Fusionsschiff Starpower III

Wie die meisten Fusionsschiffe hatte auch die Starpower III die Form einer Hantel — bauchige Treibstofftanks am einen Ende eines kilometerlangen Buckninsterfulleren-Kabels, das Wohnmodul am anderen und das Fusionstriebwerk in der Mitte. Das Schiff rotierte träge ums Zentrum und vermittelte der Besatzung und den Passagieren ein Gefühl der Schwerkraft.

Panchos Unterkunft an Bord ihres persönlichen Fusions-Schiffs war komfortabel, aber nicht luxuriös. Das Wohnmodul umfasste die Besatzungsquartiere, die Brücke, Arbeits- und Lagerräume sowie Panchos Privatkabine und noch dazu zwei Gästekabinen.

Pancho befürchtete, dass ihr einziger Gast auf dieser Reise von Ceres nach Selene die Contenance verlieren würde. Levi Levinson hatte sich überaus geschmeichelt gefühlt, als Pancho ihm sagte, dass sie ihn in Selene mit den dortigen Spitzen-Wissenschaftlern zusammenbringen wollte. »Zwei sind sogar im Nobel-Komitee«, hatte Pancho wahrheitsgemäß und mit großer Überzeugungskraft gesagt.

Levinson hatte unverzüglich eine Reisetasche gepackt und sie zum Fusionsschiff begleitet.

Als sie sich nun Selene näherten, brachte Pancho ihm die unangenehme Nachricht bei. Sie lud ihn zum Mittagessen in ihre Privatkabine ein und sah mit heimlicher Belustigung, wie er auf die Speisen starrte, die von zwei Küchenhilfen auf dem Tisch zwischen ihnen serviert wurden.

»Sie haben einen enormen wissenschaftlichen Durchbruch erzielt«, sagte sie zu Levinson, nachdem die Küchenhilfen verschwunden waren. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob die Felsenratten auch Gebrauch von ihr machen werden.«

Schon der normale Gesichtsausdruck von Levinson erinnerte Pancho an ein Reh, das von den Scheinwerfern eines Autos gebannt wurde. Und nun wölbte er die Brauen noch höher als üblich.

»Keinen Gebrauch davon machen?«, fragte er und verharrte zitternd mit dem Suppenlöffel auf halbem Weg zwischen dem Teller und dem Mund. »Wie meinen Sie das?«

Pancho hatte die meiste Zeit des Tages damit verbracht, per Bündellaserverbindung mit Big George zu sprechen. George hatte mit dem Regierungsrat der Felsenratten eine Einigung erzielt. Sie würden alles ablehnen, was einen Preisverfall des von ihnen geschürften Erzes verursachen würde.

»Die Preise sind eh schon niedrig genug«, hatte George geknurrt. »Wir werden Pleite gehen, wenn sie noch tiefer fallen.«

Doch beim Blick in Levinsons fragendes Gesicht beschloss Pancho, ihm nicht die Wahrheit zu sagen. Der Junge hat sich förmlich den Hintern abgearbeitet, um diesen Durchbruch zu erzielen, sagte sie sich, und nun musst du ihm klar machen, dass alles für die Katz war.

»Es ist das Sicherheitsproblem«, wiegelte sie ab. »Die Felsenratten sind wegen des Einsatzes von Nanos besorgt, die durch ultraviolettes Licht nicht unschädlich gemacht werden können.«

Levinson blinzelte, schlürfte seine Suppe und legte den Löffel hin. »Es könnten ein paar weitere Sicherheitsmechanismen ins System eingebaut werden«, sagte er.

»Glauben Sie?«

»Das Problem ist, dass die Nanos in einer Hochstrahlungs-Umgebung arbeiten müssen. Daher müssen sie gehärtet werden.«

»Und das macht sie gefährlich«, sagte Pancho.

»Eigentlich nicht.«

»Die Bergarbeiter glauben das aber.«

Levinson sog besorgt die Luft ein. »Wenn sie die Nanos sachgerecht behandeln, sollte es aber keine Probleme geben.«

Pancho lächelte ihn an wie eine Mutter. »Lev, sie sind Bergarbeiter. Felsenratten. Sicher, die meisten haben eine technische Ausbildung, aber sie sind keine Wissenschaftler wie Sie.«

»Ich könnte Protokolle für sie ausarbeiten«, nuschelte er fast wie im Selbstgespräch. »Sicherheitsprozeduren, an denen sie sich orientieren könnten.«

»Vielleicht könnten Sie das«, sagte Pancho vage.

Er starrte eine Weile in seine Suppe und schaute dann wieder zu ihr auf. »Heißt das, dass ich meine Arbeit nicht veröffentlichen kann?«

»Veröffentlichen?«

»Im The Journal of Nanotechnology. Es wird in Selene verlegt, und ich glaubte, dass ich bei meinem Aufenthalt dort die Redakteure treffen würde.«

Pancho dachte angestrengt nach. Eine wissenschaftliche Zeitschrift. Vielleicht wird sie nur von hundert Menschen im ganzen Sonnensystem gelesen. Aber einer von ihnen wird Humphries die Nachricht überbringen, dessen war sie sich sicher. Teufel, sagte sie sich, der Stecher weiß wahrscheinlich ohnehin schon Bescheid. Es passiert doch kaum etwas, von dem er nichts erfährt.

