Das Schiff ist optimal für den Einsatz gerüstet, sagte Dorik Harbin sich: kaum noch Treibstoff, keine Panzerung und knapp an Proviant.
Harbin saß auf dem Kommandantensitz auf der Brücke der Samarkand und richtete den Blick nun vom Hauptbildschirm auf das dicke Quarz-Bullauge, das links von ihm eingelassen war. Sie waren Chrysallis schon so nah, dass er das Habitat ohne Vergrößerung ausmachen konnte; der Kreis aus verbundenen metallbeplankten Modulen schimmerte schwach im Licht der fernen Sonne — ein winziger Funke menschlicher Wärme vor dem Hintergrund der kalten, stummen Finsternis des unendlichen Raums.
»Ich habe Kontakt mit Chrysallis, Sir«, sagte seine Nach-richtentechnikerin und drehte sich auf dem Sitz halb zu Harbin um.
»Hauptschirm«, befahl er.
Das Gesicht einer Frau erschien auf dem Schirm — asketisch schmal, mit hohen Wangenknochen, raspelkurzem Haar und schwarzen Mandelaugen voller Argwohn.
»Identifizieren Sie sich bitte«, sagte sie. Ihre Stimme klang höflich, hatte aber einen metallischen Unterton. »Wir empfangen keine Telemetrie-Daten von Ihnen.«
»Sie brauchen auch keine«, sagte Harbin und fuhr sich reflexartig mit der Hand durch den struppigen dunklen Bart. »Wir sind auf der Suche nach Lars Fuchs. Übergeben Sie ihn an uns, und wir werden Sie in Ruhe lassen.«
»Fuchs?« Die Verwirrung der Frau war echt. »Er ist nicht hier. Er ist im Exil. Wir würden ihn nicht …«
»Keine Lügen«, blaffte Harbin. »Wir wissen, dass Fuchs Ihr Habitat ansteuert. Ich will ihn.«
Ihr Ausdruck wechselte von Überraschung zu Verärgerung. »Wie sollen wir ihn überstellen, wenn er überhaupt nicht hier ist?«
»Wer hat bei Ihnen das Kommando?«, fragte Harbin schroff. »Ich will mit Ihrem Kommandeur sprechen.«
»Das wäre Big George. George Ambrose. Er ist unser Chef-Administrator.«
»Holen Sie ihn.«
»Er ist nicht hier.«
Harbins Kiefer mahlten. »Machen Sie Witze oder wollen Sie, dass ich das Feuer eröffne?«
Ihre Augen weiteten sich. »George ist auf der Elsinore. Er begrüßt eine wichtige Persönlichkeit von Selene.«
»Stellen Sie mich zu ihm durch.«
»Ich will's versuchen«, sagte die Frau missmutig.
Der Monitor wurde dunkel. »Hat sie mich rausgeschmissen?«, wandte Harbin sich an seine Nachrichtentechnikerin.
Die Technikerin zuckte die Achseln. »Vielleicht nicht absichtlich.«
Harbin war anderer Ansicht. Sie spielen auf Zeit. Wieso? Ob sie wissen, dass wir fast keinen Treibstoff mehr haben? Wieso schalten sie auf stur?
»Zeigen Sie mir die ums Habitat geparkten Schiffe«, sagte er laut.
Die Technikerin murmelte etwas ins Pin-Mikrofon an ihren Lippen, und der Hauptschirm erhellte sich. Chrysallis tauchte als ein Kreis in der Bildmitte auf. Harbin zählte elf Schiffe in konzentrischen Umlaufbahnen. Eins davon wurde als Elsinore, ein Fusions-Passagierschiff identifiziert. Bei den anderen schien es sich um Frachter, Erztransporter und Versorgungsschiffe zu handeln.
Wir werden uns den benötigten Treibstoff und die Vorräte von ihnen holen müssen, sagte Harbin sich. Wenn wir Fuchs gefunden haben.
Er rief das Manifest der Elsinore auf. Auf die Astro Corporation zugelassen. Gerade von Selene gekommen. Keine Ladung. Nur einen Passagier an Bord, eine gewisse Edith Elgin von Selene.
Von Selene, sagte er sich. Wer würde den Aufwand bezahlen, für nur einen Passagier ein Fusionsschiff von Selene nach Ceres zu entsenden? Lars Fuchs muss an Bord dieses Schiffs sein. Er muss dort sein. Der Passagier, der auf dem Manifest als Edith Elgin ausgewiesen ist, muss ein Deckname für Fuchs sein.
Es muss so sein.
Harbin erhob sich vom Kommandantensitz. »Übernehmen Sie das Kommando«, sagte er zum Piloten. »Ich bin gleich wieder zurück. Wenn der Chef-Administrator von Chrysallis anruft, mir sofort Bescheid sagen.«
Er schlüpfte durch die Luke und ging die paar Schritte zur Tür seiner Privatkabine. Sie werden Fuchs nicht freiwillig ausliefern, sagte Harbin sich. Sie wissen vielleicht, dass wir kaum noch Treibstoff und Proviant haben, oder ahnen es zumindest. Vielleicht wollen sie uns hinhalten. Sie könnten noch ein paar Astro-Kampfschiffe zu Hilfe holen.
Er schaute auf sein Bett. Wie lang ist es her, dass ich geschlafen habe, fragte er sich. Egal, sagte er sich mit einem Kopfschütteln. Ich habe keine Zeit zum Schlafen. Er ging am Bett vorbei auf die Toilette. Dort öffnete er den kleinen Schrank, in dem er seine Medikamente aufbewahrte. Ich muss voll präsent und bei wachem Verstand sein, sagte er sich. Er nahm eine Ampulle und setzte sie auf die Hypospritze. Dann krempelte er den Ärmel auf, setzte die Sprüh-Pistole auf die Haut und betätigte den Abzug.
