Selene: Wintersonnenwend-Feier

Es war das gesellschaftliche Ereignis des Jahres. Jeder, der in Selene Rang und Namen hatte, wurde eingeladen, und jeder, der eingeladen war, warf sich in Schale und ging auf die Party. Douglas Stavenger, der Nachfahr der Gründerfamilie der Mondnation, brachte seine Frau mit. Der Botschafter des Globalen Wirtschaftsrats, der De-facto-Weltregierung, brachte zwei seiner vier Frauen mit. Pancho Lane, die Vorstandsvorsitzende des Konkurrenzunternehmens Astro Corporation, erschien ohne Begleitung. Nobuhiko Yamagata, Vorstandsvorsitzender des riesigen japanischen Konzerns, unternahm eigens aus diesem Anlass eine Reise nach Selene. Big George Ambrose, der wie ein Zwillingsbruder von Rübezahl aussah und Chef der Felsenratten-Siedlung in Ceres war, kam mit einem Fusionsschiff den weiten Weg vom Gürtel geflogen, um an Martin Humphries' Weihnachtsfeier teilzunehmen.

Auf den Einladungen stand jedoch Wintersonnenwend-Feier, um die religiösen Gefühle der Moslems, Buddhisten, Hindus und Atheisten auf der Gästeliste nicht zu verletzen. Ein paar der christlichen Konservativen echauffierten sich zwar über mangelnde Pietät, doch Martin Humphries hatte sich noch nie als gläubigen Christen bezeichnet. Big George hatte einen Bierhumpen in jeder Pratze und gab zu bedenken, dass in seinem heimatlichen Australien diese Zeit des Jahres den Einbruch der Winterdunkelheit markierte und nicht die immer längeren Tage, die Vorboten des Frühlings waren.

Einer der Gründe für das zahlreiche Erscheinen war, dass Humphries die Party in seinem palastartigen Anwesen abhielt, das in den Tiefen des Mondes auf der untersten Ebene von Selene errichtet worden war. Er lud sonst kaum jemanden in sein Domizil ein, und deshalb war es auch eher Neugierde als Festtagsstimmung, die einen Großteil der Hundertschaften von Gästen hergelockt hatte.

Offiziell war das ausgedehnte Anwesen mit dem flachen Dach das Eigentum des Humphries Trust-Forschungszentrums — ein rechtlicher Kniff, der der ›Genialität‹ von Martin Humphries zuzuschreiben war.

Die atmosphärelose Oberfläche des Mondes unterliegt zwischen Sonnenlicht und Schatten Temperaturschwankungen von vierhundert Grad. Sie wird in harter Strahlung von der Sonne und dem tiefen Weltraum gebadet und mit einem steten Hagel mikroskopischer Meteoriten bombardiert. Menschliche Siedlungen werden daher unter der Oberfläche angelegt, und je tiefer unter der Oberfläche, desto prestigeträchtiger und teurer das Habitat.

Humphries hatte sein Heim in der tiefsten Grotte unter der ursprünglichen Mondbasis erbaut, sieben Ebenen unter der Oberfläche. Er hatte einen prächtigen Garten angelegt, der die Höhle mit dem schweren Duft von Rosen und Lilien erfüllte; die Anlage wurde mit Wasser gespeist, das aus Sauerstoff und Wasserstoff gewonnen wurde, den man aus dem Gestein der Mondoberfläche extrahierte. Als Beleuchtung dienten lange Bänder aus Breitspektrallampen, die an der unbehauenen Felsdecke befestigt waren und Sonnenschein simulierten. Der Garten hatte eine Fläche von etwas mehr als einem Quadratkilometer, also ungefähr hundert Hektar. Es kostete ein Vermögen, dieses Paradies mit den prachtvollen Azaleen und immer blühenden Stiefmütterchen zu unterhalten, mit den Erlen und weißen Birkenstämmen und den schönen Frangipani-Büschen. Blühende weiße und rosa Pfingstrosen wuchsen baumhoch. Humphries hatte eigens einen Forschungstrust eingerichtet, um den Garten zu finanzieren, und der Regierung von Selene die dreiste Begründung untergejubelt, dass es sich dabei um eine Langzeitstudie handle, eine von Menschen erschaffene Ökologie auf dem Mond aufrechtzuerhalten.

