sie mussten einen guten Grund dafür haben. Jagang tat nichts ohne Grund; er war zwar grausam, überheblich und dreist, aber unbesonnen war er nicht.
Jagang war geübt in der feinen Kunst der Geduld.
Die Völker der Alten Welt hatten immer schon eine alles andere als homogene Gesellschaft gebildet, schließlich hatte Ann sie mehr als neun Jahrhunderte beobachtet. Sie empfand es als Nachsicht, wenn jemand sie lediglich als grundverschieden, zänkisch und eigensinnig bezeichnete. Niemals hatte es in der Alten Welt auch nur zwei Regionen gegeben, die sich auf die einfachsten Dinge hätten einigen können.
In den beinahe zwanzig Jahren, in denen sie ihn beobachtete, hatte Jagang die scheinbar Unregierbaren zu einer Gesellschaft vereinigt, in der man zusammenhielt. Dass sie brutal war, korrupt und von Ungleichheit geprägt, war eine ganz andere Geschichte. Er hatte sie geeint und dadurch eine Macht von noch nie dagewesenem Ausmaß geschaffen.
Was immer die Eltern gewesen sein mochten – unabhängig und loyal gegenüber ihrem kleinen Platz in der Welt –, die Kinder waren es nicht mehr. Ein großer Prozentsatz der Truppen und des Befehlsstabes der Imperialen Ordnung waren zum Zeitpunkt der Machtergreifung der Imperialen Ordnung noch kleine Kinder oder Jugendliche gewesen. Sie waren unter der Herrschaft Jagangs aufgewachsen, glaubten wie alle Kinder, was ihre Führer ihnen beibrachten, und hatten deren Werte und Sitten übernommen.
Die Schwestern des Lichts dagegen waren höheren Zielen als den Geschäften des Regierens verpflichtet. Ann hatte gewählte Regierungen, Könige und andere Herrscher kommen und gehen sehen. Der Palast der Propheten und die Schwestern, die unter demselben Bann aus grauer Vorzeit standen, der ihren Alterungsprozess dramatisch verlangsamte, hatten stets überdauert. Obgleich sie und ihre Schwestern dafür arbeiteten, der Menschen bessere Natur ans Licht zu bringen, lag ihre Berufung auf dem Gebiet der Gabe, nicht der Herrschaft.
Nichtsdestoweniger hielt sie ein Auge auf die Herrscher, damit diese nicht in das Geschenk des Schöpfers eingriffen. Jagang hatte sich kürzlich der Vernichtung aller Magie verschrieben und damit die Befugnis seiner Regierungsgeschäfte überschritten. Sein Regime hatte für Ann eine ausschlaggebende Bedeutung gewonnen. Jetzt rückte er im Bestreben, die Magie auszulöschen, in die Neue Welt vor.
Im Laufe der Jahre hatte Ann beobachtet, dass Jagang, wann immer er sich ein neues Land oder Königreich einverleibte, sich dort noch häuslich einrichtete, während er bereits begann, seine Fühler nach dem nächsten und übernächsten auszustrecken. Gewöhnlich stieß er damit auf offene Ohren und überredete die Bevölkerung in der Maske der Tugend mit verlockenden Versprechungen von saftigen Stücken der zukünftigen Beute, ihre eigenen Verteidigungsanlagen zu schwächen: um des lieben Friedens willen.
Disziplin und Verteidigungsanlagen mancher Länder waren von innen heraus bereits so ausgehöhlt, dass man Jagang dort mit offenen Armen empfing, statt zu wagen, ihm Widerstand entgegenzusetzen. Die Fundamente einiger ehemals starker Länder waren von den Termiten verminderter Entschlossenheit so zerfressen, so zerfetzt von der Dekadenz selbstgefälliger Mäßigung und so ausgemergelt vom Lavieren derer, die um jeden Preis Frieden wollten, dass sie, selbst wenn sie den Feind kommen sahen und tatsächlich Widerstand leisteten, auf den leisesten Druck der Imperialen Ordnung hin umfielen.
