Die Starlight war ein unabhängiger Frachter. Seit Jahren hatte er zwischen Ceres und Selene verkehrt, Erzladungen im Gürtel übernommen und sie dann auf einer langen Ellipse gemächlich zu den wartenden Fabriken auf dem Mond und im Erdorbit transportiert. Seine Eigner, ein Ehepaar aus Murmansk, hatten die großen Konzerne konsequent gemieden; sie hatten es vorgezogen, mit dem Transport von Erz einen bescheidenen Lebensunterhalt zu verdienen und sich ansonsten aus allem herauszuhalten. Ihre Besatzung bestand aus zwei Söhnen mitsamt Schwiegertöchtern. Auf der letzten Reise nach Selene hatten sie sich eine Woche länger Zeit gelassen als sonst üblich, damit ihr erstes Enkelkind — ein Mädchen — in einer Klinik der Mondstadt zur Welt kam. Und nun kehrten sie, nachdem sie mit dem schreienden Baby zum Gürtel geflogen waren, wieder nach Selene zurück. Sie waren froh, den Kämpfen zu entkommen, bei denen schon so viele Astro- und HSS-Schiffe vernichtet worden waren.
Die Astro-Drohne hatte keinen Namen, bloß eine Kennung: D-6. Das D stand für Destroyer, Zerstörer. Es handelte sich um einen automatisierten Flugkörper, der von den Astro-Büros in Selene ferngelenkt wurde. Die Controller hatten die Anweisung, alle HSS-Schiffe anzugreifen, die sich dem Mond näherten. Die Controllerin, die an diesem Morgen Dienst tat, hatte eine Liste von HSS-Schiffen im Computer: komplett mit Namen, Leistungsdaten und Bauart-Spezifikationen. Sie hielt die Starlight für einen getarnten Humphries-Frachter und verbrachte den größten Teil des Morgens damit, das Schiff mit Radar- und Laser-Sonden abzutasten.
Astros Kommandozentrale wurde natürlich vor Humphries' Leuten geheim gehalten und auch vor Selenes Regierung, die darauf bestand, dass keinerlei Kampfhandlungen auf ihrem Hoheitsgebiet stattfanden. Also beobachtete die Controllerin die Starlight passiv, ohne zu versuchen, eine Funkverbindung mit dem Frachter herzustellen oder sich auch nur bei der Internationalen Astronauten-Behörde bezüglich Registrierung und Identität des Schiffs zu vergewissern.
Immerhin musste man der Controllerin zugute halten, dass sie D-6 anwies, Nahaufnahmen des sich nähernden Frachters zu machen. Leider war die Programmierung des Zerstörers noch neu und unerprobt; die Drohne war zu schnell in den Einsatz geschickt worden. Der Bordcomputer interpretierte den Befehl der Controllerin falsch. Statt mit einem schwachen Laserscan traf der Zerstörer die Starlight mit einem hochenergetischen Laserstrahl, der das Wohnmodul des Schiffes in der Mitte durchsägte und jeden an Bord tötete.
Pancho war gerade zum Südpol des Mondes unterwegs, als die Nachricht vom Starlight-Fiasko sie erreichte.
Sie flog in einer Rakete auf einer ballistischen Flugbahn zum Astro-Kraftwerk, das auf dem höchsten Berg der Malapert Range errichtet worden war. Der breite, sattelförmige Gipfel von Dickson — der höher war als der Everest — war wie die benachbarten Gipfel immer in Sonnenlicht getaucht. Astro-Arbeiter hatten die Bergspitze mit photo-voltaischen Zellen verkleidet. Die Elektrizität, die sie erzeugten, wurde durch kryonisch gekühlte Leitungen aus Mondaluminium über fast fünftausend Kilometer über das zerklüftete, kraterübersäte Hochland nach Selene transportiert.
Für die paar Minuten des parabelförmigen Fluges der Rakete nach Süden hing die Hand voll Passagiere schwerelos in den Sicherheitsgurten. Zu ihrer Überraschung verspürte Pancho eine leichte Übelkeit. Du bist zu lang hinter dem Schreibtisch gesessen, Mädchen, sagte sie sich. Das zukünftige Wachstum des Mondes würde mit größter Wahrscheinlichkeit in den Polarregionen stattfinden. Es gibt dort Wasservorkommen, und die Kraftwerke dort werden immer von der Sonne beschienen. So wäre eine kontinuierliche Energieversorgung gewährleistet — außer bei einer Erdfinsternis —, doch das würde nur ein paar Minuten pro Jahr ausmachen. Es war ein Fehler gewesen, Selene in der Nähe des Äquators zu bauen.
