Die Drei-Sekunden-Verzögerung bei der Kommunikation zwischen der Erde und dem Mond störte Nobuhiko Yamagata nicht. Er empfand sie vielmehr als hilfreich, denn so hatte er die Möglichkeit, die Antworten an seinen Vater im Geiste vorzuformulieren.
Saitos Gesicht wurde ernst, als Nobu ihm von der Abmachung berichtete, die sie mühevoll ausgearbeitet hatten.
»Aber das wird Yamagata davon abhalten, sich wieder im Weltraum zu engagieren«, wandte Saito ein.
»Nicht ganz«, antwortete Nobuhiko. »Wir werden nur einen kleinen Anteil der Gewinne vom Asteroiden-Bergbau erhalten — wohl wahr. Aber der Preis für Asteroiden-Rohstoffe wird so tief sinken, dass wir imstande sein werden, die Wiederaufbau-Programme fortzusetzen und zugleich in neue Weltraum-Projekte zu investieren.«
»Die Kosten für unsere Projekte in Japan senken«, murmelte Saito. »Hmm. Ich verstehe.«
Am Ende pflichtete Yamagata der Ältere seinem Sohn darin bei, dass die Zustimmung zu der Vereinbarung wohl das Beste sei. Als Nobuhiko das Gespräch mit seinem Vater beendete, sprach Saito schon von der Errichtung von Solarkraftwerk-Satelliten im Orbit um den Planeten Merkur.
»Das Sonnenlicht ist dort viel intensiver«, sagte er. »Wir könnten die Energie für Schiffe erzeugen, die zu den Sternen fliegen! Vielleicht werde ich dieses triste Kloster verlassen und das Merkur-Projekt selbst leiten.«
Schweißgebadet nach redlichem Bemühen hielt Martin Humphries den nackten Körper von Tatiana Oparin an sich gedrückt und dachte über seine Zukunft nach.
»Vielleicht werde ich das Haus gar nicht wiederaufbauen«, sagte er und schaute zur dunklen Decke des Hotelzimmers auf. Tausende fluoreszierende Lichtpunkte funkelten an ihr wie Sterne in einer Sommernacht auf der Erde.
»Nicht wiederaufbauen?«, murmelte Tatiana verschlafen.
»Ich könnte nach Connecticut zurückgehen. Dort leben meine Jungen. Aus dem Kümmerling wird nichts, aber Alex macht sich prächtig. Ganz der Vater.« Er lachte über diese geistreiche Bemerkung.
»Du willst den Mond verlassen?«
»Nur für einen Besuch. Um die Kinder zu sehen. Und ich habe dort unten noch andere Familienangehörige. Die meisten von ihnen kann ich aber nicht riechen.«
»Aber du wirst doch weiter in Selene leben, oder?«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Der Höllenkrater wäre ein interessanter Ort. Vielleicht werde ich mich in eins der dortigen Kasinos einkaufen. Einen auf Playboy machen anstatt weiter ein Industriekapitän zu sein. Wäre vielleicht mal eine nette Abwechslung.«
»Du würdest einen tollen Playboy abgeben«, sagte Tatiana und schmiegte sich enger an ihn.
Humphries lachte in der Dunkelheit. Das ist viel leichter als einen Konzern zu leiten, sagte er sich. Lass die anderen die Arbeit machen und streich du die Gewinne ein.
Stavenger verbrachte den Abend hauptsächlich damit, einen langen, ausführlichen Bericht über die Friedenskonferenz an seine Frau zu schicken.
»Ich glaube, dass es funktionieren könnte«, schloss er. »Ich glaube, dass es uns gelingen wird, es zu einem Erfolg werden zu lassen.«
Er wusste, dass Edith auf dem Weg zurück zu ihm war. Sie hatte das Grauen bei Ceres körperlich unversehrt überstanden. Die Dokumentation mit den Computer-Simulationen des Angriffs — gestützt auf ihren Augenzeugenbericht — war die größte Sensation seit den Treibhaus-Fluten. Sie galt schon als Kandidatin für den Pulitzer-Preis.
Doch nichts davon war für Stavenger von Bedeutung. Edith geht es gut, sagte er sich. Sie ist auf dem Heimweg. Ihr ist nichts zugestoßen. Es war ein emotionales Trauma für sie, aber körperlich ist ihr nichts geschehen. Sie wird sich wieder erholen. Ich werde ihr dabei helfen.
Stavenger war sich bewusst, dass Ediths Dokumentation der Schlüssel zum Friedensvertrag war. Wo das Chrysallis-Massaker nun jedem Menschen im Sonnensystem vor Augen geführt wurde, hatten Humphries und die anderen gar keine andere Wahl, als eine Vereinbarung zu treffen und die Kämpfe zu beenden.
