Habitat Chrysallis

Victoria Ferrer fühlte sich ausgesprochen unwohl im Habitat der Felsenratten, das sich in einer Umlaufbahn um den Asteroiden Ceres befand. Obwohl sie so dezent wie möglich gekleidet war, hatte sie trotzdem das Gefühl, dass jede ihrer Bewegungen beobachtet wurde.

Das Habitat selbst war recht bequem. Es herrschte hier die gleiche Schwerkraft wie auf dem Mond oder zumindest fast die gleiche, sodass sie keinen Unterschied bemerkte. Als Gast hatte Ferrer eine kleine, aber gut ausgestattete Kabine für sich allein; und die angrenzende Kabine stand ihr als Büro zur Verfügung. Es gab eine Küche im nächsten Segment des Habitats und sogar ein passables Restaurant auf der anderen Seite der radförmigen Konstruktion. Mit ihrem Spesenkonto konnte sie es sich leisten, die meisten Mahlzeiten im Restaurant einzunehmen.

Ferrer hatte immer geglaubt, dass die Felsenratten schmuddelige, zudringliche Rocker-Typen wären; Prospektoren und Bergleute am Rand der menschlichen Zivilisation, schräge Vögel, die in der riesigen dunklen Leere des Gürtels ihr einsames Dasein fristeten und in einer Welt voller Gefahren überlebten. Zu ihrer Überraschung stellte sie jedoch fest, dass die meisten Einwohner von Chrysallis Ladenbesitzer, Buchhalter und Techniker waren, die im Service-Bereich arbeiteten. Sogar die echten Bergarbeiter und Prospektoren hatten eine technische Ausbildung genossen. Sie bedienten komplizierte Ausrüstung im Gürtel; sie mussten schließlich wissen, wie man ein Raumschiff am Laufen beziehungsweise Fliegen hielt, wenn das nächste Depot oder eine Reparaturwerft Millionen Kilometer entfernt war.

Aber sie starrten sie an. Sogar im schlichten Overall, den sie bis zum Kinn zugeknöpft hatte, spürte sie ihre Blicke auf sich. Frischfleisch, sagte sie sich. Ein neues Gesicht. Ein neuer Körper.

Sie war in doppelter Mission auf Ceres. Einmal rekrutierte sie aus der wachsenden Zahl arbeitsloser Bergarbeiter und Prospektoren Personal für die Söldnerarmee, die für den Krieg benötigt wurde. Und sie wartete auf die Rückkehr von Levinson und seiner Nanotech-Mannschaft, um die Ergebnisse ihres Feldversuchs auf einem realen Asteroiden zu sehen.

Es war ein Kinderspiel gewesen, Levinson bei der Stange zu halten. Bei jedem Treffen starrte er sie hungrig wie ein junger Hund an. Wenn er als strahlender Sieger zurückkehrt, wird er eine Belohnung von mir erwarten, sagte Ferrer sich. Es wird dann nicht mehr so leicht sein, ihn abzuwimmeln. Aber wenn er Erfolg hatte, kann ich ihn freundlich abblitzen lassen und ihm eine andere Frau schmackhaft machen. Es gibt weiß Gott genug Frauen hier auf Ceres, die glücklich wären, mit einem Wissenschaftler anzubandeln der sie zurück zur Erde mitnimmt.

Sie versuchte, die Besorgnis wegen Levinson zu verdrängen und sich auf den arbeitslosen Bergmann zu konzentrieren, der ihr am Schreibtisch gegenübersaß. Der gepflegte junge Mann versuchte zwar krampfhaft, sie nicht anzustarren, doch seine Augen wanderten immer wieder zur Vorderseite ihres formlosen Rundhalspullovers zurück. Mama und ihre verdammte Gentechnik, sagte Ferrer sich. Ich hätte alte Schlabber-Sweatshirts, oder noch besser, einen Raumanzug mitbringen sollen.

Sie hielt das Vorstellungsgespräch auf einer rein geschäftlichen Ebene, ohne andere Aspekte einfließen zu lassen. Humphries hatte sie hierher entsandt, um Leute für HSS-Schiffe zu rekrutieren, und sie war an nichts anderem interessiert.

»Ich verstehe Ihre Bedenken nicht«, sagte sie zu dem Bergmann. »Wir bieten Ihnen ein Spitzengehalt und noch dazu Sozialleistungen.«

Er machte einen guten Eindruck, sagte Ferrer sich: Er war frisch rasiert und mit einer gebügelten Hose und einem kragenlosen Hemd bekleidet. Sein Dossier auf dem Computer-Bildschirm sagte ihr, dass er Diplom-Ingenieur war und die letzten vier Jahre als Bergarbeiter unter Vertrag mit der Astro Corporation gearbeitet hatte. Er war vor einem Monat entlassen worden und hatte noch keinen neuen Job gefunden.