Wegen der unerwarteten Richtung, die die Imperiale Ordnung nach Westen einschlug, machte sich bei Ann eine gewisse Besorgnis breit, Jagang könnte das Unvorstellbare getan und Boten in geheimer Mission auf Segelschiffen um die Große Barriere entsandt haben – Jahre, bevor Richard die Türme der Verdammnis zerstört hatte. Derartige Missionen mussten unglaublich riskant gewesen sein. Ann musste es wissen, sie hatte sie selber unternommen.
Durchaus möglich, dass Jagang über Bücher mit Prophezeiungen oder Zauberer mit dieser Fähigkeit verfügte, die ihm zu der Vermutung Anlass gaben, die Barriere könnte fallen. Schließlich hatte Nathan genau dies Ann berichtet.
Wenn, dann marschierte Jagang nicht allein mit dem Ziel, zu erforschen, auszubeuten und zu erobern. Ann hatte beobachtet, wie er nach und nach die Herrschaft über die gesamte Alte Welt an sich gerissen hatte, und wusste aus Erfahrung, dass Jagang nur selten einen Weg benutzte, den er nicht zuvor verbreitert und geebnet hatte.
Ann hielt im Schatten zwischen den Soldatengruppen inne. Mit zusammengekniffenen Augen spähte sie in verschiedene Richtungen. So schwer es ihr auch fiel, es zu glauben – sie hatte Jagangs Zelte noch nicht einmal zu Gesicht bekommen. Sie wollte ihn finden, weil sie sich von ihm einen wertvollen Hinweis auf den Aufenthaltsort der Schwestern des Lichts erhoffte: Wahrscheinlich hatte er sie ganz in seiner Nähe untergebracht.
Sie seufzte verärgert, als sie außer weiteren Lagerfeuern und Truppen nichts erkennen konnte. Bei dieser Dunkelheit und bei dem Durcheinander im Lager der Imperialen Ordnung konnte sie ganz in der Nähe sein und Jagangs Zelte trotzdem übersehen.
Am schlimmsten war jedoch, dass ihr die Gabe nicht zur Verfügung stand. Mit der Gabe hätte sie leicht weit entfernte Gespräche belauschen, kleine Banne bewirken und diskrete Hilfen heraufbeschwören können. Ohne die Gabe empfand sie die Sucherei als enttäuschend und fruchtlos.
Sie konnte kaum glauben, den Schwestern des Lichts so nahe zu sein und sie dennoch nicht zu finden. Wäre sie nahe genug gewesen, hätte sie sie mit Hilfe der Gabe sehen können.
Doch es ging nicht nur um die Hilfe, die ihr dadurch zuteil geworden wäre. Die Gabe nicht benutzen zu können war, als würde einem die Liebe des Schöpfers verwehrt. Ihre lebenslange Aufopferung für das Werk des Schöpfers, gepaart mit der Herrlichkeit, die Magie in ihrem Innern – ihr Han, ihre Lebenskraft – berühren zu können, war stets überaus befriedigend gewesen. Nicht, dass es nie Enttäuschungen, Ängste oder Versäumnisse gegeben hätte, doch das Öffnen gegenüber ihrem Han hatte sie für jeden Versuch entschädigt.
Über neun Jahrhunderte lang war ihr Han ihr ständiger Begleiter durch das Leben gewesen. Die Unfähigkeit, ihre Gabe zu berühren, hatte sie mehr als einmal an den Rand der Tränen gebracht.
Meist aber fühlte sie sich kaum anders als zuvor – vorausgesetzt, sie dachte nicht darüber nach. Wenn ihre Gedanken sich aber darauf konzentrierten, dieses innere Licht zu berühren, und nichts geschah, kam ihr das vor, als erstickte langsam ihre Seele.
