Das Humphries-Anwesen

»Jemand hat versucht, Pancho zu töten?« Martin Humphries vermochte seine Freude kaum zu verhehlen. »Sie meinen, es gibt noch jemanden, der diesem Biest das Licht ausknipsen will?«

Grigor Malenkovich lächelte nicht. Humphries fragte sich manchmal, ob der Mann überhaupt wusste, wie man lächelte. Grigor, der Chef der Sicherheitsabteilung von HSS, war ein schlanker, stiller Mann mit dunklem Haar, das er straff zurückgekämmt trug, und dunklen, wachen Augen. Er sprach wenig und bewegte sich wie ein Phantom. Sein Markenzeichen waren schiefergraue Anzüge. Er vermochte unbemerkt in der Menge unterzutauchen und nur von einem ausgesprochenen ›Falkenauge‹ identifiziert zu werden. In Humphries' Augen war er das Musterexemplar eines Bürokraten: Er funktionierte absolut zuverlässig, befolgte Befehle, ohne sie zu hinterfragen, und war so unauffällig wie eine graue Maus — aber auch so gefährlich wie ein Pest-Bazillus.

Nun stand er griesgrämig und ernst vor Humphries' Schreibtisch.

»Sie werden für den Mordanschlag auf sie verantwortlich gemacht«, sagte er mit einer so leisen und sanften Stimme, als ob er ein Wiegenlied sänge.

»Ich?«

Grigor nickte wortlos.

»Ich habe ihren Tod nicht befohlen«, sagte Humphries unwirsch. »Wenn Sie eigenmächtig gehandelt haben …«

»Weder ich«, sagte Grigor, »noch irgendjemand in meiner Abteilung.«

»Wer dann?«

Grigor zuckte die Achseln.

»Finden Sie es heraus«, befahl Humphries. »Ich will wissen, wer versucht hat, Pancho zu töten. Vielleicht werde ich ihm sogar eine Belohnung geben.«

»Das ist durchaus nicht komisch, Sir«, erwiderte Grigor. »Die Zentrale der Astro Corporation hat die Anweisung erteilt, die Astro-Schiffe im Gürtel zu bewaffnen.«

Humphries spürte, wie der Zorn ihm die Wangen rötete. »Dieser verdammte Schraubfix! Sie will Krieg, nicht wahr?«

»Anscheinend glaubt sie, dass Sie welchen wollen.«

Humphries trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. »Nein, will ich nicht«, sagte er schließlich. »Aber wenn sie den Kampf will, dann werde ich sie platt machen, bei Gott! Egal, was es kostet!«

Lange nachdem Grigor das Büro verlassen hatte, sagte Humphries' Telefon mit seiner synthetischen Stimme: ›Ein Anruf von Douglas Stavenger.‹

Humphries schaute finster auf die gelb blinkende Lampe am Telefon. »Sag ihm, dass ich im Moment nicht zu sprechen bin. Zeichne die Nachricht auf.«

Humphries wusste nämlich schon, was Stavenger ihm sagen wollte. Er will sich als Friedensstifter profilieren, wie er es vor acht Jahren bereits getan hat. Diesmal nicht, beschloss Humphries. Pancho will einen Krieg führen, und ich werde ihr den Gefallen tun. Ich werde sie abservieren und im Handstreich die Kontrolle über die Astro Corporation übernehmen.

Was hat dieser Deutsche damals noch gesagt, fragte er sich — der Mann, der eine Abhandlung über den Krieg geschrieben hat? Dann erinnerte er sich: Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.

Andere Mittel. Humphries — allein in seinem Büro — grinste und sagte dem Telefon, dass es Grigor anweisen solle, sich mit diesem Söldner Dorik Harbin in Verbindung zu setzen. Er ist eine Einmann-Mongolenhorde, erinnerte Humphries sich. Er läuft Amok, wenn er auf Drogen ist. Es wird Zeit, ihn auf Pancho anzusetzen.


