Basis Leuchtender Berg

»Sie da!«, schrie die Wache. »Hören Sie sofort auf damit, oder ich schieße!«

Pancho erinnerte sich, dass die Halskette im verdammten Softsuit steckte. Sie war fürs Erste unerreichbar. Sie konnte sie sich nicht vom Hals reißen und dem Trottel an den Kopf werfen. Ich hätte wahrscheinlich auch gar nicht die Zeit dazu, bevor er mich abschießt, sagte sie sich. Sie stand langsam auf, hob beide Hände über den Kopf und stieß den Laser leicht mit dem Stiefel an. Er war noch eingeschaltet und bohrte unverdrossen ein Loch in den Wabenkern-Schild außerhalb der Kuppelwand.

»Wer sind Sie?«, fragte die Wache scharf und ging langsam um den Minischlepper herum, wobei er eine Pistole auf Panchos Bauch gerichtet hatte. Er sah wie ein Afrikaner aus, sprach aber wie ein Engländer. »Und was, zum Teufel, tun Sie da?«

Pancho zuckte im Softsuit die Achseln. »Nichts«, sagte sie mit einem unschuldigen Blick.

»Mein Gott!«, schrie die Wache, als sie das Loch in der Kuppelwand sah und den hellen roten Punkt, den der Laser auf dem Wabenkern-Schild warf. »Drehen Sie dieses Ding ab! Sofort! Wissen Sie denn nicht, dass Sie …«

In diesem Moment riss der Wabenkern auf, und ein Luftstrom schleuderte Pancho gegen die Wölbung der Kuppelwand. Die Wache taumelte, war aber so geistesgegenwärtig, um zu begreifen, was geschah. Der Mann drehte sich um und lief so schnell davon, wie er konnte — was nicht allzu schnell war, denn er musste sich gegen einen orkanstarken Wind stemmen, der durch das von Pancho gebohrte Loch entwich.

Die Lautsprecher plärrten erst auf Japanisch und dann in einer anderen Sprache, die Pancho nicht verstand. Sie rutschte auf dem Boden durch die Bresche; in der Hoffnung, dass der Softsuit sich nicht an der gezackten Kante des vom Laser gefrästen Loches verfangen und reißen würde.

Draußen ließ sie den Blick über die öde Mondlandschaft schweifen. Die Kuppel ruhte auf dem Kamm der Ringwallberge, die Shackleton umkränzten. Das Terrain fiel zum Kraterboden hin ab. Nichts zu sehen außer Felsen und kleinen Kratern, von denen die meisten nicht größer waren als kleine Gruben im steinigen Boden, nicht größer als Abdrücke von Fingerkuppen. Verflucht, sagte Pancho sich. Ich bin auf der falschen Seite der Kuppel.

Ohne zu zögern lief sie los und suchte nach den Startrampen. Sie war nun doch froh, dass sie diesen Raumanzug trug. In den alten Hartschalenanzügen glich die schnellstmögliche Fortbewegung dem gemächlichen Schlurfen von Frankensteins Monster.

Der Wache wird schon nichts passieren, sagte sie sich. Es gibt viel Luft in der Kuppel. Man wird das Leck abdichten, bevor jemand ernstlich in Gefahr gerät. Sie grinste und lief in stetem Trab weiter. Während sie den Schaden zu beheben versuchen, den ich angerichtet habe, schnappe ich mir eins der Raumboote und fliege nach Hause.

Ein lindgrüner Farbklecks erschien auf der linken Seite des Helms. ›Strahlenwarnung‹, sagten die Ohrhörer. ›Die Strahlungswerte überschreiten das zulässige Maximum. Suchen Sie unverzüglich einen Schutzraum auf.‹

»Ich versuch's!«, sagte Pancho und staunte über die Intelligenz des Anzugs.

Sie hatte kaum ein Dutzend Schritte zurückgelegt, als die Farbe von Pastellgrün zu Kanariengelb wechselte.

›Strahlungswarnung‹, sagte der Anzug erneut. ›Die Strahlungswerte überschreiten das zulässige Maximum. Suchen Sie unverzüglich einen Schutzraum auf.‹

Pancho knirschte mit den Zähnen und fragte sich, wie sie den Stimmensynthesizer des Anzugs abzustellen vermochte. Von den Startrampen war noch nichts zu sehen.


Nobuhiko war wieder im Krankenhaus der Basis — diesmal in einem abgeteilten Raum, der kaum groß genug war, dass ein Bett darin Platz hatte — und schaute auf einen Daniel Tsavo herab, der unter dem Einfluss starker Beruhigungsmittel stand. Ein makelloser weißer Verband bedeckte die obere Hälfte des schwarzen Gesichts des Kenianers. Er war noch bei Bewusstsein, verlor es aber in dem Maß, wie die Wirkung des Präparats einsetzte.

