Der Wandbildschirm in Edith' Kabine erhellte sich und zeigte den Kapitän des Schiffs. Er wirkte erschüttert.
»Sie sollten besser auf die Brücke kommen und sich das ansehen«, sagte er mit zitternder Stimme. »Sie zerstören das Habitat.«
Big George stürzte aus der Kabine und eilte zur Brücke, dicht gefolgt von Edith.
Der Kapitän und die zwei Besatzungsmitglieder auf der Brücke waren aschfahl und wie paralysiert.
Durchs Sichtfenster sah Edith Chrysallis; drei Module waren zerstört und nur noch ziellos umherdriftende Schrotthaufen. Und dann sah sie, dass unsichtbare Laserstrahlen ein weiteres Modul zerschnitten. Luft quoll als glitzernde Eis-Schwaden ins Vakuum und löste sich in einem Wimpernschlag auf. All das geschah lautlos: in totaler, tödlicher, unheimlicher Stille. Gestalten taumelten durch eine der Breschen, die in die Hülle des Moduls geschlagen worden war. Menschen, wurde Edith sich bewusst. Das sind Menschen.
»Der verdammte Bastard«, knurrte George. Er schlug mit beiden Fäusten gegen den dicken Quarz des Sichtfensters. »Verdammter abgefuckter BASTARD!«, brüllte er.
»Können wir denn gar nichts tun?«, fragte Edith den Kapitän.
Der schüttelte den Kopf. »Rein gar nichts.«
»Aber es muss doch irgendeine Möglichkeit geben! Einen Hilferuf senden!«
»Unsere Antennen sind zerstört. Selbst wenn wir Fuchs an Bord hätten oder wüssten, wo er ist, wären wir jetzt nicht mehr in der Lage, es ihm zu sagen.«
Edith spürte, wie die Kräfte sie verließen. Ich sehe zu, wie tausend Menschen sterben. Ermordet werden. George schien den Tränen nahe. Der Kapitän glich einer Alabasterstatue.
»Es gibt nichts, was wir tun können?«, fragte sie.
»Nichts außer zu warten«, sagte der Kapitän. »Wir kommen wahrscheinlich als Nächste dran.«
Als er begriff, was hier los war, rannte Yanni aus dem nun nutzlosen Nachrichtenzentrum den Hauptgang des Habitats entlang. Ilona! Ich muss Ilona finden! Ihre Unterkunft befand sich drei Module unterhalb des Gangs; zu dieser Zeit müsste sie im Schlafzimmer sein.
Er musste sich einen Weg durch eine schreiende Menge an der Luftschleuse des Moduls bahnen, die sich um die paar Raumanzüge balgte, die dort aufbewahrt wurden.
Wieso tut er das, fragte Yanni sich, während er zur Luke lief, die zu seiner Frau führte. Wieso will er uns töten?
Dann platzte das Schott vor ihm auf, und eine Druckwelle wie ein Wirbelwind riss ihn von den Füßen und schleuderte ihn in die dunkle kalte Leere hinaus. Im letzten Moment wurde er sich bewusst, dass das › warum‹ oder ›wer‹ oder was auch immer keine Rolle mehr spielte. Er war tot, und Ilona war es auch.
Der Erste Offizier stand untätig an Harbins Seite, während dieser sorgfältig und präzise die Module des Habitats Chrysallis zersägte. Als auch die letzte Einheit ein Wrack war, schaute er zu ihr auf und sah Angst in ihren Augen: Angst und Entsetzen und Abscheu.
»Gut«, sagte Harbin und nahm beide Hände von den Armlehnen-Tastaturen. »Es ist vollbracht. Fuchs ist tot. Ich habe meine Mission erfüllt.«
Der Erste Offizier rührte sich, als ob sie aus einer Trance erwachte. »Sind …« Ihre Stimme versagte, und sie hustete. »Sind Sie sicher, dass er überhaupt im Habitat war — Sir?«
Harbin ignorierte ihre Frage. »Sie sind alle tot. Nun können wir nach Hause gehen und uns sicher fühlen.«
Er stand langsam vom Kommandantensitz auf und reckte die Arme zur Metalldecke.