Amanda hielt die Augen geschlossen und atmete tief und gleichmäßig. Humphries lag neben ihr im luxuriösen Schlafzimmer und zuckte leicht im Schlaf. Er hat wieder Albträume, sagte sie sich. Tagsüber ist er ein so starker und dominanter Mensch, doch im Schlaf wimmert er wie ein geprügelter kleiner Junge.

Sie konnte Martin Humphries nicht hassen. Der Mann wurde von inneren Dämonen getrieben, die zu sehen er niemandem erlaubte; nicht einmal seiner Frau. Er war allein mit seinen Qualen und zog eine hohe Wand um die tief liegenden Ängste, die ihn in seinen Träumen quälten. Sogar seine sexuellen Exzesse wurden durch ein verzweifeltes Bedürfnis motiviert, sich als der Herr seiner Welt zu beweisen. Er sagt zwar, dass er es tut, um mich zu stimulieren, sagte Amanda sich, aber wir beide wissen, dass es ihm in Wirklichkeit nur darum geht, mich zu kontrollieren, mich gefügig zu machen und zu zeigen, dass er mein Herr und Gebieter ist.

Wenigstens hat das nun ein Ende, sagte sie sich. Fürs Erste zumindest. Er wird nichts tun, was meinem Baby schaden könnte.

Wenn er wüsste, dass es nicht seins ist. Wenn er wüsste, dass dieses Leben, das in mir heranwächst, Lars' Sohn ist, würde Martin mich und das Kind töten. Er darf es nicht wissen! Er darf es nicht erfahren!

Es war ein Leichtes gewesen, sich Zugang zu Humphries' medizinischen Aufzeichnungen zu verschaffen und sein genetisches Profil durch das von Lars zu ersetzen. Amanda hatte das selbst getan — ohne Hilfe, sodass niemand ihrem Mann zu verraten vermochte, was sie getan hatte. Für die Ärzte und Medizinisch-Technischen Assistenten in Humphries' Diensten schien eine Übereinstimmung zwischen dem genetischen Profil des Babys und den Profilen seiner Eltern zu bestehen. Und das war auch der Fall.

Und doch wusste sie, dass die Probleme erst anfangen würden, sobald das Baby geboren war. Humphries wollte ein vollkommenes Kind — gesund und intelligent sollte es sein. Sein sechsjähriger Sohn genügte diesen Anforderungen: Er war intelligent und athletisch, talentiert und stark.

Das Baby, das Amanda trug, würde nicht so sein.

»Es ist ein geringfügiger Defekt«, hatte der Arzt ihr nach der Untersuchung im Medizinischen Zentrum von ›Hölle‹ eröffnet. Dem düsteren Ausdruck auf seinem Gesicht nach zu urteilen, war ›geringfügig‹ aber stark untertrieben. »Gott sei Dank ist es beim genetischen Test festgestellt worden. Wir können uns darauf vorbereiten und Maßnahmen ergreifen, um den Zustand zu kontrollieren.«

Ein geringfügiger genetischer Defekt. Das Baby würde mit einer chronischen Anämie auf die Welt kommen. »Mit den richtigen Medikamenten vermag man es zu kontrollieren«, versuchte der Arzt Amanda zu beruhigen. »Wir könnten das fehlerhafte Gen auch austauschen, wenn Sie sich zu dieser Prozedur entschließen.«

Man könnte den Fötus wohl im Mutterleib operieren, sagte Amanda sich. Aber das wäre ein größerer medizinischer Eingriff, und es würde mir niemals gelingen, ihn vor Martin geheim zu halten. Die Durchführung der genetischen Tests war schon schwierig genug. Ohne die Hilfe von Doug Stavenger wäre ich dazu gar nicht in der Lage gewesen.