Solange sie nicht versuchte, von ihrer Gabe Gebrauch zu machen, schien sie noch immer da zu sein und zu warten, wie ein Trost spendender Freund, den man stets im Augenwinkel sieht. Doch sobald sie die Hand nach ihr ausstreckte, sich mit der ganzen Kraft ihrer Gedanken um sie bemühte, war ihr, als täte sich der Erdboden auf und als stürzte sie in einen entsetzlich schwarzen Abgrund.
Ohne ihre Gabe und ohne den Schutz des Banns, der um den Palast der Propheten gelegen hatte, unterschied sich Ann nicht von allen anderen Menschen. In Wirklichkeit war sie kaum mehr als eine Bettlerin, sondern schlicht eine alte Frau, die alterte wie alle anderen und die nicht mehr Kraft besaß als jede andere alte Frau. Ihr einziger Vorteil waren die Einsichten, das Wissen und – wie sie hoffte – die Weisheit ihres langen Lebens.
Bis Zedd die Chimären vertrieb, würde sie weitgehend hilflos sein. Bis Zedd die Chimären vertrieb. Falls Zedd die Chimären vertrieb…
Ann schlug einen falschen Weg ein – zwischen Karren hindurch, die zu dicht beieinander standen – und gelangte in einen Engpass, in dem ihr jemand entgegenkam. Sie entschuldigte sich und wollte bereits nach hinten ausweichen, denn Bettler verhielten sich stets unterwürfig, auch wenn diese Unterwürfigkeit nur geheuchelt war.
»Prälatin?«
Ann erstarrte.
»Prälatin, seid Ihr es?«
Ann hob den Kopf und sah in das erstaunte Gesicht von Schwester Georgia Cifaro. Die beiden kannten sich seit mehr als fünfhundert Jahren. Der Mund der Frau arbeitete, als sie nach Worten suchte.
Ann streckte den Arm vor und tätschelte die Hand, die einen Eimer dampfender Hafergrütze hielt. Schwester Georgia zuckte zurück.
»Schwester Georgia, dem Schöpfer sei Dank, dass ich endlich jemanden von euch gefunden habe.«
Schwester Georgia streckte vorsichtig die andere Hand aus und berührte Anns Gesicht, als wollte sie prüfen, ob es echt sei.
»Ihr seid tot«, meinte Schwester Georgia. »Ich habe an Eurer Beerdigungszeremonie teilgenommen. Ich habe gesehen, wie … Ihr und Nathan … wie Eure Leichen auf dem Scheiterhaufen ins Licht gesandt wurden. Ich habe es gesehen. Wir haben die ganze Nacht gebetet und zugesehen, wie Ihr und Nathan verbrannt seid.«
»Tatsächlich? Das war wirklich nett von dir. Du warst immer schon so besonnen, Schwester Georgia. Das sieht dir ähnlich, dass du die ganze Nacht lang Wache hältst und für mich betest. Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen.
Nur, das war gar nicht ich.«
Schwester Georgia schreckte abermals zurück. »Aber … aber Verna wurde doch zur Prälatin ernannt.«
»Ja, ich weiß. Ich habe den Befehl eigenhändig zu Papier gebracht, wenn du dich erinnerst.« Die Frau nickte. Ann fuhr fort: »Ich hatte meine Gründe, nichtsdestoweniger bin ich recht lebendig, wie du vermutlich sehen kannst.«
Endlich setzte Schwester Georgia den Eimer ab und fiel Ann um den Hals.
»Ach, Prälatin! Prälatin!«
Mehr brachte Schwester Georgia nicht heraus, dann fing sie an zu weinen wie ein kleines Kind. Ann gelang es, sie rasch mit einigen knappen Worten zu beruhigen. Sie waren nicht am richtigen Ort, um in einer derart vertraulichen Situation gesehen zu werden. Ihr beider Leben stand auf dem Spiel, und Ann durfte nicht zulassen, dass sie es wegen einer hemmungslos weinenden Frau verloren.