»… sie hat mich geblendet«, murmelte er. »Blind … kann nichts sehen …«

Yamagata schaute ungeduldig auf den afrikanischen Arzt, der an der anderen Seite von Tsavos Bett stand. »Das ist nur vorübergehend«, sagte der Arzt in beruhigendem Ton. Er schien indes eher zu Yamagata als zu seinem Patienten zu sprechen. »Die Verbrennungen der Netzhaut werden in ein paar Tagen verheilen.«

»Versagt«, murmelte Tsavo. »Versagen … geblendet … keine Chance mehr … Karriere zerstört …«

Nobuhiko beugte sich leicht über das Bett und sagte: »Sie haben nicht versagt. Sie werden wieder gesund. Ruhen Sie sich erst einmal aus. In ein paar Tagen sieht alles schon wieder anders aus.«

Tsavo tastete mit der rechten Hand nach Yamagata. Nobuhiko zog sich instinktiv zurück.

»Haben Sie sie schon gefunden?«, fragte der Kenianer mit plötzlich stärkerer Stimme. »Haben Sie von ihr erfahren, was Sie wissen wollten?«

»Ja, natürlich«, log Nobuhiko. »Sie ruhen sich jetzt aus. Es ist alles okay.«

Tsavos Hand fiel wieder auf die Bettdecke zurück, und er stieß einen schweren Seufzer aus. Der Arzt nickte, als ob er mit der Wirkung des Präparats zufrieden wäre. Dann scheuchte er Nobuhiko mit einer Geste hinaus.

Der verstand. Er wandte sich vom Bett ab und verließ das winzige Krankenzimmer — naserümpfend beim Geruch der Antiseptika, der diesen Teil der Krankenstation schwängerte. Er hatte viele Stunden in Krankenhäusern zugebracht, als sein Vater starb. Der Geruch weckte wieder die Erinnerungen an jene unglücklichen Tage.

Die beiden Adjutanten, die auf dem Gang auf ihn warteten, standen beinahe wie Elite-Soldaten stramm, obwohl sie nur normale Geschäftsanzüge trugen.

»Hat man sie schon gefunden?«, fragte Nobuhiko auf Japanisch.

»Noch nicht, Sir.«

Nobu runzelte die Stirn, als er zum Ausgang ging, und bekundete so seine Unzufriedenheit gegenüber den Adjutanten. Da bin ich extra den ganzen Weg zum Mond gekommen, sagte er sich, und dann geht sie uns durch die Lappen. Zorn wallte in ihm auf.

Der Ranghöhere der Adjutanten bemerkte das offensichtliche Missfallen auf dem Gesicht seines Chefs und versuchte das Thema zu wechseln:

»Wird der schwarze Mann das Sehvermögen wiedererlangen?«

»Anscheinend«, blaffte Nobuhiko. »Aber er wird mit keinen wichtigen Aufgaben mehr betraut werden. Nie wieder.«

Beide Adjutanten nickten.

Als sie die Flügeltür des Krankenhauses erreichten, piepte das Handy des ranghöheren Adjutanten. Er öffnete es mit einem Fingerschnippen und sah auf dem kleinen Display einen Yamagata-Ingenieur mit einem himmelblauen Helm und weit aufgerissenen Augen.

»In der Kuppel ist ein Leck aufgetreten!«, platzte der Ingenieur heraus. »Wir haben Reparaturtrupps angefordert.«

Der Adjutant schaute konsterniert. Er wandte sich an Yamagata und erbat wortlos Anweisungen.

»Sie hat das getan«, sagte Nobu. »Trotz aller Wachen und Vorsichtsmaßnahmen ist Pancho uns doch entkommen. Sie ist draußen.«

»Aber der Strahlensturm!«, sagte der rangniedere Adjutant entgeistert. »Sie kommt darin um.«

Plötzlich spürte Nobu, wie sein ganzer Zorn verrauchte — die ganze Anspannung, die ihn in den letzten Stunden wie ein Schraubstock im Griff gehabt hatte, verflog. Er lachte. Er warf den Kopf zurück und lachte schallend, während die zwei Adjutanten ihn mit offenem Mund anstarrten.

»Sie soll dort draußen umkommen?«, sagte er zu ihnen. »Unwahrscheinlich. Nicht Pancho. Wir vermochten sie nicht mit tausend Wachen hier zu halten. Glaubt bloß nicht, dass so eine Lappalie wie ein Sonnensturm sie aufhalten wird.«

Die beiden Männer sagten nichts; sie hatten das Gefühl, ihr Chef sei verrückt geworden.