Er rutschte nervös auf dem Stuhl herum und erwiderte: »Sehen Sie, Ms. Ferrer, was hätte ich von dem hohen Gehalt und den Zulagen, wenn ich tot bin?«

Sie wusste, was er meinte, drang aber dennoch in ihn: »Wieso sagen Sie das?«

»Sie wollen mich als Besatzungsmitglied auf einem Ihrer HSS-Schiffe anheuern, stimmt's?«, fragte der Bergmann mit säuerlicher Miene. »Aber jeder weiß doch, dass HSS und Astro einen Kampf im Gürtel austragen. Fast jeden Tag werden Leute getötet. Da hänge ich lieber weiter hier in Chrysallis rum und warte auf einen vernünftigen Job.«

»Es gibt viele arbeitslose Bergarbeiter hier«, sagte Ferrer.

»Ja, weiß ich. Ein paar wurden entlassen — wie ich. Ein paar haben selbst gekündigt, weil der Gürtel langsam ein zu heißes Pflaster wird. Ich glaube, dass ich warten werde, bis ihr euren Krieg beendet habt. Sobald die Schießerei aufhört, werde ich wieder an die Arbeit gehen.«

»Das könnte aber ein langes Warten werden«, gab sie zu bedenken.

Er nickte. »Ich würde lieber langsam verhungern, anstatt plötzlich getötet zu werden«, erwiderte er mit gerunzelter Stirn.

Ferrer gab sich geschlagen. »Na gut. Wenn Sie Ihre Meinung doch noch ändern sollten, setzen Sie sich bitte mit uns in Verbindung.«

Der Bergmann stand eilig auf, als sei er froh, endlich gehen zu dürfen. »Verlassen Sie sich nicht darauf«, sagte er.

Ferrer führte an diesem Nachmittag noch zwei Interviews mit genau demselben Ergebnis. Bergarbeiter und Prospektoren gaben ihre Jobs auf, um vor den Kämpfen zu fliehen. Chrysallis füllte sich mit arbeitslosen Felsenratten. Die meisten hatten ihre kümmerlichen Ersparnisse bereits aufgebraucht und waren nun auf das kärgliche Arbeitslosengeld angewiesen, das Chrysallis' Regierungsrat ihnen gewährte. Kaum jemand war bereit, eine Stelle an Bord eines HSS-Schiffs anzutreten. Aber auch nicht bei Astro, wie Ferrer mit einer gewissen Genugtuung feststellte. Von den vierzehn Männern und Frauen, die bei ihr zu einem Vorstellungsgespräch erschienen waren, hatten nur zwei sich verpflichtet — alleinerziehende Mütter. Alle anderen hatten ihr Angebot rundweg abgelehnt.

Lieber langsam verhungern, als plötzlich getötet zu werden. Das war ihre einhellige Meinung.

Ferrer saß am Ende des Tages allein in ihrem Büro. Ich werde Humphries Bericht erstatten müssen, sagte sie sich und seufzte schwer. Es wird ihm nicht gefallen, was ich ihm zu berichten habe.


Levinson war froh, wieder aus dem Raumanzug zu sein. Fröhlich pfeifend ging er von der Luftschleuse des Fusionsschiffs zur Kabine, die man ihm zugewiesen hatte. In zwei Tagen sind wir wieder in Ceres, und dann fliegen Vickie und ich mit einem Fusionsschiff zurück nach Selene. Ich wette, wir verbringen den ganzen Flug zusammen in der Koje.

»Man soll an Bord eines Schiffs nicht pfeifen«, sagte eine Technikerin, die hinter ihm den Gang entlangkam. »Man sagt, das bringt Unglück.«

Levinson grinste sie an. »Das ist ein alter Aberglaube«, sagte er.

»Nein, ist es nicht. Es geht auf die Zeit der Segelschiffe zurück, als Befehle mit einer Pfeife gegeben wurden. Deshalb sollte die Besatzung nicht außer der Reihe pfeifen, um das System der Nachrichtenübermittlung nicht zu stören.«

»Spielt hier aber keine Rolle mehr«, sagte Levinson von oben herab.

»Trotzdem gilt es …«

»NOTFALL«, plärrte der Deckenlautsprecher. »DRUCKVERLUST IN DER HAUPTLUFTSCHLEUSEN-ABTEILUNG.«

Das Blut gefror Levinson in den Adern. Die luftdichte Luke des Durchgangs schlug zu. Er bekam weiche Knie.