»Es könnte sich auch um eine zufällige Mutation handeln«, sagte der Arzt im Bemühen, Optimismus auszustrahlen. »Oder vielleicht ist wegen der langen Verweildauer im flüssigen Stickstoff bei der Zygote ein Chromosomendefekt aufgetreten. Wir wissen noch nicht genug über die langfristigen Auswirkungen kryogener Techniken.«

Es sind die Drogen, sagte sie sich. Der jahrelange Konsum von psychischen Aufhellern, Aphrodisiaka und Designer-Drogen. Sie müssen den armen, hilflosen Embryo über meinen Blutkreislauf mit Schadstoffen voll gepumpt haben. Mein Sohn wird für meine Schwäche bezahlen müssen.

Also wird das Baby mit chronischer Anämie geboren, sagte Amanda sich. Martin wird das akzeptieren müssen. Er wird darüber unglücklich sein, aber er wird es akzeptieren müssen. Solange er glaubt, dass es sein Sohn ist, wird er alles Notwendige für das Baby tun.

Der Arzt hatte sich gewunden und herumgedruckst, bis er schließlich mit einem Vorschlag herausrückte: »Und dann gäbe es natürlich noch die Nanotechnologie, falls Sie beschließen sollten, davon Gebrauch zu machen. Auf der Erde ist sie jedoch verboten, sodass ich sie dort auch nicht empfehlen könnte. Aber hier auf dem Mond wäre Nanotherapie vielleicht eine Option, um das defekte Gen des Babys zu korrigieren. Und Ihr eigenes.«

Amanda dankte ihm für seine Offenheit. Aber sie wusste jetzt schon, dass Nanotherapie für sie nicht in Frage kam. Martin würde davon erfahren. Nicht einmal Doug Stavenger wäre imstande, es geheim zu halten, wenn sie das Nanotech-Labor in Selene aufsuchte. Die Kunde, dass die Frau von Martin Humphries eine Nanotherapie für ihr ungeborenes Kind wollte, würde mit Lichtgeschwindigkeit an Martin Humphries' Ohren dringen. Der einzige Nanotech-Experte, dem Amanda vertrauen konnte, war Kris Cardenas, und die hatte seit Jahren in Ceres gelebt — im selbst auferlegten Exil von Selene. Nun befand sie sich auf der Saturn-Mission und entfernte sich damit immer weiter von ihr. Nein, Nanotherapie kommt nicht in Frage, beschloss Amanda. Ich muss das Problem ohne Nanotechnik in den Griff bekommen.

Ich muss mein Baby schützen, sagte sie sich, als sie in der Dunkelheit neben ihrem schlafenden, träumenden Mann lag. Ich muss ihn vor Martin schützen.

Was bedeutet, dass ich die Geburt überstehen muss. Unbewusst ballte Amanda die Fäuste. Frauen sterben nicht mehr bei der Geburt. Das ist seit einem Jahrhundert oder noch länger nicht mehr passiert. Nicht in einer modernen medizinischen Einrichtung. Nicht einmal bei Frauen mit einem schwachen Herzen.

Sie hatte gewusst, dass der jahrelange Aufenthalt in einer Niedergravitations-Umgebung das Herz in Mitleidenschaft zog. Die Jahre in Ceres, wo sie praktisch in der Schwerelosigkeit gelebt hatte. Auch hier auf dem Mond herrschte nur ein Sechstel Ge. Das war schlecht fürs Herz und bewirkte Muskelschwund. Es ist so leicht, die niedrige Schwerkraft zu genießen und sich gehen zu lassen.

Amanda hatte regelmäßig trainiert — hauptsächlich, um ihre Figur zu behalten. Martin hatte eine schöne Frau geheiratet, und Amanda hatte im Lauf der Jahre hart an sich gearbeitet, um auch weiterhin jugendlich und attraktiv zu wirken. Aber es hatte nicht genügt, um das Herz zu kräftigen.