In Wirklichkeit wollte Humphries auf dem Mond leben, möglichst weit entfernt von seinem kaltherzigen, harten Vater und der sturmgepeitschten Heimatwelt. Also hatte er in diesem unterirdischen Garten Eden ein Haus gebaut, dessen eine Hälfte von Forschungslabors und botanischen Anlagen eingenommen wurde und dessen andere Hälfte eine luxuriöse Heimstatt für niemand anders als Martin Humphries selbst darstellte.

Der Wohnbereich des Hauses war groß genug, um bequem ein paar hundert Gäste aufzunehmen. Die meisten versammelten sich im großen Wohnzimmer, während andere durchs gediegene Esszimmer, die Kunstgalerie und Innenhöfe streiften.

Pancho ging schnurstracks in die als Bibliothek getarnte Bar, wo sie Big George Ambrose fand. Er hatte einen mit Reif überzogenen Bierhumpen in der Hand und war in eine angeregte Unterhaltung mit einer reizvollen Blondine vertieft. George ließ unbewusst einen Finger der freien Hand unterm Kragen entlangwandern; er fühlte sich offensichtlich unwohl in einem Frack. Ich frage mich, wer ihm die Fliege gebunden hat, sagte Pancho sich. Vielleicht war sie aber auch schon vorgebunden.

Lächelnd bahnte Pancho sich einen Weg durch die Menge und orderte bei einem der drei gestressten Keeper, die hinter der Bar standen, einen Bourbon und ein Ginger-Ale. Sie wurde von einem Stimmengewirr umwabert, und Gelächter und das Klirren von Eiswürfeln erfüllten den großen Raum mit der Holzbalkendecke. Pancho stützte sich mit beiden Ellbogen auf die Bar und hielt in der Menge Ausschau nach Amanda.

»Hey, Pancho!« George hatte sich von der Blondine freigemacht und bahnte sich einen Weg zu ihr, wobei die Menge vor ihm sich teilte wie Segelboote, die einem Supertanker auswichen.

»Wie geht's, wie steht's, alter Kumpel?«, fragte George in seinem erstaunlich hohen, melodischen Tenor.

Pancho lachte. Während sie beim Erklimmen der schlüpfrigen Karriereleiter bei der Astro Corporation jahrelang daran gearbeitet hatte, ihren Texas-Akzent zu kaschieren, schien Georges ›Aussie‹-Akzent bei jedem Wiedersehen noch stärker zu werden.

»Die Reichen und die Schönen, stimmt's?«, übertönte sie den Lärm der Menge.

George nickte begeistert. »Es ist genug Geld in diesem Raum versammelt, um einen Flug nach Alpha Centauri zu finanzieren.«

»Und zurück.«

»Und wie läuft's bei dir, Panch?«

»Kein Grund zur Klage«, log sie. Sie wollte nicht über die vermissten Frachter reden. »Was gibt's Neues bei den Felsenratten?«

»Das letzte Lagerhaus auf Ceres wurde geschlossen«, sagte George. »Es ist nun alles oben in Chrysallis

»Ihr habt das Habitat endlich fertig gestellt?«

»Nee, das wird wohl nie fertig werden. Wir basteln ständig dran herum und fügen hier und da ein Stück hinzu. Aber wir müssen wenigstens nicht mehr unten im Staub leben. Wir haben jetzt eine anständige Schwerkraft.«

»Ein volles Ge?«, fragte Pancho und ließ dabei den Blick über die Menge schweifen.