»Natürlich können Sie es veröffentlichen«, sagte sie leichthin. »Kein Problem.«

Ein jungenhaftes Lächeln erschien auf Levinsons Gesicht. »Oh, dann ist es in Ordnung. Solange ich nur meine Arbeit veröffentlichen kann und dafür Anerkennung bekomme, ist es mir egal, was die dummen Felsenratten tun.«

Pancho starrte ihn an und versuchte, ihre Gefühle zu verbergen. Wie so viele Wissenschaftler war der Junge ein Elitärer. Sie fühlte sich enorm erleichtert.


Dorik Harbin wusste alles über Sucht. Er war schon als Teenager in seinem Heimatdorf auf dem Balkan mit Drogen in Berührung gekommen. Die Erwachsenen verabreichten den Kindern nämlich Haschisch, bevor sie sie auf Missionen zur ethnischen Säuberung schickten. Während er die Leiter des organisierten Mordes und der Vergewaltigung erklomm, wurde sein Bedürfnis nach Drogen — und nach immer stärkeren Drogen — immer größer. Als Söldner im Dienste von Humphries Space Systems hatte er sich schon ein paar Mal einer Entziehungskur unterzogen, nur um dann wieder in die Sucht zurückzufallen. Ironischerweise stellten HSS-Mediziner die Substanzen im Rahmen des ›Incentive-Programms‹ der Firma bereit.

Zumal die HSS-Drogen auch viel besser waren: Designer-Drogen, maßgeschneidert für spezifische Bedürfnisse. Drogen, die einem halfen, wach und aufmerksam zu bleiben, wenn man auf der Suche nach Schiffen, die es zu zerstören galt, tage- und wochenlang allein im Gürtel unterwegs war. Drogen, die die Kampfkraft steigerten und einen wilder, zorniger und blutrünstiger machten, als ein Mensch es von Natur aus ist. Vor allem brauchte Harbin jedoch Drogen, die ihm vergessen halfen und die die Bilder von hilflosen Männern und Frauen ausblendeten, die aus Raumschiffwracks ins All geschleudert wurden, die in Rettungskapseln oder auch nur im Raumanzug dahintrieben wie zappelnde, bettelnde und entsetzte Staubflocken, bis der Tod ihre flehenden Stimmen verstummen ließ und sie in ewigem Schweigen durch den Raum drifteten.

Ein schwächerer Mensch wäre durch die Vergeblichkeit von alldem wohl in den Wahnsinn getrieben worden. Die medizinischen Experten von Humphries bemühten sich, Harbins Körper zu entgiften und den Blutstrom von den Molekülen des Rauschgifts zu reinigen. Dann verabreichten andere Spezialisten von Humphries ihm neue Medikamente, um ihm bei der Ausführung der Morde zu helfen, für die die Firma ihn bezahlte. Harbin lächelte grimmig angesichts der Ironie und erinnerte sich an Khayyams Worte:

Obwohl der Wein mich gar zum Sünder machte

und mir mein Ehrenkleid geraubt,

frag ich mich oft, was wohl die Winzer kaufen;

es kann nicht halb so kostbar sein wie ihr Produkt.

Egal, welche und wie viele der im Labor entwickelten Drogen Harbin auch nahm, sie vermochten nicht seine Träume zu unterdrücken, vermochten nicht die Erinnerungen zu löschen, die seinen Schlaf in eine endlose Folter verwandelten. Er sah ihre Gesichter, die Gesichter all jener, die er im Lauf der Jahre getötet hatte: vor Schmerzen und Entsetzen verzerrt und von der plötzlichen Erkenntnis, dass ihr Leben zu Ende war — ohne Gnade, ohne Hoffnung auf Rettung oder Begnadigung oder auch nur auf einen Aufschub. Er hörte ihre Schreie im Schlaf.

Die Rache des Schwachen am Starken, sagte er sich. Aber er fürchtete sich vorm Schlaf, fürchtete sich vor dem flehenden Chor aus Männern und Frauen und Kindern.

Ja, Harbin wusste Bescheid über die Sucht. Er hatte es sich einmal erlaubt, abhängig von einer Frau zu werden, und sie hatte ihn verraten. Also hatte er sie töten müssen. Er hatte ihr vertraut, hatte in der Wachsamkeit nachgelassen und ihr erlaubt, seine tiefste Seele zu berühren. Er hatte sich sogar den Traum eines anderen Lebens gestattet, eines Lebens in Frieden und Sanftheit, in dem es ihm vergönnt war, zu lieben und geliebt zu werden. Und sie hatte ihn verraten. Als er ihr die Zunge aus dem Lügenmund riss, trug sie das Baby eines anderen Mannes.