Nun kommt der schwierige Teil, sagte Stavenger sich. Nun müssen wir den Vertrag erfüllen.
Big George vermochte den Blick nicht von dem Wrack abzuwenden. Er hatte es ein Dutzend Mal nach Leichen durchsucht und die Suche erst eingestellt, als die sterblichen Überreste jedes der knapp über tausend Bewohner von Chrysallis gefunden und identifiziert worden waren. Über fünfzig wurden noch vermisst — sie waren weit von Ceres weggeschleudert worden, als die Module nach der Perforation durch die tödlichen Laserstrahlen explodierten.
Er lebte nun an Bord eines der Schiffe der Internationalen Astronauten-Behörde, die in Umlaufbahnen um den Asteroiden geparkt waren. Es gab hier mittlerweile mehr Rettungskräfte, Schadensachverständige von Versicherungen und Rechtsanwälte als Felsenratten. Und ein Team von Psychologen, das entsandt worden war, um die Überlebenden zu betreuen.
Es gibt aber nur einen Überlebenden, sagte George sich, und meine seelische Gesundheit steht auf Spitz und Knopf. Er hatte schon mit dem Gedanken gespielt, nach Selene zurückzukehren und Martin Humphries umzubringen, aber welchen Sinn hätte das gehabt? Er würde nie zu Humphries durchkommen, und selbst wenn es ihm gelänge — was für einen Sinn hätte es, die Zahl der Toten noch um einen zu erhöhen?
Nein, er hatte Besseres zu tun. Noch während er das Wrack des Habitats durchsuchte, sprach George mit den restlichen Felsenratten, den Prospektoren und Bergarbeitern, die überall im Gürtel verstreut waren, als Chrysallis angegriffen wurde. Sie kamen nun alle zurück nach Ceres.
»Wir werden noch einmal von vorn anfangen, George«, sagten sie ihm.
»Wir haben es schon einmal gebaut, und wir werden es wieder bauen.«
»Nur besser.«
Als George ihnen mit einer Stimme — die zusammen mit seinem Herzen brach — sagte, dass er sich einem Neuanfang nicht mehr gewachsen fühlte, wollten sie das nicht glauben.
»Komm schon, George, du bist unser Mann.«
»Ohne dich wäre es nicht dasselbe, Big George.«
»Wir brauchen dich, Georgie.«
Nachdem er sich überzeugt hatte, dass er in den driftenden Wrackteilen keine Leichen mehr finden würde, wischte George sich die Tränen ab, hörte auf sich zu grämen und sprach mit den Versicherungsleuten über den Bau von New Chrysallis.
Und dann bekam er einen Anruf von Doug Stavenger. »Was auch immer Sie brauchen, George, ich werde Ihnen dabei helfen, es zu beschaffen. Finanzmittel, Material, qualifiziertes Personal. Selene wird Ihnen jeden Zentimeter des Wegs ebnen, das verspreche ich Ihnen.«
George nickte Stavengers feierlichem Bildnis auf dem Monitor des IAA-Schiffs zu. Im Bewusstsein, dass Stavenger seine Antwort frühestens in einer halben Stunde hören würde, sagte George nur:
»Danke, Mr. Stavenger. Danke von uns allen.«
Pancho packte gerade ihre Reisetasche, als der Anruf von Jake Wanamaker durchkam. Sie lud ihn ein, in ihre Residenz zu kommen.
Als er an der Vordertür summte, hatte Pancho gepackt und war bereit zum Aufbruch. Sie ging mit der Reisetasche zur Tür und ließ sie auf den Boden fallen. Dann öffnete sie Wanamaker die Tür. In der schwachen Mondschwerkraft fiel die Tasche erst auf den Teppichboden, als Wanamaker schon in den Flur trat.
»Sind Sie auf dem Sprung?«, fragte er.
»Ja«, sagte Pancho und führte ihn ins Wohnzimmer. »Aber ich habe viel Zeit. Möchten Sie einen Drink?«
Die Kulisse des Zimmers zeigte die Mittelmeerinsel Capri: steile, mit grüner Vegetation bewachsene Klippen, mit kleinen weißgetünchten Dörfern als Einsprengsel — und das ruhige Meer glitzerte unter einer warmen Sonne.
Wanamaker nahm einen Bourbon mit Wasser. Pancho ließ sich von der Automatik-Bar einen zur Szenerie passenden eiskalten limoncello servieren.
Sie bedeutete ihm, auf einem bequemen breiten Armstuhl Platz zu nehmen und hockte sich dann auf den kleineren Polsterstuhl daneben. Sie stießen an. Pancho bemerkte, dass Jake einen ordentlichen Schluck vom Bourbon nahm, anstatt dezent daran zu nippen.
»Was haben Sie auf dem Herzen?«, fragte Pancho.
