Asteroid Vesta

Obwohl der Militärstützpunkt auf Vesta Humphries Space Systems gehörte, bestand das Personal hauptsächlich aus Söldnern, die HSS aus mehreren Quellen angeheuert hatte. Leeza Chaptal war zum Beispiel eine Angestellte der Yamagata Corporation. Sie war de facto die Stützpunktkommandantin, denn der HSS-Mann, der nominell die Basis leitete, war ein Kaufmann — von Beruf Buchhalter und von Natur aus eine Krämerseele.

Leeza überließ ihm das elektronische Aktenwälzen, und er überließ es ihr, die ungefähr zweihundert Männer und Frauen zu führen, die das militärische Potenzial der Basis ausmachten: Ingenieure, Techniker, Astronauten, Soldaten. Das war eine kluge Arbeitsteilung.Der HSS-Mann befasste sich mit Zahlen, während Leeza die eigentliche Arbeit erledigte.

Wo der Sonnensturm tobte, gab es im Moment aber kaum etwas zu tun. Leeza hatte alle unter die Oberfläche beordert. Die Militärs vermochten in der Sicherheit der Höhlen und Tunnel tief unter der Oberfläche kaum etwas anderes zu tun, als die routinemäßige Wartung der Ausrüstung durchzuführen und im Übrigen der ältesten Beschäftigung des Soldaten zu frönen: zu warten.

Leeza selbst verursachte es auch Unbehagen, wie ein Maulwurf in seiner Höhle festzustecken. Wenn sie auch nur selten an die Oberfläche von Vesta ging, strapazierte es doch ihre Nerven, dass sie im Moment nicht an die Oberfläche gelangen konnte, diese engen kleinen, aus dem felsigen Leib des Asteroiden gefrästen Kammern nicht verlassen konnte und nicht einmal im Raumanzug auf dem kahlen, geröllübersäten Boden stehen und die Sterne anschauen konnte.

Sie ging langsam an den Konsolen in der Kommandozentrale der Basis entlang und schaute den gelangweilten Technikern über die Schulter, die an jedem Arbeitsplatz saßen. Sie sah, dass der Sturm abflaute. Die Strahlungswerte verringerten sich wieder. Gut, sagte sie sich. Je eher das zu Ende ist, desto besser. Vier HSS-Schiffe hingen oben in Andock-Orbits und warteten auf einen Rückgang der Strahlung, damit sie die Besatzungen zur Basis bringen konnten. Und Dorik Harbin näherte sich in seinem Schiff, der Samarkand.

Dorik hatte sich ihr seit Wochen entfremdet; vielleicht war es an der Zeit, sich ihm wieder anzunähern. Leeza lächelte innerlich über den Gedanken. Sie wusste, es passte ihm nicht, dass sie einen höheren Rang hatte als er. Aber gib ihm ein paar von den richtigen Pillen, und er vergisst alle Hierarchien. Oder vielleicht sollte ich etwas ausprobieren, das ihn gehorsam und unterwürfig macht. Sie entschied sich dagegen. Ich liebe seine Leidenschaft, seine Wildheit. Wenn man ihm das nimmt, ist er nichts Besonderes mehr.

»Unbekanntes Flugobjekt nähert sich«, sagte der Radar-Techniker.

Leeza spürte ein Prickeln auf der Kopfhaut. Wenn das Radar etwas durch diese Strahlenwolke auffasste, musste es nah sein — sehr nah.

»Zwei Flugobjekte«, rief der Techniker, als Leeza zu ihrem Platz eilte.

Sie rasten auf Vesta zu und waren schon so nah, dass der Computer Größe und Geschwindigkeit berechnen konnte. Zu klein für Kriegsschiffe, sah Leeza beim schnellen Blick auf die Zahlen, die am unteren Bildschirmrand entlangliefen. Kernwaffen? Atombomben können uns kaum schaden, solange wir hier unten festsitzen. Zum ersten Mal war sie froh über den Sonnensturm.

»Sie werden einschlagen«, sagte der Techniker.

»Ja, ich sehe es«, erwiderte Leeza ruhig.

Die zwei sich nähernden Flugkörper zündeten im letzten Moment Bremsraketen und landeten fast weich auf dem harten, steinigen Boden. Eine Bruchlandung, sagte sie sich. Keine Explosion. Zeitsteuerung?

Sie ging ein paar Schritte zur Kommunikationskonsole. »Haben Sie eine Kamera in der Nähe der Stelle, wo diese zwei Flugkörper heruntergekommen sind?«

Die Kommunikationstechnikerin hatte die Szene bereits auf dem Hauptbildschirm. Sie war körnig und dunkel, aber Leeza sah dennoch die zerknüllten Trümmer von zwei kleinen Raketen auf dem kahlen Boden liegen.

