Selene: Suite im Hotel Luna

Pancho fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Von einem Sturm der Gefühle wegen Amanda Humphries aufgewühlt, streifte sie durch die Räume und Korridore ihrer Hotelsuite.

Amanda hatte sich über die Jahre daran gewöhnen müssen, dass sie sich als Vorstandsvorsitzende eines der größten Konzerne im Sonnensystem Luxus zu leisten vermochte. Erst als ihre jüngere Schwester zu der Fünfjahres-Expedition zum Saturn aufbrach, kam ihr schließlich die Erkenntnis: Schwesterherz ist nun auf sich allein gestellt, und ich bin nicht mehr für sie verantwortlich. Ich kann nun so leben, wie ich es will.

Sie änderte ihren Lebensstil, aber nur geringfügig. Ihre Garderobe verbesserte sich, aber auch nur in bescheidenem Rahmen. Sie wurde keine Partylöwin und fand auch keine Erwähnung in den Klatschspalten der Boulevardzeitungen. Sie engagierte sich nach wie vor als Vorstandsvorsitzende der Astro Corporation und verbrachte genauso viel Zeit in Fabriken und Labors wie in Büros und Konferenzräumen. Sie kannte noch immer alle Abteilungsleiter und viele Manager der mittleren Ebene mit Vornamen — quasi wie alte Kumpels.

Die einzige sichtbare Veränderung betraf ihr Domizil. Jahrelang hatte Pancho mit ihrer Schwester in zwei aneinander angrenzenden Zweiraum-Apartments im dritten Untergeschoss von Selene gelebt. Und wenn sie zur Erde reiste, wohnte sie in firmeneigenen Suiten. Nach dem Abflug ihrer Schwester verspürte Pancho für ein paar Monate ein Gefühl der Einsamkeit und glaubte sich von der Schwester verraten, die sie selbst großgezogen hatte — zweimal sogar, denn Schwesterherz war gestorben und jahrelang tiefgekühlt konserviert worden, während Pancho über ihren Sarkophag gewacht und auf ein Heilmittel gegen den Krebs gewartet hatte, der sie das erste Leben gekostet hatte.

Nachdem Schwesterherz aus dem Flüssigstickstoff-Bad wieder ins Leben zurückgeholt worden war, hatte Pancho ihr alles noch einmal von Anfang an beibringen müssen: zu laufen, die Toilette zu benutzen, zu sprechen und wieder das Leben eines Erwachsenen zu führen. Und dann entschwand das Kind mit einem Team von Wissenschaftlern samt Hilfspersonal zum fernen Saturn, um das zweite Leben in Unabhängigkeit zu führen — so weit wie möglich von der großen Schwester entfernt.

Schließlich wurde Pancho sich jedoch bewusst, dass sie nun auch ein unabhängiges Leben zu führen vermochte. Also machte sie zum ersten Mal in ihrem Leben, was sie wollte. Sie mietete ein paar Räumlichkeiten vom fast bankrotten Hotel Luna an und engagierte Baufirmen, die Wände und Böden herausrissen und ihr ein großzügiges, modernes Heim schufen, das perfekt auf ihre Persönlichkeit zugeschnitten war. Die extra hohen Decken waren ein ganz besonderer Luxus; niemand sonst in Selene erfreute sich solch einer lichten Weite, nicht einmal Martin Humphries in seinem palastartigen Anwesen.

Manche Leute sagten, dass sie mit Humphries wetteiferte und beweisen wollte, dass auch sie ein opulentes Leben zu führen vermochte. Dieser Gedanke war Pancho indessen noch nie gekommen. Sie hatte einfach nur beschlossen, sich das Heim ihrer Träume zu schaffen, und ihre Träume waren vielgestaltig.