Er spürte nichts. Auf zwei Beinen steht man besser. Er setzte noch eine Ampulle auf die Hypospritze und jagte sich die zusätzliche Dosis in den Blutkreislauf.
Big George ging mit Edith Elgin durch den Korridor zur Hauptluftschleuse der Elsinore, wo sein Raumboot angedockt hatte.
»Sie werden keinen Raumanzug brauchen«, sagte George. »Wir steigen direkt ins Shuttle um und werden dann an Chrysallis andocken. Eine unkomplizierte Reise.«
Edith lächelte. Sie fand diesen großen, urigen Hünen mit dem wilden ziegelroten Haar und Bart sympathisch. Er würde auf dem Video gut rüberkommen.
»Ich bin schon ganz gespannt, wie die Felsenratten leben«, sagte sie. Insgeheim machte sie sich Vorwürfe, weil sie es versäumt hatte, sich mit einer Microcam verkabeln zu lassen, die automatisch ihrer Blickrichtung gefolgt wäre. Du musst immer schussbereit sein, sagte sie sich. Du lässt dir eine gute Gelegenheit entgehen.
»Äh … es sind nicht viele ratties im Habitat. Größtenteils sind hier Büroangestellte und Ladenbesitzer. Die echten Felsenratten sind draußen im Gürtel bei der Arbeit.«
»Obwohl der Krieg weitergeht?«, fragte sie.
George nickte. »Keine Arbeit, kein Essen.«
»Aber ist das nicht gefährlich? Die Schiffe müssen doch mit Angriffen rechnen?«
»Sicher ist es das. Aber …«
»EINE DRINGENDE NACHRICHT FÜR MR. AMBROSE«, drang es laut aus den Deckenlautsprechern.
George drehte den Kopf, machte ein Wandtelefon aus und eilte dorthin. Edith folgte ihm.
Ein totenkopfartiges Frauengesicht war auf dem kleinen Display des Wandtelefons zu sehen. »Ein unbekanntes Schiff ist in eine Parkbahn gegangen. Sie verlangen, dass wir Lars Fuchs an sie überstellen.«
»Lars ist nicht hier«, sagte George.
»Das habe ich ihm auch schon gesagt. Er hat daraufhin gesagt, entweder liefern wir Fuchs aus, oder er eröffnet das Feuer!«
»Verdammter Irrer«, knurrte George.
»Er will mit Ihnen sprechen.«
»Gut. Ich will nämlich auch mit ihm sprechen. Verbinden Sie mich mit ihm.«
Harbin fühlte sich ganz normal. Er war geistig voll präsent und bereit, sich mit diesen erbärmlichen Felsen-Ratten oder was für Feinden auch immer zu befassen, die ihm in die Quere kamen.
Er saß auf dem Kommandantensitz und schaute in die himmelblauen Augen eines Mannes mit einer feuerroten Löwenmähne und einem ebenso martialischen Bart.
Harbin strich sich über seinen akkurat gestutzten Bart und sagte: »Es ist eigentlich ganz einfach. Sie übergeben mir Fuchs oder ich werde Sie vernichten.«
»Wir haben Fuchs nicht«, sagte George Ambrose; er musste sichtlich an sich halten, um nicht die Beherrschung zu verlieren.
»Woher soll ich wissen, ob das stimmt?«
»Kommen Sie an Bord und schauen Sie selbst nach. Er ist nicht hier.«
»Er ist an Bord der Elsinore, machen Sie mir doch nichts vor.«
»Ist er nicht. Er ist nicht hier. Sie dürfen gern an Bord kommen und das Schiff von oben bis unten durchsuchen.«
»Ich bin doch nicht blöd. Sie haben ihn schon ins Habitat gebracht.«
»Dann durchsuchen Sie eben das Habitat!«
»Mit einem Dutzend Männer? Sie könnten ihn leicht vor uns verbergen.«
Ambrose lag eine zornige Bemerkung auf der Zunge, doch er verkniff sie sich und atmete erst einmal tief durch. »Hören Sie, wer immer Sie auch sind«, sagte er schließlich. »Die Chrysallis ist neutrales Territorium. Wir sind ungeschützt. Wir haben keine Waffen. Sie sind eingeladen, das Habitat auf Herz und Nieren zu überprüfen. Wir werden Ihr Schiff mit Proviant versorgen und Ihre Treibstofftanks auffüllen. Was soll ich Ihnen denn noch anbieten?«
»Lars Fuchs«, sagte Harbin unversöhnlich. Dieser sture Hund bringt mich noch zur Weißglut, sagte er sich. Er spürte, wie die Wut im tiefsten Innern aufkeimte wie heiße Magma, die sich einen Weg an die Oberfläche bahnte.
»Lars ist nicht hier!«, beteuerte Ambrose. »Er ist nicht einmal in der Nähe! Wir haben den armen, verdammten Bastard vor Jahren verbannt. Er ist hier eine Persona non grata.«
Harbin beugte sich auf dem Sitz vor; die Augen verengten sich zu Schlitzen, und die Hände ballten sich zu Fäusten. »Sie haben eine halbe Stunde, um Fuchs auszuliefern. Wenn Sie ihn mir bis dahin nicht überstellt haben, werde ich Ihr schönes Habitat und jeden darin vernichten.«