»Ich bin müde. Ich werde etwas schlafen. Sie haben das Kommando.«
»Ja, Sir«, sagte sie. Als sie ihn zur Luke gehen und hindurchschlüpfen sah, musste sie an die Schiffe in den Park-Orbits um Chrysallis denken. Zeugen des Massakers. Und Fuchs ist vielleicht an Bord irgendeines dieser Schiffe.
Sie schüttelte den Kopf. Ich kann bezeugen, dass er es aus eigenem Antrieb tat. Er hat sogar den Rest von uns von der Brücke geschickt. Ich bin zurückgekommen, weil ich ihn davon abbringen wollte, aber er hat nicht auf mich gehört. Ich konnte aber auch keinen Befehl missachten, und überwältigen konnte ich den Mann schon gar nicht. Er hat allein gehandelt, probte sie ihre Zeugenaussage. Er ist ganz allein dafür verantwortlich.
Sie setzte sich auf den Kommandantensitz und ließ den Rest der Brückenbesatzung wieder antreten. Eins der in der Nähe geparkten Schiffe war ein HSS-Versorgungsschiff. Wir werden von ihm Treibstoff und Vorräte übernehmen, sagte der Erste Offizier sich, und dann mit Volldampf zurück nach Vesta.
Harbin sah ein paar Söldner in der Bordküche am Ende des Gangs von der Brücke herumlungern. Noch voll einsatzbereit und von Waffen starrend.
»Abbruch«, rief er ihnen zu. »Wir werden das Habitat nicht entern.« Und er kicherte. Weil es nämlich kein Habitat mehr zum Entern gibt, ergänzte er stumm.
Als er seine Privatkabine betrat, schien er sich daran zu erinnern, dass ein Schiff hierher unterwegs war, das Fuchs vielleicht an Bord hatte. Er schüttelte benebelt den Kopf. Nein, das kann nicht sein. Ich habe Fuchs getötet. Ich habe sie alle getötet. Alle.
Er torkelte zur Toilette und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Die Wirkung der Drogen lässt nach, sagte er sich. Ihre Wirkung lässt überhaupt immer schneller nach. Ich muss eine Medikamententoleranz entwickeln. Das muss ich den Medizinern sagen, wenn wir in Vesta sind. Ich brauche etwas Stärkeres mit längerer Wirkung.
Er warf sich aufs Bett und schloss die Augen. Schlaf, sagte er sich. Ich muss schlafen. Ohne Träume. Nicht träumen. Bitte lass mich nicht träumen.
Doug Stavenger gestattete weder Pancho noch Humphries, sein Wohnzimmer zu verlassen. Sie saßen dort und verfolgten seine verzweifelten Versuche, Kontakt mit seiner Frau bei Ceres wiederherzustellen.
Pancho bot ihm sämtliche Kapazitäten der Astro Corporation an. Sie konsultierte ihren Palm top und sagte Stavenger: »Wir haben drei Schiffe bei Ceres geparkt. Ich habe sie angewiesen, mir zu berichten, was da los ist.«
»Das wird mindestens eine Stunde dauern«, sagte Stavenger. Pancho zuckte die Achseln. »Es ist mir leider nicht möglich, den Vorgang zu beschleunigen.«
Humphries saß derweil stumm auf der Couch und verfolgte jede Bewegung und jede Geste von Stavenger. Pancho hatte nur Verachtung für den Mann übrig … und einen Hauch von Mitleid. Doug wird Humphries töten, wenn seiner Frau etwas zustößt, sagte sie sich. Dann nützt ihm auch sein ganzes Geld nichts mehr. Doug wird ihn in der Luft zerreißen.
Also warteten sie, während Stavenger dringende, verzweifelte Nachrichten an jedes Schiff im Gürtel schickte. Humphries saß schreckerstarrt da, und Pancho zerbrach sich den Kopf über die Situation — sie ließ die bisherigen Geschehnisse Revue passieren, versuchte sich an jede Einzelheit zu erinnern und rekonstruierte die Kette der Ereignisse, die zu diesem Ort, diesem Moment, diesem Kulminationspunkt in der Raumzeit geführt hatten.
»Wir sind noch nicht vollzählig«, sagte sie schließlich.
Stavenger fror die Abbildung auf dem Wandbildschirm ein und drehte sich zu ihr um. Er war offensichtlich ungehalten wegen der Unterbrechung.