»Ein Sechstel, wie hier. Das genügt, damit in den Knochen kein Kalzium mehr abgebaut wird.«

»Hast du Mandy gesehen?«

In Big Georges zottelbärtigem Gesicht erschien ein Stirnrunzeln. »Du meinst Mrs. Humphries? Nee. Nichts von ihr zu sehen.«

Pancho hörte die Verachtung in der Stimme des großen Rotschopfs. Wie die meisten Felsenratten verabscheute er Martin Humphries. Ob er es Amanda übel nimmt, dass sie den Stecher geheiratet hat, fragte Pancho sich.

Bevor sie George eine entsprechende Frage stellen konnte, erschien Humphries in der Tür, die zum Wohnzimmer führte. Er hatte Amanda an seiner Seite und hielt sie am Handgelenk fest.

Sie war atemberaubend schön und trug ein ärmelloses weißes Kleid, das bis auf den Boden herabfiel. Trotz des weiten Schnitts vermochte jeder zu sehen, dass Amanda die schönste Frau im ganzen Sonnensystem sein musste, sagte Pancho sich: goldblondes Haar, ein Gesicht, das selbst die schöne Helena beschämt hätte, und eine Figur, die den Männern und sogar einigen Frauen sichtlich den Atem raubte. Mit einem süffisanten Grinsen stellte Pancho fest, dass Amanda durch die hochgesteckten Haare mindestens einen Zentimeter größer wirkte als Humphries, obwohl der wie immer seine Bertulli-Schuhe trug.

Als Pancho Humphries vor über zehn Jahren zum ersten Mal begegnet war, hatte er ein rundes, aufgedunsenes Gesicht und einen schlaffen Körper mit einem leichten Bauchansatz gehabt. Doch die Augen waren auch damals schon hart gewesen und hatten wie spitze graue Feuersteinsplitter in diesem ansonsten nichtssagenden Gesicht gesteckt. Seit der Hochzeit mit Amanda war Humphries schlanker und sportlicher geworden; auch im Gesicht war er schmaler geworden. Pancho vermutete, dass er sich schon ein paar Nanotherapien unterzogen hatte; die plastische Chirurgie war überflüssig, seit Nanomaschinen Muskeln zu kräftigen, Haut zu straffen und Falten zu glätten vermochten. Diese grauen Augen waren jedoch unverändert: brutal und skrupellos.

»Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«, rief Humphries in seinem kräftigen Bariton.

Es wurde still im Raum, und alle drehten sich zu den Gastgebern um.

»Wenn Sie sich für eine Minute von der Bar losreißen würden«, sagte Humphries mit einem breiten Lächeln, »denn Amanda und ich haben im Wohnzimmer etwas zu verkünden.«

Die Gäste gingen pflichtschuldig ins Wohnzimmer. Pancho und George blieben noch an der Bar und folgten dann den anderen. George stellte sogar den Humpen ab. Nun war das Wohnzimmer mit Frauen in edlen Gewändern und blitzendem Schmuck und Männern in schwarzen Anzügen überfüllt. Wie Pfauen und Pinguine, sagte Pancho sich.

Trotz der Weitläufigkeit des Raums fühlte sie sich etwas unwohl angesichts der vielen zusammengepressten Leiber, egal wie gut sie gekleidet waren. Pancho rümpfte die Nase beim sich mischenden Geruch von Parfüm und Schweiß.

Humphries führte Amanda an der Hand zum Flügel in der Mitte des großen Raumes und kletterte dann auf die Bank. Amanda blieb lächelnd neben ihm stehen. Dennoch machte sie in Panchos Augen einen unbehaglichen, unglücklichen und ängstlichen Eindruck.

»Liebe Freunde«, hob Humphries an.

Von wegen Freunde, sagte Pancho sich. Er hat doch gar keine Freunde, nur Leute, die er gekauft oder sich gefügig gemacht hat.

»Es ist schön, Sie alle hier zu sehen. Ich hoffe, Sie amüsieren sich gut.«

Irgendein Speichellecker klatschte Beifall, und sofort applaudierten alle Anwesenden. Sogar Pancho schlug die Hände ein paar Mal zusammen.

