Mathilda II

»Wir haben die bezeichnete Position erreicht«, sagte der Pilot.

Pancho saß im Copilotensitz auf der gemütlichen, funktionellen Brücke der Mathilda II. Der Pilot zu ihrer Linken war ein junger Mann, den sie beim Einchecken zu diesem Flug kennen gelernt hatte. Blond, mit weichen Gesichtszügen und einer rosig geschrubbten Haut mutete er Pancho wie ein Kind an, aber er steuerte das Schiff geübt. Ihr fiel auf, dass er markante breite Schultern hatte. Pancho wusste, dass sie als Pilotin etwas aus der Übung war, aber insgeheim sehnte sie sich doch nach einer Gelegenheit, diesen Eimer zu fliegen — und sei es nur für eine kurze Strecke. Aber darum konnte sie natürlich nicht bitten. Die Vorstandsvorsitzende der Astro Corporation war doch kein Flieger-Mädchen. Eine der Schmähungen, die Humphries ihr oft an den Kopf warf, war ›Schraubfix‹. Pancho hatte nicht die Absicht, dem Stecher noch zusätzliche Munition zu liefern.

Trotzdem sagte sie sich beim Anblick des jungen Mannes, dessen Finger über die Tastatur der Steuerkonsole huschten, dass es ihr Spaß machen würde, alles aus dieser Kiste herauszuholen.

»Das ist der Punkt, stimmt's?«, fragte George. Er stand hinter dem Pilotensitz und beugte sich nun etwas nach vorn, um aus der Frontscheibe zu sehen. Nichts zu erkennen außer der Wüstenei des dunklen leeren Raums, die mit feierlichen, stetig leuchtenden Sternen durchsetzt war.

Der Name des Piloten war Oskar Johannson. Trotz seines jugendlichen Erscheinungsbilds verkehrte er förmlich und steif mit George und Pancho.

»Ja, Sir«, sagte er und wies auf den Hauptbildschirm der Steuerkonsole. »Das in Gelb sind die Koordinaten, und der blinkende rote Cursor ist unsere Position. Wie Sie selbst sehen, Sir, überlappen sie sich. Wir sind an der richtigen Position.«

George nickte. Pancho bewunderte das starke Kinn von Johannson und die blendend weißen Zähne. Ich wünschte mir, er würde mal lächeln, sagte sie sich. Ich frage mich, was wohl erforderlich wäre, um ihn ein wenig aus der Reserve zu locken.

»Keine Schiffe in Sicht?«

»Nichts in Sicht, Sir, außer einem kleinen Asteroiden etwa fünfhundert Klicks entfernt, ungefähr in der Vier-Uhr-Position.« Er betätigte eine Taste. »Fünfhundertsiebzehn Kilometer, einhundertzweiundzwanzig Grad relativ zu unserer Position, acht Grad Überhöhung.«

Pancho lächelte angesichts der Ernsthaftigkeit des Jungen. »Ich dachte, dass es hier im Umkreis von mindestens tausend Klicks keine Gesteinsbrocken gibt«, sagte sie.

»Asteroiden werden ständig in neue Umlaufbahnen gezwungen, Pancho«, sagte George und zupfte sich am Bart. »Durch Gravitations-Resonanzen vom Jupiter und den anderen Planeten werden die kleineren Asteroiden sozusagen immer wieder neu zusammengewürfelt.«

»Ein unmarkierter Felsen«, sagte sie und widerstand dem Drang, sich selbst ans Display zu setzen. »Wir könnten ihn genauso gut beanspruchen.«

»Um das zu tun, müsste einer von uns in einen Raumanzug steigen und dort eine Markierung anbringen.«

»Wieso denn nicht?«, sagte Pancho und stieß sich vom Sitz ab. »Ich werde es tun. Ihn für Astro beanspruchen.«

»Gib mir eine vergrößerte Ansicht, Oskar«, sagte George. Das Radarbild zeigte einen hanteiförmigen chondritischen Asteroiden, der langsam um die Querachse taumelte.

»Eine Erdnuss«, sagte George. »So sollten wir ihn auch nennen.«

»Ida«, sagte Johannson. »Asteroid Nummer 243.«

»Prahlst du mit deiner höheren Schulbildung, Ossie?«, fragte George.

Johannson wurde tatsächlich rot.