»Mach dir nicht in die Hose«, sagte die Technikerin mit einem anzüglichen Grinsen. »Das ist wahrscheinlich nur ein kleiner Defekt.«

»Aber die Luke. Wir sind hier gefangen.«

»Nein. Du kannst die Luke manuell öffnen und in deine Unterkunft gelangen. Kein Grund, dich nass zu machen.«

In diesem Moment schwang die Luke auf, und zwei Crew-Mitglieder schoben sich in Richtung Luftschleuse an ihnen vorbei. Sie wirkten eher gereizt als erschrocken.

Levinson, der sich nur unwesentlich besser fühlte, folgte der Technikerin durch die Luke zu seiner Koje. Als die Luke automatisch wieder zuschlug, machte er einen Satz wie ein erschrecktes Kaninchen.

Er öffnete gerade die Faltschiebetür, als der Deckenlautsprecher blökte: »DR. LEVINSON SOFORT AUF DER BRÜCKE MELDEN.«

Levinson wusste nicht genau, wo die Brücke war, aber er glaubte, dass es der Gang weiter oben war, der durch das Wohnmodul verlief. Er lief an zwei weiteren geschlossenen Luken vorbei, wobei ihm das Blut in den Ohren rauschte, und betrat schließlich das, was offensichtlich die Brücke war. Der Kapitän des Schiffes stand mit dem Rücken zur Luke — halb über die Rückenlehnen zweier Stühle gebeugt, auf denen Besatzungsmitglieder saßen. Alle drei Männer beobachteten aufmerksam die Anzeigen an der Schalttafel.

Die Luke schlug hinter ihm zu, und er zuckte wieder zusammen. Der Kapitän wirbelte mit grimmigem Gesicht zu ihm herum.

»Es sind Ihre gottverdammten Wanzen! Sie fressen mein Schiff auf!«

Levinson wusste, dass das nicht wahr sein konnte. Diese Raketenaffen mit ihren Erbsenhirnen! Immer wenn irgendetwas schief geht, machen sie den nächsten Wissenschaftler dafür verantwortlich.

»Die Nanomaschinen sind auf dem Asteroiden«, sagte er mit großer Ruhe und Würde. »Oder was davon noch übrig ist. Sie können unmöglich an Bord Ihres Schiffs sein.«

»Sind sie doch, zum Teufel!«, brüllte der Kapitän und wies anklagend mit dem Finger auf die Anzeigen der Konsole. Levinson sah die roten Lampen.

»Sie konnten doch nicht …«

»Sie waren in dieser Staubwolke, stimmt's?«

»Nun ja, vielleicht ein paar«, gestand er.

»Und das lose Ende Ihrer abgefuckten Leine ist in der Wolke herumgeschlackert, richtig?«

Levinson setzte zu einer Antwort an, doch sein Mund war so trocken, dass er kein Wort hervorbrachte.

»Sie haben die verfluchten Scheißdinger in mein Schiff eingeschleppt, verdammt noch mal!«

»Aber … aber …«

»Die Biester fressen die Luftschleusen-Abteilung auf! Sie nagen das Metall der Hülle an, um Gottes willen!« Der Kapitän kam mit geballten Fäusten und zornrotem Gesicht auf Levinson zu. »Sie müssen sie aufhalten!«

»Sie werden von selbst wieder aufhören«, sagte Levinson. Er wich einen Schritt zurück und stieß gegen die geschlossene Luke. »Ich habe eine Zeitschaltung in sie integriert. Sobald das Zeitlimit erreicht ist, geht ihnen die Energie aus, und sie schalten sich von selbst ab.«

Der Kapitän holte tief Luft. Sein Gesicht nahm fast wieder die normale Farbe an. »Sie werden gestoppt?«

»Ja, Sir«, sagte Levinson. »Automatisch.«

»Und wann?«

Levinson schluckte. »In achtundvierzig Stunden«, würgte er heraus.

»Achtundvierzig Stunden?«, brüllte der Kapitän.

Levinson nickte und duckte sich.

Der Kapitän wandte sich wieder den zwei an der Konsole sitzenden Besatzungsmitgliedern zu. »Nehmt Kontakt mit Chrysallis auf. Schildert ihnen unsere Situation.«

»Sollen wir ihnen sonst noch etwas mitteilen, Sir?«, fragte das Besatzungsmitglied auf dem linken Sitz.

Der Kapitän verharrte für einen Moment in stiller Wut und murmelte dann: »Ja. Verlest euren letzten Willen. Wir werden hier sterben. Wir alle.«

Levinson machte sich nun doch in die Hose.

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