Humphries lächelte und gab sich betont bescheiden.

»Das freut mich«, sagte er. »Und ganz besonders freue ich mich darüber, dass ich in der Lage bin, Ihnen eine frohe Kunde zu übermitteln.« Er hielt für einen Moment inne und genoss die offensichtliche Vorfreude der Menge. »Amanda und ich bekommen einen Sohn. Das genaue Datum der Niederkunft steht noch nicht fest, aber es müsste Ende August sein.«

Die Frauen stießen Begeisterungsrufe aus, die Männer Jubelrufe, und dann applaudierten alle und gratulierten lauthals. Pancho vermochte wegen ihrer Größe über die vor ihr wogenden Köpfe hinwegzusehen. Sie konzentrierte sich auf Amanda. Mandy lächelte unzweifelhaft, aber es wirkte dennoch gezwungen und freudlos.

Die Menge formierte sich spontan zu einem Defilee, und jeder Gast schüttelte Humphries die Hand und gratulierte ihm und der werdenden Mutter. Als Pancho an der Reihe war, sah sie den freudlosen und traurigen Ausdruck in Amandas himmelblauen Augen.

Sie kannte Amanda aus der Zeit, als sie beide als Astronauten für die Astro Corporation gearbeitet hatten. Pancho war dabei gewesen, als Mandy die Bekanntschaft von Lars Fuchs gemacht und als Fuchs ihr seinen Antrag gemacht hatte. Sie waren alte Freundinnen, Vertraute — bis Amanda Humphries geheiratet hatte. In den letzten acht Jahren hatte sie Mandy nur selten gesehen und nie allein.

»Glückwunsch, Mandy«, sagte Pancho zu ihr und ergriff ihre Hand mit beiden Händen. Amandas Hand fühlte sich kalt an. Und Pancho spürte, dass sie zitterte.

»Gratulieren Sie mir auch, Pancho«, sagte Humphries jovial und mit einem breiten Lächeln. »Ich bin der Vater. Ohne mich hätte sie es schließlich nicht geschafft.«

»Sicher«, sagte Pancho und ließ Amandas Hand los. »Glückwunsch. Gute Arbeit.«

Sie wollte ihn schon fragen, wieso er acht Jahre dafür gebraucht hätte, doch sie verkniff sich das. Obendrein hätte sie ihm gern gesagt, dass es keine besonders große Leistung sei, eine Frau zu schwängern, doch das verkniff sie sich auch.

»Nun habe ich alles, was ein Mann zu seinem Glück braucht«, sagte Humphries und fasste Amanda besitzergreifend an der Hand. »Außer der Astro Corporation. Wieso treten Sie nicht ehrenhaft zurück, Pancho, und überlassen mir den rechtmäßigen Platz als Vorsitzenden des Astro-Vorstands?«

»In Ihren Träumen, Martin«, knurrte Pancho.

»Dann werde ich eben einen anderen Weg finden müssen, um die Kontrolle über Astro zu übernehmen«, sagte Humphries mit einem spröden Lächeln.

»Nur über meine Leiche.«

Humphries' Lächeln wurde noch fröhlicher. »Vergessen Sie nicht, dass Sie das gesagt haben, Pancho. Ich war's jedenfalls nicht.«

Mit einem Stirnrunzeln wandte Pancho sich von ihnen ab und verschwand in der Menge, ohne Amanda jedoch aus den Augen zu lassen. Wenn ich sie doch nur allein erwischen würde, ohne dass der Stecher an ihr dranhängt …

Und dann sah sie, wie Amanda sich aus dem Griff ihres Mannes löste und zur Treppe ging, die zu ihrem Schlafzimmer hinaufführte. Sie machte fast den Eindruck, als ob sie auf der Flucht wäre. Pancho ging durch die Bar in die Küche und an einer geschäftigen Schar vorbei, die geräuschvoll Geschirr spülte und wegen der anfallenden Arbeit nörgelte. Dann ging sie die Hintertreppe hinauf.