›Strahlungswarnung‹, wiederholte der Anzug zum x-ten Mal. ›Die Strahlungswerte überschreiten das zulässige Maximum. Suchen Sie unverzüglich einen Schutzraum auf.‹

Pancho schwor sich, dass sie nach der Rückkehr nach Selene den Stimmensynthesizer aus diesem gottverdammten Anzug reißen und gnadenlos darauf herumtrampeln würde.

Die linke Seite des Kugelhelms leuchtete nun in kräftigem Rosa. Ich absorbiere genug Strahlung, um einen Konzertsaal zu beleuchten, sagte sie sich. Die Erinnerung an Dan Randolphs Tod durch die Strahlenkrankheit drängte sich ihr ins Bewusstsein wie eine düstere Vorahnung von Dingen, die da kommen würden. Sie sah Dan auf seiner Koje liegen, zu schwach, um auch nur den Kopf zu heben, schweißgebadet, mit blutendem Mund, während ihm das Haar büschelweise ausfiel — so war er gestorben, während Pancho hilflos zuschaute, ohne etwas für ihn tun zu können.

Mach dich schon mal auf einiges gefasst, knurrte sie innerlich.

Ihr flotter Trab hatte sich zu einer gemächlichen Gangart verlangsamt, aber sie ging noch immer zielstrebig am Fuß der Kuppel entlang. Man weiß erst dann, wie groß etwas wirklich ist, wenn man darum herumgehen muss, sagte sie sich. Zu Fuß erscheint alles größer.

Und da war es! Hinter der Krümmung der Kuppel sah sie ein, dann zwei und schließlich drei Raumfahrzeuge, die auf Beton-Startrampen standen. Sie erkannte das kleine grüne Raumboot, das sie von der etwa hundert Klicks entfernten Astro-Basis hergebracht hatte.

Ob sie Wachen um die Vögel postiert haben, fragte Pancho sich, ohne die Annäherung an die Startrampen jedoch zu verlangsamen.

Nein, gab sie sich selbst die Antwort. Nicht in diesem Sturm. Das wäre ein Himmelfahrtskommando. Nicht einmal Yamagata würde so etwas von seinen Leuten verlangen. Hoffe ich zumindest, ergänzte sie dann.

Von der Verfärbung im Helm und der enervierenden ständigen Warnung der synthetischen Stimme abgesehen, gab es weder ein sichtbares noch fühlbares Anzeichen für den Strahlensturm. Pancho ging auf dem felsigen, öden Mond-Bergrücken entlang und wirbelte mit jedem Schritt kleine Staubwolken auf. Außerhalb des nanogefertigten Gewebes des Softsuits war nichts als Vakuum — ein Vakuum, das einige tausend Mal höher war als das Vakuum im niedrigen Erdorbit. Instinktiv richtete sie den Blick nach oben zur Erde, doch der schwarze Himmel war leer. Nur ein paar der hellsten Sterne schienen durch den getönten Helm. Von Selene aus kann man die Erde immer sehen, sagte sie sich. Vielleicht ist das ein Vorteil gegenüber dieser polaren Position, den wir bislang noch gar nicht berücksichtigt haben.

Sie beschleunigte den Schritt zum Raumboot, empfand das dann aber als zu ermüdend. Oh, oh, sagte sie sich.

Müdigkeit ist eins der ersten Anzeichen der Strahlenkrankheit.

Sie wusste, dass das Vakuum nicht leer war. Ein reißender Strom von subatomaren Partikeln prasselte auf sie nieder: hauptsächlich energiereiche Protonen. Der Anzug absorbierte zwar einen Teil davon, doch die meisten drangen durch, kollidierten mit den Atomen ihres Körpers und zertrümmerten Millionen von ihnen. Als sie wieder einen Blick auf den Farbklecks im Helm warf, sah sie, dass er vom hellen Rosa zu einem intensiven Kastanienbraun gewechselt war.

Meine Güte, rief Pancho stumm, die Strahlungswerte gehen zurück.

›Strahlungswarnung‹, wiederholte der Anzug schon wieder. ›Die Strahlungswerte überschreiten das zulässige Maximum. Suchen Sie unverzüglich einen Schutzraum auf.‹

»Ich geh ja schon«, grummelte Pancho. »Ich geh ja schon.«

Die Strahlung schwächt sich ab. Der Sturm flaut ab. Vielleicht werde ich es doch noch schaffen. Doch dann sagte sie sich, dass Yamagata vielleicht ein paar Schergen zu den Startrampen schicken würde, wenn die Strahlungswerte sich verringert hatten. Trotz der Schmerzen in den Beinen und im Rücken zwang sie sich, schneller zu gehen.

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