Mare Nubium

Die Passagiere schrien auf, als die Seilbahnkabine in der geringen Mond-Schwerkraft wie in Zeitlupe dem zwanzig Meter entfernten Boden entgegenfiel. Es war wie in einem Albtraum. Seltsamerweise verspürte Pancho keine Furcht, nur eine eigentümliche Faszination. Als sie den Boden auf die Fenster der Kabine zukommen sah, hatte sie noch Zeit für den Gedanken, wenn die Fenster zerbrechen, werden wir die Luft verlieren und in weniger als einer Minute sterben.

Die Seilbahnkabine grub sich mit einem knirschenden Stöhnen in den Boden. Pancho wurde schmerzhaft in die Schultergurte gepresst und schlug dann mit dem Hinterkopf gegen die Kopfstütze ihres Sitzes.

Für ein paar Sekunden herrschte völlige Stille. Dann hörte man die Leute stöhnen und weinen. Pancho brummte der Schädel. Automatisch löste sie die Sicherheitsgurte. Der Asio-Amerikaner, der neben ihr saß, hatte sich bereits vom Gurtzeug befreit.

»Alles okay?«, fragte er.

Pancho nickte zögernd. »Ich glaube schon.«

»Diese Kabinen sind dafür ausgelegt, einen Absturz zu überstehen«, sagte er.

»Ja.«

»Es wird bald eine Rettungsmannschaft hier eintreffen. Wir haben genug Atemluft für ein paar Stunden und dann noch die Notfalltanks.«

Pancho starrte ihn an. »Das klingt gerade so, als ob Sie das Notfallhandbuch auswendig gelernt hätten.«

Er grinste schwach und wirkte leicht beschämt. »Ich bin immer etwas nervös, wenn ich auf Reisen gehe. Deshalb lese ich alles, was ich über die Transportmittel finde, die ich benutze.«

Pancho tippte an das Glasstahl-Fenster. »Ist nicht mal gesprungen.«

»Das ist auch nur gut so. Draußen gibt es nämlich keine Luft«, erklärte er.

»Was sie nicht sagen«, erwiderte Pancho.

»Wie geht es nun weiter?«, fragte eine Frau mit scharfer Stimme.

Pancho drehte sich auf ihrem Platz um. Der Kabinenboden war geneigt, doch ansonsten wirkte alles mehr oder weniger normal. Zwei Passagiere hatten sich erhoben und standen auf etwas zittrigen Beinen herum. Sie schauten sich mit weit aufgerissenen Augen um.

»Sie sollten besser auf Ihren Plätzen bleiben«, sagte Pancho, wobei sie so viel Autorität wie möglich in ihre Stimme legte. »Die Kabine hat eine automatische Notfall-Boje. Es ist wahrscheinlich schon ein Rettungs-Team von Selene unterwegs.«

»Und wie lang wird das dauern?«

»Wird die Luft überhaupt so lang reichen?«

»Das Licht ist doch auch schon schwächer geworden, oder?«

»Wir haben auf Batteriestrom umgeschaltet«, sagte der Asio-Amerikaner. »Die Akkus sind für eine Betriebsdauer von mindestens sechs Stunden ausgelegt.«

»Sechs Stunden? Sie meinen, wir sitzen für sechs Stunden hier fest?«

»Nein, ich wollte damit nur sagen …«

Plötzlich drang eine Stimme aus den Lautsprechern in der Kabinendecke: »Seilbahn Fünf-Null-Zwo, hier spricht die Sicherheitszentrale. Wir werden in weniger als dreißig Minuten eine Rettungsmaschine losschicken. Geben Sie uns bitte Ihre Lage durch.«

Die Passagiere redeten plötzlich wild durcheinander, manche ängstlich, manche zornig.

»RUHE!«, befahl Pancho. »Wir sind abgestürzt, aber uns ist nichts passiert«, sagte sie, als die Leute verstummt waren. »Alle Systeme funktionieren. Es gibt keine schweren Verletzungen.«

»Ich habe Rückenschmerzen!«, sagte eine Frau.

»Ich glaube, ich habe mir das Handgelenk verstaucht«, sagte einer der männlichen Passagiere.

»Wir werden einen Sanitäter in der Rettungsmaschine mitschicken«, erwiderte die Lautsprecherstimme. »Bitte bewahren Sie Ruhe. Hilfe ist unterwegs.«

Pancho setzte sich auf die Armlehne ihres Sitzes und ließ durch den Mittelgang den Blick über die anderen Passagiere schweifen. Die Leute hatten sich alle wieder gesetzt. Es war niemand ernsthaft verletzt worden. Sie wirkten nur derangiert, und ein paar schauten definitiv zornig.

»Wie lang soll das denn noch dauern?«, fragte einer der Männer in die Runde. »Ich muss meinen Anschlussflug nach Kansas City erwischen.«

Pancho lächelte innerlich. Wenn sie noch so gut drauf sind, um sich zu beschweren, sagte sie sich, haben wir keine ernsthaften Probleme. Sofern das Rettungs-Team hier ankommt, bevor die Batterien schlappmachen.

Der Asio-Amerikaner presste die Fingerspitzen gegen die gewölbte Innenwand der Kabine. »Diamant-Struktur«, sagte er zu sich selbst wie zu Pancho. »Von Nanomaschinen gefertigt.«

Für Pancho hörte es sich eher wie das Pfeifen im Walde an. Dann bemerkte sie, dass er ein Plastik-Paket auf dem Schoß liegen hatte. Es enthielt zwei Atemmasken und eine kleine Sauerstoffflasche.

Gütiger Gott, sagte Pancho sich. Er hat sich wirklich auf eine Havarie vorbereitet.

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