Selene: Hauptquartier der Astro Corporation

»Sabotiert.« Pancho wusste, dass das wahr war, wenn sie es auch nicht glauben wollte.

Doug Stavenger schaute grimmig. Er saß mit einer hellen beigefarbenen Hose bekleidet angespannt vor Panchos Schreibtisch. Nur das schwache Flimmern in der Luft um ihn herum verriet, dass seine Präsenz ein Hologramm war; ansonsten wirkte er so massiv und echt, als ob er wirklich in Panchos Büro wäre, anstatt in seinem eigenen Büro in einem der Türme, die die Kuppel der Grand Plaza trugen.

»Es hätte schlimmer kommen können«, sagte er. »Ein paar Stunden nach Ihrer Rettung brach ein Sonnensturm aus. Wir mussten alle Oberflächen-Operationen wegen der Strahlung abbrechen. Wenn der Sturm etwas früher eingesetzt hätte, wären Sie in der Kabine gegrillt worden.«

»Niemand vermag Sonnenstürme mit einer solchen Präzision vorherzusagen«, gab Pancho zu bedenken.

»Nein, ich glaube nicht.«

»Aber — Sabotage?«, wiederholte sie.

»Das geht jedenfalls aus unserer Untersuchung hervor«, erwiderte Stavenger. »Wer auch immer sie verübte, ging nicht gerade sehr subtil vor. Es wurde ein Sprengsatz benutzt, um die Räder zu zerstören, an denen die Seilbahn läuft. Die Druckwelle hat darüber hinaus einen der Masten beschädigt.«

Pancho stützte beide Ellbogen auf den Schreibtisch. »Doug, damit sagen Sie nichts anderes, als dass wir Terroristen in Selene haben.«

Stavenger schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.«

»Aber wer würde eine Seilbahnkabine sabotieren wollen? Das ist die Art von zielloser Gewalt, die ein Terrorist ausüben würde. Oder ein Wahnsinniger.«

»Oder ein Attentäter.«

Pancho krampfte sich der Magen zusammen. Das war es. Zu diesem Schluss waren ihre Sicherheitsleute nämlich gleich gekommen. Und doch hörte sie sich »Mörder?« fragen.

»Selenes Ermittler glauben, dass jemand versuchte, Sie zu töten, Pancho.«

Und dreiundzwanzig weitere Menschen, die zufällig auch in der Seilbahn waren, sagte sie sich.

»Was meinen Ihre Sicherheitsleute?«, fragte Stavenger.

»Genau das Gleiche«, erwiderte sie.

»Das überrascht mich nicht«, sagte Stavenger.

»Mich auch nicht«, sagte sie. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass er versuchen würde, mich zu töten«, gestand sie dann.

»Er?«

»Humphries. Wer denn sonst?«

Und sie erinnerte sich an den Wortwechsel auf Humphries' Party:

Wieso treten Sie nicht ehrenhaft zurück, Pancho, und überlassen mir meinen rechtmäßigen Platz als Vorsitzender der Astro Corporation?

In Ihren Träumen, Martin.

Dann werde ich eben einen anderen Weg finden müssen, die Kontrolle über Astro zu übernehmen.

Nur über meine Leiche.

Vergessen Sie nicht, dass Sie das gesagt haben, Pancho. Ich war's jedenfalls nicht.

Dieser Hundesohn, sagte Pancho sich.

Stavenger atmete tief durch. »Ich werde hier in Selene keine Auseinandersetzung dulden.«

Pancho wusste, was er damit meinte. Wenn Astro und Humphries sich bekriegen wollten, dann sollten sie es im Gürtel austragen.

»Doug«, sagte sie ernst, »ich will keinen Krieg. Ich glaubte, dass wir das Kapitel vor acht Jahren beendet hätten.«

»Ich auch.«

»Der Hurensohn will die Kontrolle über Astro, und er weiß auch, dass ich nicht zur Seite trete und ihn das Ruder werde übernehmen lassen.«

»Pancho«, sagte Stavenger müde und rieb sich die Augen, »Humphries will die Kontrolle über den Gürtel und alle seine Ressourcen. Das ist klar.«

»Und wenn er den Gürtel dann hat, wird er die Kontrolle übers ganze Sonnensystem haben. Und alle, die darin leben.«

»Einschließlich Selene.«

Pancho nickte. »Einschließlich Selene.«

»Ich kann das nicht zulassen.«

»Was gedenken Sie also in dieser Angelegenheit zu tun, Doug?«

Er breitete die Hände in einer Geste der Ratlosigkeit aus. »Das ist es ja gerade, Pancho. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt etwas tun kann. Humphries will schließlich nicht die politische Kontrolle über Selene übernehmen. Er strebt nur nach wirtschaftlicher Macht. Er weiß, dass er, wenn er die Ressourcen des Gürtels kontrolliert, Selene und allen anderen Körperschaften die Daumenschrauben anlegen kann. Unsere politische Selbständigkeit wird er vielleicht nicht antasten. Aber wir werden das Wasser und die meisten anderen Rohstoffe von ihm kaufen müssen.«

Pancho schüttelte den Kopf. Einst war Selene praktisch autark gewesen: Man hatte Wasser aus den Eisvorkommen an den Mondpolen gewonnen und Rohstoffe aus dem Regolith an der Oberfläche des Mondes. Selene exportierte sogar Fusions-Brennstoffe zur Erde und lieferte auch das Aluminium und Silizium, um Solarkraftwerks-Satelliten in der Erdbahn zu bauen.