»Prälatin, was ist nur los mit Euch? Ihr stinkt nach Kot und seht fürchterlich aus!«
Ann lachte amüsiert. »Ich habe mich nicht getraut, meine Schönheit vor allen diesen Männern offen zur Schau zu stellen, sonst hätte ich wahrscheinlich mehr Heiratsangebote bekommen, als ich ablehnen könnte.«
Schwester Georgia lachte, doch das Lachen ging abermals in Tränen über. »Es sind wilde Bestien. Alle miteinander.«
Ann tröstete sie. »Ich weiß, Schwester Georgia, ich weiß.« Sie hob das Kinn der Frau. »Du bist eine Schwester des Lichts. Kopf hoch, und zwar auf der Stelle. Was diesem Körper angetan wird, ist nicht wirklich von Belang. Unsere ewigen Seelen sind es, um die wir uns kümmern müssen. Bestien aus diesem Leben können unserem Körper antun, was immer ihnen beliebt, aber unsere reine Seele ist für sie unerreichbar.
Und jetzt benimm dich wie das, was du bist: eine Schwester des Lichts.«
Schwester Georgia lächelte unter Tränen. »Danke, Prälatin. Ich habe Eure Schelte gebraucht, um mich an meine Berufung zu erinnern. Manchmal vergisst man viel zu leicht.«
Ann besann sich auf ihren Plan. »Wo sind die anderen?«
Schwester Georgia deutete rechts an Ann vorbei und ein Stück weit nach hinten. »Dort drüben.«
»Seid ihr alle zusammen?«
»Nein, Prälatin. Einige der Schwestern haben sich dem Unaussprechlichen verschworen.« Sie biss sich auf die Unterlippe und rang die Hände. »Es gibt Schwestern der Finsternis in unserem Orden.«
»Ja, ich weiß.«
»Das wisst Ihr? Nun, Jagang hat sie anderweitig untergebracht. Die Schwestern des Lichts sind zusammen, aber wo sich die Schwestern der Finsternis befinden, weiß ich nicht und will es auch nicht wissen.«
»Gelobt sei der Schöpfer«, seufzte Ann. »Genau das hatte ich gehofft: dass keine von ihnen bei euch wäre.«
Schwester Georgia sah rechts und links über ihre Schulter. »Ihr müsst fort von hier, Prälatin, sonst wird man Euch gefangen nehmen oder sogar töten.« Sie begann, Ann zu schieben, versuchte sie umzudrehen und zum Gehen zu bewegen.
Ann packte Schwester Georgia jedoch am Ärmel und versuchte sie auf diese Weise zu bewegen, zuzuhören.
»Ich bin gekommen, um die Schwestern zu retten. Es ist etwas geschehen, das uns eine ausgezeichnete Gelegenheit eröffnet, euch zur Flucht zu verhelfen.«
»Nichts könnte uns…«
»Still«, knurrte Ann leise. »Hör zu. Die Chimären sind auf freiem Fuß.«
Schwester Georgia erstarrte. »Das ist völlig ausgeschlossen.«
»Ach, wirklich? Und ich sage dir, es stimmt. Wenn du mir nicht glaubst, warum, meinst du, hat deine Kraft dann nachgelassen?«
Schwester Georgia stand da und schwieg, während Ann auf das rauhe Lachen der Soldaten horchte, die nicht weit entfernt dem Glücksspiel frönten. Aus lauter Angst, sie könnten aufgegriffen werden, wanderte der Blick der Schwester immer wieder suchend zu dem Gelände hinter den Karren hinüber.