In jedem Raum waren die Wände, Fußböden und Decken mit Smart Screens gepflastert. Pancho vermochte per Knopfdruck und sogar per Sprachbefehl die Kulisse, das Ambiente und sogar den Geruch eines Raums zu verändern. Sie konnte sich aussuchen, ob sie im Palast des Kalifen von Bagdad leben wollte, in der Spitze des Eiffelturms, in den dichten Kiefernwäldern des kanadischen Felsengebirges oder auch in der flachen, staubigen Prärie ihrer Heimat Westtexas.

In dieser Nacht spazierte sie jedoch über die öde, pockennarbige Oberfläche des Mondes, wie die Kameras auf dem Boden des Alphonsus-Kraters sie in Echtzeit zeigten: lautlos, luftlos, mit der glühenden blauweißen Sichel der Erde am schwarzen Sternenhimmel.

Mandy will nicht, dass Lars erfährt, was sie durchmacht, wurde Pancho sich schließlich bewusst, weil er dann durchdrehen und versuchen würde, Humphries zu töten. Doch Humphries' Leute würden Lars töten, bevor er auch nur in die Nähe des Stechers kommt.

Sie brach die Wanderung ab und ließ den Blick über den dunklen unebenen Boden von Alphonsus schweifen, der mit kleineren Kratern übersät und hier und da von Rillen durchzogen wurde. Vielleicht ist es das, was Humphries will. Er hat Mandy zwar versprochen, Fuchs nicht zu töten, wenn sie ihn heiratet, doch nun macht er ihr das Leben so zur Hölle, dass Lars ihm auf die Pelle rücken wird. Und dabei getötet wird.

Das ist typisch für den Stecher. Dem anderen seine Spielregeln aufzwingen. Er verfolgt Lars nicht, sondern sorgt dafür, dass Lars zu ihm kommt.

Wie Lars wohl reagieren wird, wenn er erfährt, dass Mandy ein Baby bekommt? Wird das genügen, um ihn in Aktion treten zu lassen? Ist das der eigentliche Grund, weshalb Humphries Mandy geschwängert hat? Er hat schließlich schon einen Sohn, der seine genetische Linie fortsetzt. Es geht das Gerücht um, dass das Kind sein Klon ist, um Gottes willen. Wozu braucht er dann noch einen Sohn?

Um Lars zu töten. Aus diesem Grund, gab Pancho sich selbst die Antwort.

Aber was soll ich in dieser Angelegenheit tun? Soll ich überhaupt etwas unternehmen? Lars warnen? Mandy zu helfen versuchen und ihr zeigen, dass sie jemanden hat, auf den sie bauen kann? Oder soll ich mich schlicht und einfach aus der ganzen unerfreulichen Sache heraushalten?

Pancho schaute auf die uralten, erodierten und gezackten Ringwall-Berge von Alphonsus. Sie sehen genauso aus, wie ich mich fühle, sagte sie sich. Müde. Verschlissen.

Was soll ich tun? »Hintergrund Deep Space«, rief sie spontan.

Die Mondoberfläche verschwand. Pancho befand sich nun mitten im leeren Weltall; Sterne, glühende Nebel und wirbelnde Galaxien erstreckten sich in die schwarze Unendlichkeit.

»Saturnnähe«, rief sie.

Der Ringplanet erschien vor ihren Augen: eine prächtige, kaleidoskopartige abgeplattete Kugel in zarten Pastellfarben und mit diesen blütenweißen Ringen um die Mitte hing in der Leere.

Dort ist Schwesterherz, sagte Pancho sich. Hunderte Millionen Kilometer entfernt.

Abrupt schüttelte sie den Kopf, als ob sie ihn freibekommen wollte. »Spiegelsaal von Versailles«, rief sie. Und im nächsten Moment war sie in dem französischen Schloss und betrachtete ihre Spiegelbilder.

Was soll ich wegen Mandy unternehmen, fragte sie sich erneut. Dann schoss ihr ein neuer Gedanke durch den Kopf: Was will ich überhaupt?

Ich. Ja, ich. Was will ich?