»Ist das die höchste Vergrößerung, die Sie bekommen?«, fragte sie, beugte sich über die Schulter der Technikerin und schaute auf den Bildschirm.

Die Technikerin murmelte etwas über die Strahlung dort und hackte auf die Tastatur ein.

Das Bild verschwand.

»Gute Arbeit«, spottete Leeza.

»Ich kann nichts dafür«, rechtfertigte die Technikerin sich.

»Das Radar ist ausgefallen!«, rief der Radartechniker.

Leeza richtete sich auf und drehte sich in seine Richtung.

»Die Strahlungsmonitore sind ausgefallen.«

»Keine Reaktion von der Oberflächenkamera an der Absturzstelle«, sagte die Kommunikationstechnikerin. »He, nun sind noch zwei Kameras ausgefallen!«

Leeza drehte sich langsam im Kreis. Die Konsolen stellten der Reihe nach die Arbeit ein, die Bildschirme wurden dunkel, und rote Warnlampen leuchteten auf.

»Was geht dort oben vor?«, fragte Leeza.

Niemand antwortete.


Ein Hofstaat aus vierzehn Mitarbeitern von Humphries Space Systems betreute Martin Humphries auf dem Weg zwischen dem ausgebrannten Anwesen und der besten Suite im verfallenden Hotel Luna vier Ebenen über der ausgebrannten Felsenhöhle. Diensteifriges Personal — vom Leibarzt bis zu einer aparten blonden Verwaltungsassistentin mit einem strahlenden Lächeln aus HSS' Personalabteilung — wartete schon auf den ›Big Boss‹, als Quinlan und seine überraschte Partnerin Humphries durch die provisorische Luftschleuse in den untersten Gang von Selene halfen.

Der Leiter der Sicherheitsabteilung, der niemals lächelnde Grigor, stellte sich neben Humphries, als sie die Rolltreppe betraten.

»Ihre Assistentin, diese Ferrer …«

»Was ist mit ihr?«, fragte Humphries. Er befürchtete, dass Victoria das Feuer doch überlebt hatte und nun aller Welt erzählen würde, wie er sie im Stich gelassen hatte.

»Man hat ihre Leiche im oberen Gang gefunden«, sagte Grigor mürrisch. »An Rauchvergiftung gestorben.«

Eine Zentnerlast fiel Humphries vom Herzen. »Fuchs«, knurrte er dann. »Er ist dafür verantwortlich. Ich will, dass man mir seine Eier auf einem silbernen Tablett serviert.«

»Ja, Sir«, sagte Grigor. »Ich werde mich sofort darum kümmern.«

»Und feuern Sie diesen blöden Scheißkerl, der für die Sicherheit in meinem Haus verantwortlich war!«

»Unverzüglich, Sir.«

»Sie müssen sich ausruhen, Mr. Humphries«, sagte der Arzt milde tadelnd und legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Nach dieser Tortur …«

»Fuchs!«, keifte Humphries und schüttelte die Hand des Arztes ab. »Finden Sie ihn! Töten Sie den Bastard!«

»Wird gemacht, Sir.«

Humphries zeterte und schimpfte den ganzen Weg von der Rolltreppe in die luxuriöse Suite, die die Frau von der Personalabteilung für ihn reserviert hatte. Eine opulente Mahlzeit wartete auf einem Servierwagen im Salon. Humphries erteilte schroff Anordnungen und stellte Fragen, als er in die Suite stürmte und schnurstracks zur Toilette ging. Noch während er sich der verschwitzten Kleidung entledigte und sich unter die heiße Dusche stellte, schrie er die um ihn herumwuselnden Assistenten an.

»Noch etwas«, rief er aus der Dusche. »Schicken Sie meine Schadensachverständigen zum Anwesen runter und veranlassen Sie die Erstellung einer vollständigen Inventarliste. Das gottverdammte Feuer hat alles zerstört. Alles!«

Die Assistenten machten sich auf ihren Palmtops Notizen und huschten dann davon. Der Arzt wollte Humphries eine Beruhigungsspritze geben, aber er lehnte das ab.

»Aber Sie müssen sich doch ausruhen«, sagte der Arzt und retirierte vor dem Gezeter seines Brötchengebers.

»Ich werde mich ausruhen, wenn Fuchs' Leiche auf kleiner Flamme röstet«, erwiderte Humphries hitzig und schlüpfte in den Bademantel, in den der Leiter der Public Relations-Abteilung ihm hineinhalf.