Es hatte aber als eine Regierungsoperation angefangen. Moonbase. Irgendein Erbsen zählender Bürokrat hatte geglaubt, ein paar Pennys Treibstoffkosten einsparen und in Äquatornähe anstatt in einer Polarregion bauen zu müssen. Man wählte Alphonsus aus, weil es Schlote im Boden des Kraters gab, aus denen hin und wieder Methan ausgaste. Eine Milchmädchenrechnung! Wasser wird gebraucht, und die Eisvorkommen an den Polen beherbergen das Wasser. Und selbst das ist nicht genug. Wir müssen Wasser von den Felsenratten kaufen.
Als das Raketenflugzeug die Bremsraketen zündete und zur Landung auf dem Astro-Stützpunkt ansetzte, warf Pancho noch einen Blick aus dem Fenster auf die Baustelle im Shackleton Krater, die etwas mehr als hundert Kilometer entfernt war. Nairobi hat das benötigte Geld aufgetrieben, sagte sie sich. Sie hatte ihren Fortschritt in den Wochenberichten verfolgt, die ihr Personal erstellte, doch der Anblick der realen Anlage, die auf dem Kraterboden sich ausdehnte, beeindruckte sie mehr als alle schriftlichen Berichte oder Bilder. Woher haben die das Geld, fragte sie sich. Ihre besten Ermittler waren nicht fähig gewesen, eine zufrieden stellende Antwort zu finden.
Sie hatte einen der neuen Nanomaschinen-Raumanzüge dabei — er lag zusammengefaltet in der Reisetasche. Stavenger hatte sie auch mit einem Nanogewebe-Helm ausgerüstet, den man wie einen Luftballon aufblasen konnte. Pancho hatte ihn zwar eingepackt, war aber entschlossen, einen herkömmlichen Kugelhelm zu benutzen, wenn sie schon den Softsuit tragen musste.
Es bestand aber keine Notwendigkeit für einen Raumanzug. Bei der Landung der ballistischen Rakete schlängelte ein flexibler Tunnel sich von der Hauptluftschleuse der Basis zur Schiffsluke. Pancho ging auf dem schwammartigen Boden zur Luftschleuse, wo der Stützpunkt-Kommandant schon auf sie wartete. Er wirkte etwas nervös, weil er nicht genau wusste, wieso der CEO des Konzerns diese Stippvisite in seinen Zuständigkeitsbereich unternahm.
Pancho ließ sich von ihm durch die Basis führen; sie unterschied sich kaum von den anderen Einrichtungen auf dem Mond, die sie bereits gesehen hatte. Die Anlage befand sich fast völlig unter der Mondoberfläche; die Arbeiten an der Oberfläche, die in der Wartung der Solarzellen und Fertigung neuer Elemente bestanden, wurden von Robotern erledigt, die aus der Sicherheit der unterirdischen Büros ferngesteuert wurden.
»Leider können wir Ihnen hier unten nicht den gleichen Luxus wie in Selene bieten«, erklärte der Stützpunkt-Kommandant, »aber die Grundbedürfnisse vermögen wir durchaus zu erfüllen.«
Sprach's und führte Pancho in einen kleinen, niedrigen Konferenzraum, in dem sich bereits seine hochrangigen Mitarbeiter versammelt hatten. Sie fieberten der Begegnung mit der Vorstandsvorsitzenden entgegen und vermochten es kaum zu erwarten, den Grund für ihren Besuch zu erfahren. Der Konferenztisch war mit belegten Broten und Getränken bestückt, und mitten auf dem Tisch war ein maßstabsgetreues Modell der Basis platziert.
Weil es nicht genug Stühle für alle gab, blieb Pancho stehen. Sie aß ein Sandwich, nippte an einem Plastikbecher mit Fruchtsaft und plauderte ungezwungen mit den Leuten — von denen keiner sich zu setzen wagte, während der CEO stehen blieb.
Schließlich stellte sie den leeren Saftbecher auf den Tisch. Wie aufs Stichwort verstummten alle Gespräche, und alle drehten sich zu ihr um.
Sie grinste sie an. »Ihr fragt euch sicher, wieso ich bei euch hereinschneie«, sagte Pancho in ihrem Westtexas-Akzent, um eine entspannte Atmosphäre zu schaffen.
»Es kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass die Vorstandsvorsitzende des Unternehmens uns einen Besuch abstattet«, erwiderte der Stützpunkt-Kommandant. Ein paar Leute kicherten nervös.
»Nun«, sagte Pancho, »um die Wahrheit zu sagen, ich bin neugierig, was eure neuen Nachbarn so vorhaben. Weiß jemand von euch, wie ich eine Einladung für den Nairobi-Komplex bekomme?«