Er grinste sie verlegen an. »Sieht so aus, als ob ich arbeitslos wäre.«
»Stimmt wohl«, sagte sie. »Ihr Vertrag läuft aber noch bis zum Ende des Jahres.«
»Ich fühle mich nicht wohl dabei, Geld zu nehmen, ohne etwas dafür zu tun.«
Pancho ließ sich das für einen Moment durch den Kopf gehen und hörte sich dann sagen: »Wieso kommen Sie nicht mit mir? Als mein Leibwächter.«
Seine Brauen schnellten empor. »Leibwächter? Wohin wollen Sie denn gehen?«
»Weiß ich noch nicht«, gestand sie mit einem Achselzucken. »Ich will das alles einfach nur hinter mir lassen. Ich werde bei der Astro Corporation kündigen.«
»Kündigen?«
»Ja. Ich bin quasi per Zufall in diesen Job reingerutscht. Hab viele Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass ich gar kein Manager sein will.«
»Dann wollen Sie also verreisen?«
»Ein wenig. Meine Schwester ist draußen im Saturn-Habitat. Dachte mir, dass ich vielleicht mal nach ihr sehen sollte. Und dann gehe ich zurück nach Ceres und helfe Big George beim Bau des neuen Habitats, mit dem die Felsenratten schon angefangen haben.«
»Dafür brauchen Sie doch aber keinen Leibwächter«, sagte Wanamaker.
Pancho grinste ihn an. »Okay, dann werde ich eben Ihr Leibwächter sein. Wie war's damit?«
Erkenntnis dämmerte auf Wanamakers Gesicht, und er grinste breit.
Die Samarkand stand im Orbit um Vesta. Das Übersetzen der Besatzung zum Stützpunkt verzögerte sich, weil die meisten Oberflächen-Installationen durch den Nanomaschinen-Angriff zerfressen worden waren. Macht auch nichts, sagte Harbin sich. Er hatte es nicht eilig, das Schiff zu verlassen.
Er hatte die Anweisung des Ersten Offiziers befolgt und sich in seiner Unterkunft aufgehalten. Seit mehreren Tagen hatte er schon nicht mehr geschlafen. Ohne seine Medikamente brachte der Schlaf ihm Träume, und Harbin gefiel nicht, was ihm im Traum erschien.
Er spielte die Nachrichten seines Angriffs auf Chrysallis immer wieder ab. Und jedes Mal erschien er ihm schlimmer, schrecklicher und verdammenswürdiger.
Was hält das Leben nun für mich bereit, fragte er sich. Man wird ein paar Soldaten schicken, die mich festnehmen. Dann eine Gerichtsverhandlung, wahrscheinlich auf der Erde. Und was dann? Ein Exekutionskommando? Eher wohl eine Giftspritze. Oder lebenslänglich im Gefängnis.
Ich kann ihnen den Ärger ersparen, sagte er sich.
Wo er diesen Entschluss nun gefasst hatte, schob Harbin die Faltenbalg-Tür zum Durchgang auf und ging nach achtern, in Gegenrichtung der Brücke. Ich muss das erledigen, sagte er sich, ehe sie bemerken, dass ich die Kabine verlassen habe.
Er ging zielstrebig zum Waffenschrank, der unbeaufsichtigt war, wo das Schiff nun im Orbit war und die Besatzung auf den Transfer zum Stützpunkt wartete. Die Behälter mit den Handgranaten waren zwar abgeschlossen, doch Harbin kannte alle Kombinationen. Er gab die richtige Zahlenfolge ein, und das Schloss öffnete sich mit einem Klicken.
Eine kleine, sagte er sich. Du willst das Schiff doch nicht zu sehr beschädigen.
Eine Minigranate, kaum größer als ein Daumennagel. Aber mit genug Sprengstoff, um eine Luftschleusen-Luke aufzusprengen. Oder etwas anderes.
»He, was tun Sie da?«
Harbin wirbelte herum und sah eins seiner Besatzungs-Mitglieder den Gang entlangkommen.
»Ach, Sie sind es, Kapitän.« Der Mann schaute plötzlich verlegen. »Sir … äh … Sie sollten eigentlich in Ihrem Quartier sein.«
»Das ist schon in Ordnung, Bootsmann«, sagte Harbin beruhigend. »Kein Grund zur Sorge. Für alle Sünden, mit denen das Antlitz des Menschen geschwärzt ist …«
»Sir?«, fragte das Besatzungsmitglied verwirrt. Dann sah er die Minihandgranate in Harbins Hand. Seine Augen weiteten sich.
»Nichts«, murmelte Harbin. Er schnippte die Sicherung der Handgranate mit dem Daumennagel weg und wirbelte gleichzeitig herum, um seinen Körper zwischen das Besatzungsmitglied und die Druckwelle zu bringen. Die Explosion zerriss ihn fast in zwei Hälften.