Er stürmte ins Wohnzimmer, schaute grimmig auf das eigens für ihn angerichtete Essen und ließ dann den Blick über die Schar von Bediensteten, Assistenten und Managern schweifen.

»Raus! Sie alle! Verschwinden Sie, verdammt noch mal, von hier und lassen Sie mich in Ruhe!«

Sie eilten zur Tür.

»Sie!« Er wies auf Grigor. »Ich will Fuchs. Haben Sie mich verstanden?«

»Ich verstehe, Sir. Es ist schon so gut wie erledigt. Er kommt nicht von Selene weg. Wir werden ihn finden.«

»Sein Kopf oder Ihrer«, knurrte Humphries.

Grigor nickte mit einem noch verdrießlicheren Blick als üblich und zog sich mit einer veritablen Verbeugung zur Tür zurück.

Der Arzt stand unsicher mitten im Wohnzimmer; er hielt ein Fernmessgerät in der Hand. »Ich sollte Ihren Blutdruck messen, Mr. Humphries.«

»RAUS!«

Der Arzt zog sich zurück.

Humphries ließ sich auf die breite Couch fallen und betrachtete missmutig die abgedeckten Platten auf dem Servierwagen. Eine Flasche Wein — bereits entkorkt — stand in einem Kühler.

Er schaute auf und sah, dass alle gegangen waren. Alle außer der Blondine, die ihn von der Tür aus beobachtete.

»Wollen Sie, dass ich auch gehe?«, fragte sie mit einem warmen Lächeln.

Humphries lachte. »Nein.« Er klopfte aufs Sofakissen neben sich. »Setzen Sie sich zu mir.«

Sie war schlank, elfenhaft und trug ein Gewand, das die Schenkel nur zur Hälfte bedeckte. Humphries sah eine Tätowierung auf ihrem linken Knöchel: eine dornige Ranke mit einer roten Rose.

»Der Arzt hat gesagt, Sie sollten sich ausruhen«, sagte sie mit einem schelmischen Lächeln.

»Er sagte auch, dass ich ein Beruhigungsmittel brauche.«

»Und eine Mütze voll Schlaf.«

»Vielleicht können Sie mir dabei helfen«, sagte er.

»Ich werde mein Bestes tun.«

Er fand heraus, dass ihr Name Tatiana Oparin war, dass sie in seiner Personalabteilung arbeitete, dass sie ehrgeizig war und dass sie sich freuen würde, die verblichene Victoria Ferrer als seine persönliche Assistentin zu ersetzen. Er fand auch heraus, dass die Rose um den Knöchel nicht ihre einzige Tätowierung war.


Grigor Malenkovich — ein stiller, aber aufmerksamer Beobachter — registrierte, dass Tatiana in Humphries' Suite zurückblieb. Gut, sagte er sich. Sie erfüllt ihren Zweck. Während Humphries mit ihr zugange ist, kann ich die Suche nach Fuchs in die Wege leiten, ohne dass er mir im Nacken sitzt.

Ich werde im Krankenhaus anfangen, sagte er sich. Alle vier Einbrecher sind dorthin gebracht worden. Sie stehen unter Bewachung. Bei einem von ihnen handelt es sich ohne Zweifel um Fuchs. Und wenn nicht, dann weiß er zumindest, wo Fuchs ist.

Er ging schnurstracks zum Krankenhaus, nur um sich dann von Selenes Sicherheitsbeamten sagen zu lassen, dass alle Leute, die vom Brandort gerettet worden waren, sich in Sicherheitsverwahrung befanden.

»Ich will ihnen nur ein paar Fragen stellen«, sagte Grigor.

Die Frau im korallenroten Overall von Selene lächelte ihn geduldig an. »Morgen, Mr. Malenkovich. Sie dürfen dabei sein, wenn wir sie befragen.«

Grigor zögerte für einen Moment und fragte dann: »Wieso nicht gleich? Wozu noch warten?«

»Die Mediziner sagen, dass sie Nachtruhe brauchen. Einer von ihnen wurde verwundet, müssen Sie wissen, und sie alle haben ziemlich viel durchgemacht.«

»Umso besser. Befragen Sie sie, solange sie müde und erschöpft sind.«

Die Frau lächelte wieder, diesmal aber gezwungen. »Morgen, Mr. Malenkovich. Sobald die Ärzte ihre Zustimmung erteilen. Wir werden morgen mit ihnen sprechen.«

Grigor ließ sich das durch den Kopf gehen. Es hatte keinen Sinn, sich mit Selenes Sicherheitsdienst anzulegen, sagte er sich. Außerdem genießt Humphries auch eine gute Nachtruhe — oder besser gute ›Nachtaktivitäten‹ …


»Sie können doch nicht ohne Genehmigung Patienten aus dem Krankenhaus holen«, sagte der jugendliche Arzt. Er hatte einen jungenhaften dunkelbraunen Pony. Wanamaker sagte sich, dass er beim weiblichen Krankenhauspersonal sicher gut ankam.