Er schwor sich, diesen Fehler nie mehr zu begehen. Nie mehr einer Frau zu erlauben, ihm so nahe zu kommen. Niemals. Frauen waren etwas fürs Vergnügen, genauso wie manche Drogen es waren. Nicht mehr.

Und doch fesselte Leeza ihn. Sie zierte sich nicht, wenn Harbin mit ihr ins Bett gehen wollte; sie schien sogar geschmeichelt, dass der Kommandeur der wachsenden Basis auf Vesta überhaupt so viel Notiz von ihr nahm. Sie war anschmiegsam, liebenswert und beim Liebesspiel voller Leidenschaft.

Lass dich nicht mit ihr ein, rief Harbin sich selbst zur Ordnung. Und doch — während die Wochen in den öden und engen unterirdischen Verliesen von Vesta verstrichen, verbrachte er immer mehr Zeit mit ihr. Sie ließ ihn die Vergangenheit wenigstens für die Dauer eines angenehmen gemeinsamen Essens vergessen. Und wenn sie sich liebten, schien es ihr gar zu gelingen, die Zeit stillstehen zu lassen. Und sie vermochte Harbin sogar zum Lachen zu bringen.

Dennoch weigerte er sich, ihr Zugang zu seinen geheimsten Gedanken zu gewähren. Er weigerte sich, hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen, weigerte sich, überhaupt an eine Zukunft jenseits der Fertigstellung dieser Militärbasis auf Vesta zu glauben und an den Befehl von Martin Humphries, Lars Fuchs aufzuspüren und ihn zu töten.

Doch ersetzten bald neue Anweisungen die alten. Grigor sagte ihm, dass Humphries einen Großangriff auf die Schiffe der Astro Corporation verlangte.

»Vergessen Sie Fuchs für den Augenblick«, sagte Grigor. »Größere Pläne müssen verwirklicht werden.«

Harbin wusste, dass er abhängig von Leeza wurde, als er ihr sagte, dass er mit den neuen Befehlen nicht einverstanden war.

Sie lag neben ihm im Bett und hatte den verwuschelten Kopf auf seine Schulter gelegt; das einzige Licht im Raum war das Glühen des Sternenlichts auf dem Wandbildschirm, der die Kameraperspektive des Weltraums an der Oberfläche von Vesta zeigte.

»Humphries bereitet sich darauf vor, Krieg gegen Astro zu führen?«, fragte Leeza. Ihre Stimme war so sanft wie Seide in der sternenhellen Dunkelheit.

Obwohl Harbin wusste, dass er ihr eigentlich nicht so viel preisgeben sollte, sagte er: »Es sieht so aus.«

»Wird das nicht gefährlich für dich?«

Es war schwer, mit ihrem Kopf auf der Schulter die Achseln zu zucken. »Ich werde schließlich dafür bezahlt, Risiken einzugehen.«

Sie schwieg für einen Moment. Dann sagte sie: »Du könntest viel mehr bekommen.«

»Ja? Und wie?«

»Die Yamagata Corporation würde dir genauso viel zahlen wie HSS«, sagte sie.

»Yamagata?«

»Und gleichzeitig könntest du das Gehalt von Humphries weiter beziehen«, merkte Leeza mit einem leisen schelmischen Kichern an.

Er drehte sich zu ihr um und zog die Brauen zu einem Strich zusammen. »Wovon sprichst du überhaupt?«

»Yamagata will dich anstellen, Dorik.«

»Woher willst du das denn wissen?«

»Weil ich für sie arbeite.«

»Für Yamagata?«

»Ich erledige den Job, den für Humphries zu erledigen ich angestellt wurde, und beziehe dafür mein Gehalt von HSS. Und ich berichte, was hier geschieht, an Yamagata, und man zahlt mir dafür den gleichen Betrag wie HSS. Ist das nicht toll?«, fragte sie mit diebischer Freude.

»Es ist Verrat«, sagte Harbin schroff.

Sie stützte sich auf den Ellbogen. »Verrat? Gegenüber einem Unternehmen?«

»Das ist nicht richtig.«

»Die Loyalität zu einer Firma ist eine Einbahnstraße, Dorik. Humphries kann dich entlassen, wann immer es ihm in den Sinn kommt. Es ist doch nichts dabei, sich ins gemachte Bett fallen zu lassen, wenn man die Gelegenheit dazu hat.«

»Wieso ist Yamagata überhaupt an mir interessiert?«

»Sie wollen wissen, was Humphries tut. Ich stehe in der Hierarchie zu tief, um ihnen das ganze Bild zu vermitteln. Du bist die Quelle, die sie brauchen.«

Harbin legte sich wieder aufs Kissen; seine Gedanken jagten sich.

»Du musst ja nichts gegen HSS unternehmen«, drängte Leeza ihn. »Alles, was Yamagata will, sind Informationen.«

Fürs Erste, sagte Harbin sich. Dann lächelte er in der Dunkelheit. Sie war genauso wie alle anderen. Ein Verräter. Fast war er erleichtert, dass er keine emotionale Bindung zu ihr hatte.

Загрузка...