»Nun?«, wollte Ann wissen. »Was meinst du, warum hat deine Kraft wohl nachgelassen?«
Schwester Georgias Zunge zuckte vor und benetzte ihre Lippen. »Wir dürfen uns unserem Han nicht öffnen. Jagang erlaubt uns das nur, wenn er etwas von uns will, ansonsten ist es uns nicht gestattet. Er befindet sich in unserem Verstand – es ist ein Traumwandler, Prälatin. Er merkt, wenn wir ohne Erlaubnis unser Han berühren. Das versucht niemand ein zweites Mal. Er hat die Kontrolle. Er hat die Macht, dafür zu sorgen, dass es einem sehr Leid tut, wenn man etwas tut, das er nicht will.« Die Frau war kurz davor, sich abermals in Tränen aufzulösen. »Ach, Prälatin…«
Ann zog den Kopf der Frau an ihre Schulter. »Ist ja gut. Still jetzt. Es ist alles in Ordnung, Schwester Georgia. Still jetzt. Ich bin hier, um dich aus diesem Irrsinn zu befreien.«
Schwester Georgia zuckte zurück. »Zu befreien? Das könnt Ihr nicht. Der Traumwandler sitzt in unserem Verstand. Womöglich beobachtet er uns genau jetzt, in diesem Augenblick. Das kann er nämlich, müsst Ihr wissen.«
Ann schüttelte den Kopf. »Nein, das kann er nicht. Die Chimären, erinnerst du dich? Deine Magie ist versiegt, also auch seine. Er sitzt nicht mehr in deinem Kopf. Du bist ihn los.«
Schwester Georgia wollte widersprechen; Ann fasste sie am Arm und zog sie mit.
»Führ mich zu den anderen Schwestern. Ich werde nicht zulassen, dass wir uns streiten, hörst du? Wir müssen von hier fort, solange wir Gelegenheit dazu haben.«
»Aber Prälatin, wir können nicht…«
Ann packte den Ring in Schwester Georgias Unterlippe. »Willst du etwa weiter Sklavin dieser Bestie sein? Willst du auch in Zukunft von ihm und seinen Soldaten missbraucht werden?« Sie zog einmal heftig an dem Ring. »Willst du das?«
Der Frau traten die Tränen in die Augen. »Nein, Prälatin.«
»Dann bring mich zu dem Zelt mit den anderen Schwestern des Lichts. Ich bin fest entschlossen, euch alle noch in dieser Nacht aus den Klauen Jagangs zu befreien.«
»Aber Prälatin…«
»Nun geh schon, bevor man uns hier aufgreift!«
Schwester Georgia schnappte sich den Eimer mit Hafergrütze und eilte davon. Ann folgte ihr dicht auf den Fersen, während Georgia sich alle paar Schritte umsah. Die Frau legte ein ordentliches Tempo vor, wobei sie jedes Lagerfeuer und jede Gruppe von Soldaten so weit wie möglich umging, ohne den Männern auf der jeweils anderen Seite zu nahe zu kommen.
Trotzdem bemerkten die Soldaten sie gelegentlich und versuchten, sie an ihrem Rock festzuhalten. Die meisten lachten, wenn sie daraufhin erschrak und die Flucht ergriff.
Als wieder einer der Männer die Schwester am Handgelenk festhielt, stellte sich Ann zwischen die beiden und lächelte den Mann an. Er war so überrascht, dass er Schwester Georgia losließ. Die beiden machten sich rasch aus dem Staub.
»Ihr werdet uns noch umbringen«, meinte Schwester Georgia leise, während sie sich zwischen Karren hindurchzwängte.
»Na ja, ich dachte nur, du wärst nicht in der Stimmung für das, was dieser Bursche im Sinn hatte.«
»Wenn ein Soldat darauf besteht, müssen wir es tun. Wenn wir nicht … Jagang erteilt uns eine Lektion, wenn wir nicht…«
Ann schob sie weiter. »Ich weiß. Aber ich werde euch hier fortschaffen. Beeil dich. Wir müssen die Schwestern holen und fliehen, solange wir Gelegenheit dazu haben. Morgen früh sind wir längst fort, und Jagang wird nicht wissen, wo er suchen soll.«
Die Frau öffnete den Mund und wollte widersprechen, aber Ann schob sie weiter.
»Der Schöpfer ist mein Zeuge, Schwester Georgia, ich habe dich in den letzten zehn Minuten häufiger zaudern sehen als während deiner ersten fünfhundert Jahre in dieser Welt. Jetzt bring mich endlich zu den anderen Schwestern, oder ich sorge dafür, dass du dich statt meiner noch nach Jagangs Umklammerung zurücksehnst.«