Pancho wusste, wo die herrschaftliche Suite war. Vor acht Jahren, bevor Mandy Fuchs geheiratet hatte und als der Stecher ihr penetrant nachstellte, war Pancho in Humphries' Haus eingebrochen, um etwas Industriespionage für die Astro Corporation zu betreiben. Unter dem Schutz des von unten heraufziehenden Lärms der Partygäste huschte sie durch den Korridor im ersten Stock und durch die offene Doppeltür des Wohnzimmers, das dem herrschaftlichen Schlafzimmer vorgelagert war.

Pancho raffte ihr langes Kleid, ging zur Schlafzimmertür und lugte hinein. Amanda war im Bad; sie sah Mandy im Ganzkörper-Spiegel an der offenen Badezimmertür. Sie stand am Waschbecken und hielt ein Pillenfläschchen in der Hand. Das Schlafzimmer war komplett verspiegelt, die Wände ebenso wie die Decke. Ich frage mich, ob der Stecher noch immer Videokameras hinter den Spiegeln versteckt hat, sagte Pancho sich.

»Hey, Mandy, bist du da drin?«, rief sie und betrat das mit flauschigen Teppichen ausgelegte Schlafzimmer.

Sie sah, dass Amanda erschrocken zusammenzuckte. Sie ließ das Pillenfläschchen fallen. Die Pillen regneten wie ein kleiner Hagelschauer ins Waschbecken und auf den Fußboden.

»O je, tut mir Leid«, sagte Pancho. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Ist schon in Ordnung, Pancho«, sagte Amanda. Ihre Stimme zitterte fast genauso sehr wie ihre Hände. Dann sammelte sie die Pillen im Waschbecken auf und versuchte sie wieder ins Fläschchen zu tun. Sie ließ aber genauso viele wieder fallen, wie sie einfüllte.

Pancho kniete sich hin und sammelte die ovalen blutroten Tabletten auf. Es war kein Warenzeichen aufgeprägt.

»Was sind das denn für welche«, fragte sie. »Etwas Spezielles?«

Amanda stützte sich aufs Waschbecken und versuchte mühsam die Contenance zu wahren. »Das ist so eine Art Beruhigungsmittel.«

»Du brauchst Beruhigungsmittel?«

»Hin und wieder«, erwiderte Amanda.

Pancho nahm Amanda das Fläschchen aus den zitternden Händen. Es trug kein Etikett.

»Du brauchst diesen Scheiß nicht«, knurrte Pancho. Sie schob sich an Amanda vorbei und wollte die Pillen in die Toilette schütten.

»Nicht!«, kreischte Amanda und riss Pancho das Fläschchen aus den Händen. »Untersteh dich!«

»Mandy, dieser Müll kann nicht gut für dich sein.«

Amanda schossen die Tränen in die Augen. »Sag du mir bloß nicht, was gut für mich ist, Pancho. Woher willst du das denn wissen. Du hast ja keine Ahnung.«

Pancho schaute ihr in die geröteten Augen. »Pancho, ich bin's, deine Freundin? Du kannst mir doch alles sagen, was dich bedrückt.«

Amanda schüttelte den Kopf. »Das würdest du nicht wissen wollen, Pancho.«

Nach drei vergeblichen Versuchen ließ sie den Schraubverschluss der Flasche mit einem Klicken einrasten, öffnete den Medizinschrank überm Waschbecken und stellte das Fläschchen wieder an seinen Platz. Pancho sah, dass der Schrank mit Pillenfläschchen angefüllt war.

»Meine Güte, du hast ja eine ganze Apotheke«, murmelte sie.

Amanda sagte nichts.

»Brauchst du das ganze Zeug denn?«

»Hin und wieder«, wiederholte Amanda.