»Yamagata«, fuhr Pancho trotz seiner Verärgerung fort. »Nobuhiko Yamagata sollte hier sein, wenn Sie diesen Krieg beenden wollen.«
Humphries rührte sich wieder. »Nur weil sein Konzern Söldner bereitstellt …«
»Er steckt hinter der ganzen Sache«, sagte Pancho mit Nachdruck.
Stavenger widmete ihr nun seine volle Aufmerksamkeit. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Yamagata ist der Finanzier des Nairobi-Stützpunkts am Südpol«, sagte Pancho. »Er vermietet Söldner sowohl an Astro als auch an HSS.«
»Ja?«
Sie wies mit einem spitzen Finger auf Humphries. »Sie sagen, dass Sie mit diesem Seilbahnunfall nichts zu tun hätten?«
»Habe ich nicht«, sagte Humphries.
»Wer sonst hätte es dann tun sollen? Wer ist der lachende Dritte, während Sie und ich uns gegenseitig fertig machen? Wer steht zur Übernahme bereit, wenn Astro und HSS schließlich bankrott sind?«
»Yamagata«, sagte Humphries atemlos.
»Yamagata?«, fragte Stavenger, als hätte er sich verhört. Er wollte es noch immer nicht glauben.
»Yamagata«, bekräftigte Pancho.
Stavenger drehte sich wieder zum Wandbildschirm um. »Telefon, verbinde mich mit Nobuhiko Yamagata. Höchste Priorität.«
Leeza Chaptal steckte wieder im Raumanzug, doch diesmal war er gut eingeölt. Dennoch zitterte sie, als die l.uftschleusenluke aufschwang.
Die metallene Auskleidung des kreisförmigen Schachts war offenbar fast bis auf Augenhöhe zerfressen. Aber nicht weiter, wie sie sah. In den zwölf Stunden, seit sie zuletzt im Schacht gewesen war, hatten die Nanomaschinen sich nur einen Meter oder so tiefer heruntergefressen.
»Ich glaube, dass sie angehalten haben«, sagte sie ins Helmmikrofon.
»Woher wollen Sie das so genau wissen?«, ertönte die Antwort in den Ohrhörern.
Leeza machte den Handlaser vom Koppelgürtel los. »Ich werde eine Markierungslinie ziehen«, sagte sie und betätigte den Schalter des Lasers. Ein dünner, ungleichmäßiger Strich brannte sich in den Stahlüberzug. Sie wurde sich bewusst, dass ihre Hände stark zitterten.
»Okay«, sagte sie, zog sich rückwärts durch die Luke zurück und schob sie zu. »Ich werde in einer Stunde wieder herkommen und schauen, ob sie sich an der Markierung vorbeigefressen haben.«
Sie stapfte im klobigen Anzug zur nächsten Luke zurück und schlug dagegen. »Den Tunnel mit Luft füllen und öffnen«, befahl sie. »Ich muss mal für kleine Mädchen.«
»Sie ziehen ab«, sagte Edith.
Sie stand noch immer mit dem Kapitän und Big George auf der Brücke der Elsinore und sah, wie das Schiff, das das Habitat zerstört hatte, sich mit hoher Beschleunigung aus diesem Gebiet zurückzog und mit weiß glühenden Raketendüsen in der ewigen Dunkelheit untertauchte.
»Sie verschwinden vom Schauplatz des Verbrechens«, sagte der Kapitän.
George sagte nichts, doch Edith sah den lodernden Zorn in seinen Augen. Plötzlich schüttelte er sich wie jemand, der aus einer Trance erwachte. Oder aus einem Albtraum.
Er ging zur Luke.
»Wohin gehen Sie?«, fragte der Kapitän.
»Zur Luftschleuse«, erwiderte George über die Schulter und quetschte seinen massigen Körper durch die Luke. »Ich brauche einen Raumanzug. Muss nachschauen, ob in Chrysallis noch jemand am Leben ist.«
Edith wusste, dass es keine Überlebenden geben konnte. Aber George hat Recht, sagte sie sich. Wir müssen uns zumindest vergewissern.
Und dann wandte sie sich auch zum Gehen. Sie begriff, dass sie diese Katastrophe, dieses Massaker dokumentieren musste. Ich muss alles aufnehmen, damit die ganze menschliche Rasse sieht, was hier geschehen ist.