Er setzte seinen strengsten und grimmigsten Gesichtsausdruck auf.

»Das ist eine sicherheitsrelevante Angelegenheit der Astro Corporation«, insistierte er mit leiser, aber eisenharter Stimme.

Sie standen in der Aufnahme des Krankenhauses, einem wenig mehr als hüfthohen Schalter mit einem Computerterminal. Der Arzt war vom Computer angefordert worden, der das Zentrum normalerweise ohne menschliches Eingreifen führte. Wanamaker hatte bis Mitternacht gewartet, um Fuchs und seine Leute aus dem Krankenhaus herauszuholen. Die Nachtschicht war minimal besetzt. Er hatte sechs der größten und bärbeißigen Astro-Angestellten mitgebracht, die er aufzutreiben vermochte. Zwei von ihnen arbeiteten wirklich in der Sicherheits-Abteilung. Bei den anderen vier handelte es sich um zwei Mechaniker, einen Trainer von Astros privatem Fitness-Club und eine Vorstandsköchin.

Der Arzt schaute unsicher auf den Identifizierungs-Chip, den Wanamaker ihm auf Armlänge entgegenhielt. Er hatte ihn schon durchs Computerterminal der Aufnahme geführt und die Bestätigung erhalten, dass Jacob Wanamaker der Chef der Sicherheitsabteilung der Astro Corporation war.

»Ich sollte die Sicherheitsabteilung von Selene anrufen«, sagte der Arzt.

»Bewachen sie die vier denn nicht?«, fragte Wanamaker im Kasernenhofton — obwohl er ganz genau wusste, dass sie von einem seiner Leute abgezogen worden waren, der sich in ihr EDV-System gehackt hatte.

»Nicht in dieser Schicht«, sagte der Arzt. »Sie werden morgen um null acht hundert zurückkommen.«

»In Ordnung«, sagte Wanamaker. »Ich werde das morgen mit ihnen regeln. Fürs Erste habe ich die Anweisung, die vier zum Astro-Hauptquartier zu bringen.«

Wenn dieser junge Hund nicht nachgibt, werde ich ihn außer Gefecht setzen müssen, sagte Wanamaker sich. Er wollte das aber nicht tun. Er wollte, dass die Sache reibungslos über die Bühne ging.

Das Gesicht des jungen Mannes war zu glatt, um richtig die Stirn zu runzeln, aber er verzog das Gesicht und sagte:

»Dieses Krankenhaus untersteht dem Regierungsrat von Selene und nicht Astro oder sonst einem Konzern.«

Wanamaker nickte wissend. »Also gut. Setzen Sie sich mit Ihrem Regierungsrat in Verbindung und holen Sie die Zustimmung ein.«

Der Arzt warf einen Blick auf die Wanduhr. »Es ist fast ein Uhr nachts!«

»Ja, stimmt!«

»Sie werden alle schlafen.«

»Dann werden Sie sie eben wecken müssen.« Wanamaker hoffte inständig, dass der Junge nicht ernsthaft erwog, Selenes Sicherheitsabteilung anzurufen. Dann hätte er wahrscheinlich ein ernstes Problem.

»Wieso rufen Sie nicht Doug Stavenger an?«, schlug Wanamaker dem unschlüssigen Arzt vor.

»Mr. Stavenger?« Der Arzt machte große Augen. »Er weiß darüber Bescheid?«

»Er hat sein Einverständnis gegeben«, log Wanamaker.

»Aber …«

»Gibt es irgendeinen medizinischen Grund, aus dem sie noch im Krankenhaus bleiben müssten?«, fragte Wanamaker.

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nein, sie hätten morgen sowieso entlassen werden sollen.«

»Na bitte. Geben Sie mir die Entlassungspapiere, und ich werde sie unterzeichnen.«

»Ich weiß nicht …«

Wanamaker wartete nicht länger. Er schob sich einfach an dem verwirrten jungen Arzt vorbei. Seine sechs Untergebenen folgten ihm in Reihe und versuchten so finster zu blicken, wie Wanamaker sie angewiesen hatte.

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