Von ihrem Platz am Bullauge aus sah Pancho aus dem Augenwinkel tief unter sich das zerklüftete Mondhochland vorüberziehen. Sie war der einzige Passagier in der ballistischen Rakete, die sie von Astros Malapert-Basis in einem hohen Bogen über die öde Mondoberfläche nach Selene beförderte. Der Knöchel war in einem Sprühverband fixiert; in Selene würde sie gleich ins Krankenhaus gehen und sich Nanomaschinen spritzen lassen, die den gebrochenen Knochen und die gerissenen Fasern reparieren würden.
Pancho hatte Muße, die Landschaft zu studieren. Sie war in ein Gespräch mit Jake Wanamaker vertieft, dessen runzliges, grimmiges Gesicht sie an die steinige Einöde unter ihr erinnerte.
»… müssten die Nanomaschinen jeden Moment freisetzen«, sagte Wanamaker.
»Und alle Bewohner von Vesta sind unter der Oberfläche?«, fragte Pancho.
»Sollten sie, wo diese Strahlenwolke sie einhüllt. Jeder, der sich jetzt an der Oberfläche aufhält, ist tot — egal, was wir tun.«
Pancho nickte. »In Ordnung. Und welche Bewandtnis hat es mit diesem Brand auf Humphries' Anwesen?«
Wanamaker verzog angewidert das Gesicht. »Eine Gruppe von vier Fanatikern ist in die Felsenhöhle auf der untersten Ebene eingedrungen. Wieso, wissen wir noch nicht. Sie werden von Selenes Sicherheitsdienst im Krankenhaus festgehalten.«
»Und sie haben das Haus niedergebrannt?«
»Das ganze Anwesen in Brand gesetzt. Der Ort ist total verwüstet.«
»Und Humphries?«
»Keine Spur von ihm. Inspektoren von Selene durchsuchen den Ort nun. Anscheinend steht das Haus noch, aber es ist vollkommen ausgebrannt.«
Seltsamerweise freute Pancho sich nicht über die Möglichkeit, dass Humphries tot war. »Hat man seine Leiche gefunden?«
»Noch nicht.«
»Und die Leute, die das Anwesen angegriffen haben, sind im Krankenhaus?«
»Und die Wachen.«
Pancho kannte nur eine Person im ganzen Sonnensystem, die verrückt genug wäre, um Humphries in seinem Bau anzugreifen. Lars Fuchs.
»War Lars Fuchs einer der Angreifer?«
Wanamakers ohnehin schon düsterer Gesichtsausdruck wurde noch eine Nuance düsterer. »Er hat seinen Namen mit Karl Manstein angegeben. Ich glaube nicht, dass Selenes Sicherheitsdienst seine wahre Identität schon kennt.«
Pancho fragte sich, woher Wanamaker überhaupt wusste, dass Manstein ein Deckname für Fuchs war. Aber sie legte das als unwichtig ad acta. »Holen Sie ihn dort raus«, sagte sie.
»Was?«
»Schaffen Sie ihn aus dem Krankenhaus und bringen ihn dann von Selene weg. Schicken Sie ihn in den Gürtel zurück, nach Ceres oder sonst wohin. Entziehen Sie ihn nur dem Zugriff des Sicherheitsdiensts von Selene.«
»Aber er ist ein Mörder, ein Terrorist.«
»Ich hatte ihn nach Selene gebracht, um uns im Kampf gegen Humphries zu helfen«, sagte Pancho, auch wenn das nicht die ganze Wahrheit war. »Ich will nicht, dass Stavonger oder sonst jemand davon erfährt.«
»Und wie soll ich ihn an Selenes Sicherheitspersonal vorbeischleusen?«, fragte Wanamaker besorgt.
Pancho schloss für einen Moment die Augen. »Jake, das ist Ihr Problem«, sagte sie dann. »Lassen Sie sich etwas einfallen. Ich will, dass er vom Mond verschwindet und in den Gürtel zurückkehrt. Am besten schon gestern.«
Er atmete tief durch. »Ja, Ma'am«, erwiderte er unwillig. Sie glaubte schon, er wollte ihr einen militärischen Gruß entbieten.
»Noch etwas?«, fragte Pancho.
Wanamaker machte ein Gesicht irgendwo zwischen einem Lächeln und einer Grimasse. »Ist das denn nicht genug?«
Ulysses S. Quinlan verspürte ein Gefühl der Ehrfurcht und hatte die smaragdgrünen Augen vor Bewunderung aufgerissen, als er mitten im weitläufigen Wohnzimmer im Erdgeschoss von Humphries' Herrenhaus stand — oder was davon noch übrig war. Der große Raum war ein verkohltes, geschwärztes Trümmerfeld: Wände und Decke waren versengt, der Fußboden mit verbranntem Schutt und feiner grauer Asche bedeckt.
Quinlan, in Belfast geboren und Kind eines irischen Vaters und einer irisch-amerikanischen Mutter, war mit Geschichten von Bürgerkriegen aufgewachsen. Seinem Vater zuliebe spielte er von Kindheit an Football, was ihm schließlich ein Sport-Stipendium an der Princeton University einbrachte — was wiederum seine Mutter freute, auch wenn sie bei der Trennung von ihrem einzigen Kind bittere Tränen weinte. Quinlan studierte Maschinenbau und widmete sich lange Jahre der Sisyphusarbeit an den Deichen und hydromechanischen Barrieren, die dann doch nicht zu verhindern vermochten, dass der größte Teil Floridas und der Küstenlinie des Golfs von Mexiko bis hinunter zur Halbinsel Yucatán in Mexiko überflutet wurden.