Doch in dem Moment, als die Regierung von Selene beschloss, beschränkte Einwanderung von der verwüsteten Erde zuzulassen, war die Autarkie der Mondnation beendet. Selene wurde abhängig von den Metallen und Mineralien, sogar von Wasser, das von den Asteroiden importiert wurde. Und das anfängliche Rinnsal der Einwanderung von der Erde war zu einem stetig anschwellenden Strom geworden, wie Pancho wusste.

»Was gedenken Sie also zu tun?«, wiederholte Pancho.

»Ich werde mit Humphries sprechen«, sagte Stavenger mit betrübter Miene. »Nicht, dass ich mir allzu viel davon versprechen würde.«

Pancho verstand den sprichwörtlichen Wink mit dem Zaunpfahl. Es ist an mir, Humphries zu stoppen, wurde sie sich bewusst. Ich muss ihn bekämpfen. Kein anderer ist dazu imstande.

»Okay«, sagte sie zu Stavenger. »Sie reden. Ich werde handeln.«

»Keine Kämpfe hier«, sagte Stavenger entschieden. »Nicht hier.«

»Nicht hier, Doug«, versprach Pancho. Im Geiste stellte sie bereits Berechnungen an, wie viel es wohl kosten würde, im Asteroidengürtel gegen Humphries Space Systems Krieg zu führen.


Der Asio-Amerikaner, der den Auftrag erhalten hatte, dafür zu sorgen, dass Pancho Lane die Sabotage der Seilbahn überlebte, saß in einem ratternden Hubschrauber, mit dem er vom Flug-/Raumhafen Sea-Tac gestartet war. Er freute sich darauf, zu seinem Heim in den Bergen der Halbinsel Olympic im Staat Washington zurückzukehren. Er wusste, dass seine Familie dort auf ihn wartete. Genauso wie das üppige Honorar der Yamagata Corporation.

Der Hubschrauber setzte auf dem Kiesbett am Anfang des Pfades auf, der zu seinem Haus führte. Komisch nur, dass dort niemand zu seiner Begrüßung erschienen war. Seine Frau und die Kinder hätten den Lärm der Rotoren eigentlich hören müssen. Er ging mit der Reisetasche in der Hand zum Rand des Hubschrauberlandeplatzes und kniff in der Wolke aus Sand und Steinchen, die von den Helikopterrotoren aufgewirbelt wurde, die Augen zusammen.

Vom Kiesbett aus sah er unter sich die in den Fluten versunkene Stadt Port Townsend und die Ansammlung der dort errichteten Tauch-Camps. An einem klaren Tag vermochte er mit dem Fernglas sogar die Ruinen von Seattles Hochhäusern zu erkennen, die wie Zahnstocher aus den Gewässern des Puget Sound ragten.

Es war ein merkwürdiger Auftrag gewesen, sagte er sich. Fliegen Sie als Tourist zum Mond — zu einem Tarif, der seine ganzen Ersparnisse aufgezehrt hätte — und fahren Sie zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Seilbahn mit, wobei Sie eine Notfallausrüstung mitführen, mit der Sie gewährleisten, dass Ms. Lane bei dem ›Unfall‹ nicht ums Leben kommt.

Er zuckte die massigen Schultern und sah den Helikopter am bewölkten Himmel verschwinden. Dann drehte er sich um und ging den gewundenen Pfad zu seinem Haus entlang.

Er sah seine Frau und die Kinder nie wieder, die in ihren blutigen Betten lagen — durch Schüsse in den Kopf getötet. Zwei Männer packten ihn, als er zur Haustür hereinkam, und setzten ihm eine Pistole an die Schläfe.

Als die Polizei nach ein paar Tagen am Tatort erschien, war es für sie offensichtlich, dass der Mann erst seine Familie umgebracht und dann Selbstmord begangen hatte.

»Er muss durchgedreht sein«, sagte der Polizeichef. »Es kommt vor, dass jemand aus einem nicht nachvollziehbaren Grund ausrastet.«

Der Fall wurde abgeschlossen.


In Selene wurde der Wartungstechniker, der die winzige Sprengladung angebracht hatte, welche die Seilbahn zum Absturz brachte, ebenfalls tot aufgefunden: gestorben an einer Überdosis Rauschgift. Aus seinen Unterlagen ging hervor, dass er in seiner Eigenschaft als Angestellter der Instandhaltung von Selene kürzlich einen beträchtlichen Geldbetrag von einem unbekannten ›Wohltäter‹ erhalten hatte. Der weitere Verbleib des Geldes war nicht mehr zu rekonstruieren; anscheinend hatte er es in die Drogen investiert, die ihn getötet hatten.

In Selene machte schnell das Gerücht die Runde, dass das Geld von Humphries Space Systems stammte. Es gab jedoch keinerlei Hinweise dafür, dass es in Wirklichkeit von der Yamagata Corporation ›gespendet‹ worden war.

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