Früher war Pancho eine draufgängerische Astronautin gewesen, ein Flintenweib, das mehr riskierte als alle anderen. Doch seit ihre jüngere Schwester vor so vielen Jahren — vor so vielen Lebensaltern — an Krebs erkrankt war —, hatte Pancho ein Leben nur für andere geführt. Für ihre Schwester. Dann war sie Dan Randolph begegnet, der sie als Astronautin eingestellt hatte und ihr sozusagen auf dem Sterbebett seine Anteile an der Astro Corporation vermacht hatte. Seitdem hatte sie Dans Kampf fortgeführt, hatte versucht, Astro zusammenzuhalten, das Unternehmen profitabel zu machen und zu verhindern, dass Humphries es sich krallte. Und nun — Amanda?

Was ist mit mir, fragte sie sich. Was will ich machen, wenn ich einmal erwachsen bin?

Sie betrachtete ihr Spiegelbild im nächsten Spiegel und sah hinter dem bodenlangen Partykleid und der glitzernden Lame-Bluse, hinter den kosmetischen Therapien die dürre, schlaksige Afroamerikanerin aus Westtexas, die sich unter der teuren Schale verbarg. Was erwartest du vom Leben, Mädchen?

Ihr Spiegelbild schaute sie kopfschüttelnd an. Das spielt keine Rolle. Du hast diese Verantwortung von Dan Randolph geerbt. Sie lastet nun auf deinen Schultern. Mandy, Humphries, selbst dieser Typ von Nairobi Industries sind alle ein Teil des Spiels, an dem auch du teilnimmst. Ob es dir gefällt oder nicht. Was du willst, spielt keine Rolle. Nicht, bis das Spiel aus ist, auf die eine oder andere Art. Und jetzt schon gar nicht, wo der Stecher wieder versucht, Astro in die Finger zu bekommen. Er zettelt wieder einen Krieg an. Ich dachte, die Sache hätte sich vor acht Jahren endgültig erledigt, aber Humphries fängt wieder damit an. Der dritte Frachter in genauso vielen Wochen, wie aus dem Bericht von heute Morgen hervorgeht. Zwar hat er bisher nur unbemannte Frachter gekapert, aber das ist erst der Anfang. Er will mich aus der Reserve locken.

Und es ist auch nicht nur Humphries, sagte Pancho sich, während sie langsam durch den verspiegelten Korridor ging. Es ist die ganze verdammte Welt. Die Erde ist gerade dabei, sich vom Klimakollaps zu erholen. Die Rohstoffe aus dem Gürtel sind so billig, dass sie die Grundlage für den Wiederaufbau bilden. Doch wenn Humphries die vollständige Kontrolle über den Gürtel erlangt, wird er die Preise nach Belieben hochtreiben. Er kümmert sich weder um die Erde noch um sonst jemanden außer um sich selbst. Er will ein Monopol. Er will sich ein gottverdammtes Reich erschaffen.

Du trägst Verantwortung, Lady, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Du hast keine Zeit für Selbstmitleid.

»Akropolis«, sagte sie und ging durch Kolonnaden mit den schlanken Säulen zu ihrem Schlafzimmer zurück. Unter ihr lag das antike Athen in der heißen Sommersonne unter einem strahlend blauen Himmel.

Wieder im Schlafzimmer angekommen, tätigte Pancho zwei Anrufe: einen an die Investmentfirma in New York, über die sie immer potenzielle Geschäftspartner oder Konkurrenten überprüfte, und der andere war ein Privatgespräch mit Big George Ambrose in seinem Zimmer in eben diesem Hotel Luna.

Zu ihrer Überraschung gab die synthetische Telefonstimme ihr bekannt, dass George Ambrose Selene bereits verlassen habe. Er sei auf dem Rückweg nach Ceres.

»Mach ihn ausfindig, egal wo er steckt«, blaffte Pancho das Telefon an. »Ich will ihn sprechen.«

Загрузка...