Er erlitt einen Nervenzusammenbruch, als Houston unterging, und wurde an seinem vierzigsten Geburtstag mit vollen Bezügen in Pension geschickt. Um den Ozeanen und Meeren und dem Wasser überhaupt zu entkommen, wanderte er auf den Mond aus. Nach einem Jahr arbeitete er in Selenes Sicherheits-Abteilung und war wieder so glücklich und zufrieden, wie er es vor den katastrophalen Treibhaus-Überflutungen auf der Erde gewesen war.
Nun pfiff er durch die Atemmaske und machte große Augen angesichts der Ausdehnung des herrschaftlichen Wohnzimmers.
»Vergänglichkeit allen Glanzes«, sagte er und schlurfte durch die graue Asche und den Schutt.
»Wie die alten Zaren in Russland«, sagte seine Partnerin, eine stämmige rothaarige Finnin. Sogar durch die Atemmaske hörte er die Verachtung in ihrer Stimme.
»Ja«, pflichtete Quinlan ihr bei und schlug mit der behandschuhten Faust gegen die geschwärzte Wand. »Aber er hat massiv gebaut. Stahlbeton. Das Betonskelett hat dem Feuer widerstanden.«
Seine Partnerin stimmte widerwillig zu. »Das Feuer hätte eingedämmt werden können; aber man hat zugelassen, dass es sich bis unters Dach ausbreitete.«
Quinlan nickte. »Schade«, murmelte er. »Wirklich schade.«
Sie trugen die Atemmasken, um die Lunge vor der feinen Asche zu schützen, die sie mit jedem Schritt aufwirbelten. Die Felsenhöhle war schon vor Stunden wieder mit Atemluft beschickt worden. Quinlan und seine finnische Partnerin untersuchten die Ruine und vergewisserten sich, dass das Feuer nicht erneut aufflackerte, wo es nun wieder Sauerstoff zum Verbrennen gab.
Sie brachten eine Stunde damit zu, den Schutt im Erdgeschoss gründlich zu sichten. Dann gingen sie vorsichtig die Treppe in den ersten Stock hinauf. Das Holzgeländer und der flauschige Teppichboden im Treppenhaus waren verbrannt, aber der massive Beton-Unterbau war durchs Feuer nicht in Mitleidenschaft gezogen worden.
Oben herrschte ein ebensolches Chaos wie unten. Quinlan erkannte die verkohlten Überreste von etwas, das einmal edles Mobiliar gewesen war und nun in unregelmäßigen Haufen die Wände des Gangs säumte. Er sah, dass die Fenster noch ganz waren und außen mit Metallblenden versperrt waren. Feuerfestes Glas, sagte Quinlan sich. Ich frage mich, ob es auch kugelsicher ist.
Sie orientierten sich am Grundriss, der auf ihren Palmtops abgebildet wurde, und bahnten sich einen Weg durch den Schutt an der breiten Türöffnung zum herrschaftlichen Schlafzimmer. Quinlan pfiff beim Anblick der Dimensionen.
»Das muss das Bett gewesen sein«, sagte seine Partnerin und wies auf einen rechteckigen Trümmerblock auf dem Boden.
»Oder sein Flughafen«, murmelte Quinlan.
»Schauen Sie mal hier.« Die Finnin stand vor einer unversehrten Tür. »Das Feuer hat sie nicht beschädigt.«
»Wie ist das möglich?«, fragte Quinlan sich laut und ging zu ihr hinüber.
»Es ist eine Art Kunststoff«, sagte sie und strich mit der behandschuhten Hand über die Fläche.
»Sieht aus wie Keramik.«
Die Rothaarige schaute auf ihren Palm top. »Müsste laut Grundriss ein Wandschrank sein.«
»Fragt sich nur, wie man dort hineinkommt?« Quinlan suchte nach einer Klinke oder einem Knopf, sah aber nichts Derartiges am rußgeschwärzten Türrahmen.
Er versuchte, die Tür aufzuschieben. Sie bewegte sich nicht. Erst tippte, dann klopfte er dagegen. »Sie scheint von innen verschlossen zu sein.«
In diesem Moment glitt die Tür so schnell auf, dass sie beide vor Schreck ein paar Schritte zurücksprangen.
Martin Humphries stand unsicher auf wackligen Beinen und starrte sie mit funkelnden, rotgeränderten Augen an.
»Wurde auch Zeit«, krächzte er mit ausgedörrter Kehle.
»Mr. Humphries!«
Humphries wankte an ihnen vorbei, ließ den Blick über die Ruinen seines Schlafzimmers schweifen und drehte sich abrupt wieder zu ihnen um.
»Wasser! Geben Sie mir Wasser.«
Quinlan riss die Feldflasche vom Koppelgürtel und reichte sie wortlos dem zornigen Mann. Humphries trank gierig, wobei Wasser am Kinn herunterlief und auf sein zerknittertes Hemd tropfte. Sogar durch die Atemmaske roch Quinlan den ranzigen Körpergeruch des Mannes.
Humphries setzte die Feldflasche ab, hielt sie aber besitzergreifend fest. Er wischte sich das Kinn mit dem Handrücken ab, hustete und zeigte dann mit dem Finger auf Quinlan.
»Telefon«, blaffte er. Seine Stimme war schon wieder etwas kräftiger. »Geben Sie mir ein Telefon. Ich werde diesen Mordbrenner Fuchs an den Eiern aufhängen!«