Pancho schob sich an George vorbei und sagte: »Ich werde rausgehen und ihn beanspruchen. Da habe ich wenigstens etwas zu tun, während wir darauf warten, dass Lars auftaucht.«

George drehte sich um und schlüpfte hinter ihr durch die Luke. »Ich werde dir zur Hand gehen, Pancho.«

»Das schaffe ich schon allein«, sagte sie und ging durch den schmalen Gang zur Hauptluftschleuse, wo die Raumanzüge gelagert wurden.

»Du wirst Hilfe beim Anlegen des Raumanzugs brauchen«, rief George ihr nach. »Ich muss selbst auch einen Anzug anlegen, weißt du.«

»Du brauchst nicht …«

»Sicherheitsvorschriften«, sagte George bestimmt. »Jemand muss im Raumanzug in Bereitschaft sein, um bei einem Notfall sofort rauszugehen.«

Pancho schnaufte unwillig, protestierte aber nicht mehr. Sie wusste, dass diese Sicherheitsvorschriften schon viele Astronauten gerettet hatten. Also gestattete sie George, ihr in den Anzug zu helfen und die Dichtungen und Systeme zu überprüfen. Dann half sie George und checkte seinen Anzug durch.

»Was ist denn so komisch?«, fragte George, als er den Kugelhelm über seine wilde rote Mähne stülpte.

Pancho war sich gar nicht bewusst, dass sie grinste. Der Anzug mit George darin schien aus allen Nähten zu platzen. »Georgie, du siehst aus wie ein rothaariger Weihnachtsmann, weißt du das?«

»Ho, ho, ho«, erwiderte er sarkastisch.

Pancho war bereit, die Luftschleuse zu betreten, als die Stimme von Johannson über den Schiffs-Interkom ertönte:

»Ein Schiff nähert sich«, rief er. »Es kommt schnell näher.«


»Laser scharf und bereit, Sir«, sagte der Waffenmeister.

Harbin nickte knapp; den Blick hatte er auf die Abbildung der Mathilda II auf dem Hauptbildschirm der Brücke der Samarkand geheftet. Nichts innerhalb des Erfassungsbereichs außer einem kleinen Asteroiden ungefähr fünfhundert Klicks entfernt.

Die Samarkand war mit zwei starken Kontinuierlichen Lasern bestückt, die von den Schneidwerkzeugen der Felsenratten abgeleitet waren, und mit einer Hochenergiepuls-Waffe, die auf eine Distanz von tausend Kilometern ein zentimetergroßes Loch in die Hülle eines Raumschiffs zu schießen vermochte.

Harbin sah, dass das Besatzungs-Modul der Mathilda nicht in der Visierlinie war; es war von seinem schnell sich nähernden Schiff wegrotiert und wurde durch die Masse des Antriebssystems, der Motoren und großen kugelförmigen Treibstofftanks teilweise abgeschirmt.

»In Bereitschaft bleiben«, befahl Harbin ruhig. Die dreiköpfige Besatzung auf der Brücke saß angespannt da und wartete auf den Feuerbefehl.

Nur noch ein Stückchen näher, sagte Harbin atemlos zur langsam rotierenden Mathilda. Dreh dich noch ein wenig.

Jetzt. Das Besatzungs-Modul war nun deutlich zu sehen.

»Feuer«, sagte Harbin zum Waffenmeister. Um wirklich sicherzugehen, drückte er den roten Knopf auf der Tastatur, die in die Armlehne des Kommandantensitzes eingelassen war.

»Wir haben sie«, wisperte er triumphierend.


Pancho war in der Luftschleuse und schickte sich an, auszusteigen und den namenlosen Asteroiden zu beanspruchen, als sie einen gurgelnden Schrei in den Ohrhörern hörte und Alarmsirenen ein ohrenbetäubendes Heulen anstimmten. »Was ist das?«, schrie sie ins Helm-Mikrofon.

»Weiß nicht«, sagte Georges Stimme. »Hört sich so an, als ob sich die Notfallschotts geschlossen hätten.«

Pancho schlug auf die Luftschleusen-Steuerkonsole und brach den Pumpzyklus ab. Dann öffnete sie wieder die Innenluke. George war im Raumanzug und ließ den Blick durch den Gang schweifen; Sorgenfalten zerfurchten sein bärtiges Gesicht.

»Ich bekomme Johannson nicht ans Interkom«, murmelte er.

»Wir haben einen Luftdruckabfall«, sagte Pancho und wies auf die Schaltfläche am Notfallschott ein paar Meter weiter im Gang.

»Dann lassen wir die Anzüge besser an«, sagte George und ging zur geschlossenen Luke.

Pancho folgte ihm durch drei Luken und durch die Bordküche bis zur Luke, die auf die Brücke führte. Rote Warnlampen zeigten an, dass es auf dem ganzen Weg keinen Luftdruck mehr gab.