»Aber wieso?«

Amanda schloss die Augen und holte tief Luft, wobei sie erschauerte. »Sie helfen mir.«

»Helfen dir wobei?«

»Wenn Martin wieder einmal eine Sondervorstellung will«, sagte Amanda mit so leiser Stimme, dass Pancho sie kaum hörte. »Wenn er andere Frauen bestellt, die uns im Bett ›Hilfestellung‹ leisten. Wenn er von mir verlangt, dass ich Aphrodisiaka nehme, um meine Reaktion auf ihn und seine Freundinnen zu verstärken. Ein paar von ihnen sind Videostars, musst du wissen. Du kennst sie sicher, Pancho — sie sind Prominente.«

Pancho merkte, wie ihr die Kinnlade herunterfiel.

»Und wenn Martin ein paar seiner merkwürdigen jungen Freunde mitbringt, brauche ich wirklich Tabletten, um das zu überstehen. Und für die Videos, die er an die Decke projiziert. Und wenn ich dann einschlafen will, ohne diese ekligen, schrecklichen Szenen immer wieder sehen zu müssen.«

Amanda schluchzte nun; die Tränen rannen ihr die Wangen hinab, und ihre Worte waren nicht mehr zu verstehen. Pancho legte die Arme um sie und drückte sie an sich. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Es wird alles wieder gut, Mandy«, flüsterte sie. »Du wirst sehen. Es wird alles wieder gut.«

Nach einer Weile löste Amanda sich etwas von ihr.

»Siehst du das denn nicht, Pancho? Begreifst du es nicht? Er wird Lars töten, wenn ich ihn nicht befriedige. Er hat mich völlig unter Kontrolle. Es gibt keinen Ausweg für mich.«

Darauf hatte Pancho keine Antwort mehr.

»Nur deshalb war ich damit einverstanden, das Kind zu bekommen, Pancho. Er hat versprochen, mit den Sexspielen aufzuhören, wenn ich seinen Sohn gebäre. Ich werde natürlich auch die Finger von den Drogen lassen müssen. Ich habe schon ein Entgiftungsprogramm angefangen.«

»Was die Nachrichtensender wohl für diese Story geben würden«, murmelte Pancho.

»Das kannst du nicht machen! Das darfst du nicht tun!« Angst blitzte in ihren verweinten Augen auf. »Du bist die Einzige, der ich es erzählt habe …«

Pancho fasste sie an den bebenden Schultern. »Keine Sorge! Ich bin doch deine Freundin, Mandy. Ich werde niemandem ein Sterbenswörtchen erzählen.«

Amanda starrte sie an.

»Nicht einmal, wenn ich dadurch verhindern könnte, dass Astro vom Stecher übernommen wird. Das geht nur uns beide an, Mandy, und niemanden sonst.«

Amanda nickte zögernd.

»Aber ich sag dir eins. Ich würde am liebsten nach unten gehen und diesem selbstgefälligen Hundesohn dermaßen eine reinhauen, dass ihm das Grinsen für immer vergeht.«

Amanda schüttelte matt den Kopf. »Wenn es doch nur so einfach wäre, Pancho. Wenn …«

Das Telefon im Schlafzimmer summte. Amanda holte tief Luft und ging zum Bett. Pancho schloss die Badezimmertür halb und verbarg sich vor der Kamera des Telefons.

»Antworten«, sagte Amanda.

»Wie lang willst du denn noch da oben bleiben«, hörte Pancho Humphries' gereizte Stimme. »Die ersten Gäste wollen sich verabschieden.«

»Ich bin gleich wieder unten, Martin.«

Amanda ging ins Bad zurück und brachte das Make-up in Ordnung. Doch selbst wenn der Stecher sehen würde, dass sie geweint hat, wäre es ihm völlig egal, sagte Pancho sich.

Dann kam ihr plötzlich ein Gedanke. Wenn Lars das wüsste, würde er Humphries töten. Er würde sich durch alle Armeen im Sonnensystem kämpfen, um Humphries in die Finger zu kriegen und ihm den Garaus zu machen.

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