Habitat Chrysallis

Pancho ließ alles stehen und liegen und flog mit Vollschub nach Ceres, wobei sie den Flug von Selene in knapp unter dreißig Stunden bewältigte.

Als ihr Fusionsschiff das Habitat im Orbit um Ceres erreichte und an einer der Luftschleusen andockte, empfand Pancho es als wohltuend, wieder eine Gravitation von einem Sechstel Ge zu verspüren. Habe mich schon so lang in der Mondgravitation aufgehalten, dass es mir inzwischen ganz normal vorkommt, sagte sie sich. Sie marschierte durch den Hauptgang der miteinander verbundenen Raumschiffe und steuerte Big Georges Unterkunft an.

Als er seinerzeit zum Verwaltungschef der Felsenratten gewählt worden war, hatte George bekräftigt, dass er sich weder ein protziges Büro einrichten noch unnötig viel Personal einstellen würde. Im Lauf der Jahre hatte er sich auch an diese Vorgaben gehalten — in gewisser Weise. Das Büro befand sich noch in Georges Unterkunft; nur dass sein Quartier langsam, aber stetig sich ausgebreitet hatte, bis es die ganze Länge eines der Raumschiffsmodule einnahm, aus denen Chrysallis bestand.

»Nur eine Seite des Durchgangs«, rechtfertigte George sich grollend, als Pancho ihn deshalb aufzog. »Und ich habe keinen einzigen Mitarbeiter angestellt, den ich nicht wirklich gebraucht hätte.«

Georges »Büro« war noch immer das Wohnzimmer seines Quartiers. Er hatte keinen Schreibtisch, nur bequeme Möbel, die aus verschrotteten Raumschiffen stammten. Nun saß er auf einem Liegesitz, der einmal eine Pilotenliege gewesen war. Pancho hatte sich quer auf einen ähnlichen Sitz gesetzt und ließ die langen Beine über die Armlehne baumeln.

»Ich habe den Eindruck, dass du dir ein Reich erschaffst, George«, witzelte Pancho. »Vielleicht nur ein klitzekleines, aber doch ein Reich.«

George schaute sie hinter seinem ziegelroten Bart finster an. »Du bist doch wohl nicht hierher gebrettert, um mir was von einer Reichsgründung zu erzählen, oder?«

»Nein«, sagte Pancho und wurde sofort wieder ernst. »Deshalb sicher nicht.«

»Weshalb dann?«

»Ich muss Lars sprechen.«

»Ihn sprechen? Du meinst von Angesicht zu Angesicht?«

Pancho nickte düster.

»Und wozu?«

»Amanda«, sagte Pancho und wunderte sich darüber, wie schwer die Worte ihr über die Lippen kamen. »Sie ist … gestorben.«

»Gestorben?« George war perplex.

»Bei der Geburt.«

»Verdammte Scheiße«, murmelte George. »Lars wird ausrasten, wenn er das erfährt.«


»Akute Anämie?«, sagte Humphries mit sich verengenden Augen. »Wie kann mein Sohn denn akute Anämie haben?«

Der Mann, der vor Humphries' Schreibtisch saß, war der Chefarzt des Krankenhauses von Selene, ein Herz-Chirurg, ein großer, imposanter Mann mit unverhältnismäßig kleinen und zarten Händen. Er trug eine maßgeschneiderte aschgraue Business-Strickjacke; sein Gesichtsausdruck war ernst, aber väterlich; er war es gewohnt, besorgten und verwirrten Patienten und ihren Familien Informationen und gute Ratschläge zu geben. Er wusste, dass er seine Autorität Humphries gegenüber wahren musste. Ein so mächtiger Mann konnte einem Ärger machen. Keiner der rangniederen Ärzte des Krankenhauses hatte es gewagt, Martin Humphries diese Nachricht zu übermitteln.

Er breitete die Hände in einer beschwichtigenden Geste aus. »Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten, Mr. Humphries. Das Baby hat ein defektes Gen, eine Mutation.«

Humphries warf einen grimmigen Blick auf Victoria Ferrer, die an der Seite des Schreibtisches saß. Sie schaute betont unbeteiligt.

»Es könnte durch ionisierende Streustrahlung verursacht worden sein«, fuhr der Arzt affektiert fort, »oder auch durch die niedrige Gravitation hier. Wir wissen einfach noch nicht genug über die langfristigen Auswirkungen niedriger Gravitation.«

»Könnte es auch durch Drogenkonsum verursacht worden sein?«, fragte Ferrer.

Humphries schaute sie finster an. Das Selbstvertrauen des Arztes fiel im ersten Moment merklich ab, doch er erlangte die Fassung schnell wieder. »Wir haben bei der Autopsie wirklich ein erhöhtes Barbiturat-Niveau in Mrs. Humphries' Blut festgestellt. Aber ich bezweifle …«

»Das macht nichts«, sagte Humphries barsch. »Es spielt keine Rolle mehr. Die Frage ist nur, wie sich das auf meinen Sohn auswirken wird?«

»Chronische Anämie ist therapierbar«, beschwichtigte der Arzt. »Sie kann medikamentös behandelt werden. Er wird imstande sein, ein ganz normales Leben zu führen, solange er sein Medikament nimmt.«

»Gar keine Probleme?«

»Nicht, solange er das Medikament nimmt«, sagte der Arzt mit einem eingeübt beruhigenden Lächeln. »Gut, es ist vielleicht mit Asthma-Anfällen zu rechnen, aber das müsste man mit Antihistaminen oder einer Adrenalin-Therapie in den Griff bekommen. Bei schwierigen Fällen können wir sogar …«

»Was denn noch?«, blaffte Humphries.