»Jesus!«, rief George, als er die Luke aufstieß.

Pancho schaute George über die Schulter und sah, dass in der Frontscheibe der Brücke ein faustgroßes Loch klaffte; die Steuerkonsole war mit hellrotem Blut bespritzt. Johannson war auf dem Sitz zusammengesackt, und der blutige Kopf wackelte auf den Schultern. George ging zu ihm hin und drehte den Pilotensitz etwas. Johannsons Augen waren herausgedrückt worden, und aus dem offenen Mund strömte Blut.

Zum ersten Mal in ihrer langen Karriere als Astronaut und Manager eines Weltraum-Unternehmens erbrach Pancho sich in den Helm ihres Raumanzugs.


»Treffer!«, sagte der Waffenmeister.

Harbin sah, dass sie das Besatzungs-Modul tatsächlich getroffen hatten, wahrscheinlich auf der Höhe der Brücke. Gut.

»Geschwindigkeit drosseln und ans Ziel angleichen«, befahl er. »Näher ran.«

Nun ging es nur noch darum, das Schiff in Stücke zu schneiden und dafür zu sorgen, dass niemand darin überlebte.

Plötzlich gingen die Lichter auf der Brücke aus. Als die trübe Notbeleuchtung anging, sah Harbin, dass die Konsole des Piloten ein rotes Lichtermeer war.

»Was ist los?«, fragte er.

»Funktionsstörung in der Waffengondel«, sagte die Pilotin, während ihre Finger über die Konsolen-Tastatur huschten. »Ausfall der Elektrik und …«

Die Lampen blinkten. Dieses Mal spürte Harbin, wie ein leichter Ruck durchs Schiff ging.

»Wir sind getroffen worden!«, blaffte er.

»Die Mathilda schießt nicht auf uns«, sagte der Navigator und starrte auf den Hauptbildschirm. »Das Schiff ist nicht bewaffnet. Es ist nur ein …«

Die Samarkand schlingerte merklich.

»Wir drehen uns!«, rief die Pilotin. »Treibstofftank Nummer zwei ist getroffen!«

»Sie schießen auf uns«, rief Harbin.

»Aber das können sie doch gar nicht!«

»Irgendjemand schießt aber auf uns!«, insistierte er. »Bring uns von hier weg!«

»Ich versuche, das Schiff unter Kontrolle zu bringen«, schrie die Pilotin mit überschnappender Stimme. Sie war der Panik nahe.

Wir müssten die Raumanzüge anlegen, sagte Harbin sich. Nur dass wir dafür keine Zeit mehr haben.

»Bring uns weg von hier!«, wiederholte er und versuchte dabei ruhig und gemessen zu klingen.

Es ist dieser Asteroid, wurde er sich bewusst. Irgendjemand ist auf diesem Asteroiden und schießt auf uns. Es muss Fuchs sein.


Lars Fuchs stand mit leicht gespreizten Beinen und in die Hüfte gestemmten Fäusten hinter dem Sitz des Piloten. Mit zornig funkelnden Augen studierte er den Bildschirm.

Sie haben auf Georges Schiff gefeuert, sagte er sich. Wieso? Ob sie glaubten, dass ich an Bord war? Oder wollten sie Pancho töten? Wahrscheinlich beides.

»Der Feind flieht«, sagte Nodon. Er sprach mit leiser Stimme und in neutralem Ton, um Fuchs nach Möglichkeit nicht noch mehr zu erzürnen.

»Lass sie abziehen«, sagte Fuchs. »Der Hund hat Prügel bezogen, und es hat keinen Sinn, wenn er kehrtmacht und nach uns schnappt.«

Keines der Besatzungsmitglieder auf der Brücke erhob einen Einwand.

»Sanja«, sagte Fuchs zu dem Mann an der Kommunikations-Konsole, »versuch Kontakt zu dem Schiff herzustellen, das sie angegriffen haben.«

Nach ein paar Minuten erschien Big Georges Gesicht auf dem Schirm; das ziegelrote Haar und der Bart steckten noch immer unter dem Kugelhelm seines Raumanzugs.

»Wir haben einen Mann verloren«, sagte George grimmig. »Keine Schäden an den Systemen des Schiffes.«

Beim Blick über Georges breite Schulter sah Fuchs, dass Besatzungsmitglieder in Raumanzügen die Frontscheibe der Brücke mit Kunstharz abdichteten.