»Vielleicht sollten Sie einen Schwangerschaftsabbruch in Betracht ziehen«, hatte der Arzt ihr so zögerlich geraten, als ob er einem Bischof Häresie anheim gestellt hätte. »Stärken Sie das Herz durch gezieltes Training und versuchen Sie dann noch einmal, ein Kind zu bekommen.«

»Nein«, hatte Amanda leise geantwortet. »Das kann ich nicht tun.«

Der Arzt hatte geglaubt, dass sie religiöse Bedenken hätte. »Ich weiß, dass Abtreibung eine schwerwiegende Angelegenheit ist«, hatte er ihr gesagt. »Die katholische Kirche erlaubt sie seit neuestem aber, wenn zum Beispiel medizinische Gründe vorliegen. Eine solche medizinische Indikation könnte ich durchaus vertreten …«

»Danke nein«, hatte Amanda gesagt. »Ich kann nicht.«

»Ich verstehe.« Der Arzt hatte wie ein geduldiger Vater geseufzt, der es mit einem trotzigen Kind zu tun hatte. »In Ordnung, dann werden wir bei der Entbindung eine Hilfspumpe einsetzen.«

Das sei ganz einfach, hatte er erklärt. Ein Standard-Verfahren. Eine temporäre Hilfspumpe — ein kleiner Ballon am Ende eines Katheters — wird in die Oberschenkelarterie eingeführt und dann in die untere Aorta geschoben. Sie stellt zusätzliche kardiovaskuläre Pumpleistung bereit und entlastet dadurch das Herz.

Amanda hatte genickt. Wenn ich die Schwangerschafts-Untersuchung hier im Krankenhaus von Selene durchführen lasse, wird man die Herzschwäche ebenfalls diagnostizieren und die gleiche Empfehlung aussprechen. Martin wird davon erfahren, aber das macht überhaupt nichts. Er wird eher die besten Herzspezialisten engagieren. Das schadet auch nichts. Solange niemand dahinterkommt, dass ich Martins genetisches Profil durch das von Lars ersetzt habe. Dass das auffliegt, muss ich verhindern. Martin glaubt, dass seine Gene vollkommen seien. Er hat einen sechsjährigen Sohn als Beweis.

Meine genetische Untersuchung ist natürlich schon erfolgt. Ich habe diesen Test bestanden. Es ist nur das Baby — mein armes, hilfloses, kleines Baby, das ein Problem hat.

Ich muss sicherstellen, dass Martin es nicht erfährt. Er darf es nicht herausfinden.

Amanda lag stundenlang im Bett, während Humphries neben ihr im Schlaf stöhnte und zuckte. Sie starrte auf die dunkle Decke und sah auf der Digitaluhr die Minuten und Stunden verstreichen. Schließlich — es war schon nach vier Uhr — setzte sie sich auf und stieg leise aus dem Bett. Auf bloßen Füßen ging sie über den dicken Teppichboden vorbei an der Toilette in den begehbaren Wandschrank, in dem die edelste Kleidung hing, die man für Geld zu kaufen vermochte. Erst nachdem sie die Schranktür vorsichtig geschlossen hatte, tastete sie nach dem Lichtschalter an der Wand. Schon vor Monaten hatte sie den Sensor deaktiviert, der die Beleuchtung automatisch einschaltete. Sie kniff in der plötzlichen Helligkeit die Augen zusammen und ging weiter durch den Schrank, ohne auf die teuren Kleider und Mäntel, Hosen und Blusen zu achten. Sie ging zu einer der Lederhandtaschen, die hinten im Wandschrank hingen, und kramte für eine Weile darin herum. Dann brachte sie eine Hand voll weicher blauer Gelatine-Kapseln zum Vorschein.

Beruhigungsmittel, sagte Amanda sich. Es handelt sich dabei nur um gute, starke Beruhigungsmittel. Ich brauche sie, wenn ich überhaupt einschlafen will. Sie starrte auf die Kapseln in der Hand; sie zitterte so stark, dass sie schon befürchtete, sie würde die Pillen fallen lassen. Sie schloss die Finger um sie. Sie werden dem Baby schon nicht schaden. Das ist unmöglich, hat der Apotheker mir gesagt. Und ich brauche sie. Ich brauche sie dringend.

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