»Pardon?«

»Was stimmt denn noch nicht mit ihm?«

Das Lächeln des Arztes schwächte sich zunächst etwas ab und kehrte dann mit voller Strahlkraft wieder. »Der genetischen Untersuchung nach zu urteilen ist er völlig normal. Mit der richtigen Ernährung dürfte er eine nur geringfügig unter dem Durchschnitt liegende Körpergröße erreichen. Und wenn er …«

»Sie meinen also, dass er ein Kümmerling sein wird«, sagte Humphries.

»Ich … äh … so würde ich es nicht ausdrücken, Mr. Humphries«, stotterte der Doktor konsterniert. »Der Junge wird sich innerhalb normaler Standards bewegen.«

»Wird er sechs Fuß groß werden?«

»Sechs Fuß … das ist über einen Meter achtzig, nicht wahr? Nein, ich bezweifle, dass er so groß werden wird.«

»Wird er athletisch sein?«

»Nun, das kommt darauf an. Ich meine, die Anämie wird sicher ein Faktor bei seinen Fähigkeiten sein — natürlich. Aber es ist noch viel zu früh …«

Humphries hörte sich an, wie er halb um Entschuldigung heischend, halb dozierend darlegte, was einen guten Vater ausmachte. Humphries lehnte sich auf dem Stuhl zurück und legte die Hände in den Schoß, um nicht vor lauter Ungeduld mit den Fingern auf dem Tisch zu trommeln; vor dem geistigen Auge sah er noch einmal seinen neugeborenen Sohn: ein dürres, rothäutiges, kreischendes kleines rattenartiges Ding, die Augen geschlossen, der Mund offen und keuchend, jämmerliche Zahnstocher-Ärmchen und Beinchen, die kläglich schlegelten. Ein Kümmerling. Ein hilfloser, nutzloser Kümmerling.

Er hatte das Baby nur einmal gesehen, gleich nach Amandas Tod. Als Humphries auf das Kind starrte, das im Brutkasten nach Luft rang, hatte er stumm zu ihm gesagt, du hast sie umgebracht. Du hast meine Frau umgebracht. Sie ist gestorben, weil sie dir das Leben schenkte.

Er war aus der Kinderstation gegangen und hatte das Baby seither nicht mehr gesehen. Er wusste, wenn er es tat — wenn er noch einmal auf die Kinderstation ging —, käme er noch in Versuchung, das Balg zu töten. Es im Brutkasten zu ersticken, ihm die Luft abzudrehen, sich seiner irgendwie zu entledigen.

Doch er bekam keine Gelegenheit dazu. Es scharwenzelten zu viele Krankenschwestern und Kinderärzte und Pflegekräfte um das kleine Ungeheuer herum.

Außerdem war es im Grunde gar nicht die Schuld des Babys, sagte Humphries sich. Es ist Fuchs. Vergiss das nicht. Es ist seine Schuld. Er hat Amanda getötet. Er hat sie dazu getrieben, die Drogen zu nehmen, die sie töteten und meinen Sohn zerstörten. Er hat sich all die Jahre hinter ihrem Schutz verborgen. Aber damit hat es nun ein Ende. Aus und vorbei.

»… und später, in einem Jahr oder zwei, könnten wir eine Genersatz-Therapie versuchen«, sagte der Arzt. »Oder Nanotherapie, weil sie hier zugelassen ist.«

Ferrer nickte, als ob sie sich dafür interessierte.

»Danke für Ihre ausführlichen Erläuterungen, Doktor«, murmelte Humphries und erhob sich.

Der Arzt wirkte im ersten Moment konsterniert, und dann erschien ein Ausdruck von Zorn auf seinem Gesicht. Doch er fasste sich schnell wieder und stand ebenfalls auf.

»Sie dürfen mich jederzeit gern anrufen, Mr. Humphries. Das komplette Serviceangebot des Krankenhauses steht Ihnen zur Verfügung.«

»Sicher.«

Die Männer gaben sich zum Abschied nicht einmal die Hand.

»Soll ich eine Taufzeremonie veranlassen?«, wandte Ferrer sich an Humphries, nachdem der Arzt das Büro verlassen hatte.

»Eine Taufe?«

»Das wird bei einem Neugeborenen erwartet.«

»Was kommt zuerst«, fragte Humphries düster, »ihr Begräbnis oder die Taufe des Balgs?«

Ferrer atmete tief durch. Normalerweise hätte es Humphries erregt, doch im Moment ignorierte er es.

»Ich werde die Vorbereitungen für beides treffen«, sagte sie leise. »Welchen Namen möchtest du für das Kind?«

»Namen?«

»Er muss doch einen Namen haben.«

»Van. Es ist ein alter Familienname. Mein Urgroßvater trug den Namen Van. Er ist nach Südamerika abgehauen, um sich dem Wehrdienst in der US-Armee zu entziehen. Ein Feigling. Das ist doch ein angemessener Name für den kleinen Kümmerling, findest du nicht?«


»Ich verstehe immer noch nicht, wieso du Lars persönlich sprechen musst«, sagte Big George.

Pancho schwang die Beine über die Armlehne des Liegestuhls und stand auf. »Ich muss ihm etwas sagen. Etwas Persönliches.«

»Etwas noch Wichtigeres als Amandas Tod?«

»Ja.«

»Muss ja furchtbar wichtig sein.«

»Ist es.«

»Gut«, sagte George, erhob sich von seinem Stuhl und ging zu ihr, »ich will versuchen, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen. Ich weiß aber nicht, ob er auch antworten wird.«

»Er kennt mich doch.«

»Er kannte dich«, korrigierte George. »Der alte Lars ist nicht mehr der Mensch, der er einmal war.«

Pancho musterte ihn betrübt und murmelte dann: »Wer, zum Teufel, ist das noch?«

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