»Wir werden das Schiff in einer halben Stunde wieder mit Druck beaufschlagt haben; vielleicht auch schon früher«, sagte George.

»Pancho ist bei dir?«, fragte Fuchs.

»Ja. Ihr ist nichts passiert.«

»Du sagtest, dass sie mich sprechen wollte.«

»Ich werde sie ans Gerät holen«, sagte George.

Fuchs wartete ungeduldig und kämpfte gegen den Drang an, auf dem engen Raum der Brücke der Nautilus umherzustapfen. Nach ein paar Minuten verschwand Georges Gesicht vom Schirm und wurde durch Panchos Konterfei ersetzt. Sie befand sich anscheinend in einer Privatkabine und trug noch immer den Raumanzug.

»Er hat versucht, Sie zu ermorden«, sagte Fuchs ohne Umschweife.

»Humphries?«, erwiderte sie.

»Wer denn sonst.«

»Vielleicht hatte er es auch auf Sie abgesehen«, sagte Pancho.

»Er hat Amanda versprochen, mich in Ruhe zu lassen«, sagte Fuchs mit vor Ironie triefender Stimme.

Ein sonderbarer Ausdruck erschien auf Panchos Gesicht. Er vermochte nicht zu sagen, was ihr in diesem Moment durch den Kopf ging.

»Es könnte auch ein ›freier‹ Söldner gewesen sein«, sagte sie schließlich. »Viele Leute sind hinter Ihrem Skalp her, Lars.«

Er schüttelte grimmig den Kopf. »Das war kein Freibeuter. Er wusste, wo Sie sein würden, und er wusste auch, dass Sie ein Treffen mit mir arrangieren wollten. Nur einer von Humphries' Agenten würde über solche nachrichtendienstlichen Erkenntnisse verfügen.«

Pancho nickte unterm Helm des Raumanzugs. »Stimmt wohl.«

Fuchs atmete tief durch und sagte: »Also, Pancho, Sie wollten mit mir sprechen. Hier bin ich. Was gibt es denn so Wichtiges?«

Dieser seltsame Ausdruck umwölkte ihr Gesicht plötzlich wieder. »Lars, ich muss mit Ihnen persönlich darüber sprechen. Nicht über eine Funkverbindung.«

»Unmöglich. Sie können nicht an Bord meines Schiffes kommen, und ich werde es auch nicht verlassen. Sprechen Sie jetzt. Worum geht es?«

Sie zögerte, offensichtlich hin- und hergerissen zwischen widerstreitenden Gefühlen.

»Nun?«, sagte er.

»Lars … es geht um Amanda. Bevor sie starb …«

»Sie ist tot?« Fuchs spürte, wie das Herz unter den Rippen sich verkrampfte. »Amanda ist tot?«

Pancho schaute betrübt. »Ich wollte es Ihnen nicht auf diese Art sagen. Ich wollte …«

»Sie ist tot?«, wiederholte Fuchs mit hohler Stimme. Er hatte das Bedürfnis, sich zu setzen, aber er durfte hier auf der Brücke vor seiner Besatzung keine Schwäche zeigen.

»Sie ist bei der Geburt gestorben, Lars.«

»Als sie seinen Sohn zur Welt brachte«, murmelte Fuchs.

»Nein, nicht …«

»Er hat sie getötet. Humphries hat sie getötet, als ob er ihr eine Pistole an den Kopf gesetzt und den Abzug betätigt hätte.«

»Lars, Sie verstehen nicht«, sagte Pancho fast flehentlich.

»Ich verstehe alles«, knurrte er. »Alles! Jetzt, wo sie tot ist, ist auch das verlogene Versprechen hinfällig, das er ihr gegeben hat. Nun wird er alles daransetzen und jeden Auftragskiller, den er kaufen kann, auf mich ansetzen. Aber es wird nicht funktionieren, Pancho. Er wird mich niemals töten!«

»Lars, bitte. Lassen Sie mich doch erklären …«

»Aber ich werde ihn töten!«, brüllte Fuchs und hob die Fäuste über den Kopf. »Ich werde ihm dieses selbstgefällige Grinsen aus der Visage prügeln und ihn mit diesen bloßen Händen umbringen! Ich werde es ihm wegen Amanda heimzahlen! Ich werde ihn töten!«

Er wankte zwischen den beiden Pilotensitzen hindurch und schlug so fest auf die Kommunikationskonsole, dass Glas splitterte. Panchos Abbildung verschwand vom Bildschirm.

»Ich werde dich töten, Humphries!«, schrie Fuchs einem seelenlosen Weltall entgegen.

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