Basis Leuchtender Berg

Pancho huschte leichtfüßig wie eine Gazelle die Rampe zur obersten Ebene der Basis hinauf. Auf der letzten Etappe der Rampe sah sie schon die gerippte Unterseite der Oberflächen-Kuppel. Gleich hab ich's geschafft, sagte sie sich.

Doch dann blieb sie wie angewurzelt stehen, als sie vier Männer erspähte, die bei den neben der Schleuse aufgehängten Raumanzügen standen. Das Quartett bestand aus Japanern, die himmelblaue Overalls mit dem weißen Kranich-Emblem der Yamagata Corporation trugen. Und jeder hatte eine fies aussehende Waffe in einem Futteral an der Hüfte stecken.

Sie sahen sie auch. Zwei rannten auf Pancho zu, als sie kehrtmachte und die Rampe wieder hinunterlief, zurück zu den lauten, geschäftigen Bautrupps und den Minischleppern, die Lasten aus Stahlträgern und Trockenmauer-Elementen transportierten. Sie flankte übers Geländer der Rampe und kam leicht auf dem ein paar Meter tieferen staubigen Boden auf.

Der Lärm gereicht mir zum Vorteil, sagte sie sich. Das Geschrei der Wachen wird ungehört verhallen, und diese Bauarbeiter haben keinen Funkempfänger im Ohr. Sie lief neben einem der elektrisch angetriebenen Minischlepper her und sprang auf den Hänger. Sie landete zwischen Drahtrollen und flexiblen, federnden Kunststoff-Rohrleitungen.

Sie legte sich flach hin und hoffte, dass die Wachen sie nicht gesehen hatten, wie sie auf den Anhänger aufgesprungen war. Der Schlepper rollte weiter; alles, was Pancho sah, waren die unverkleideten Streben, die die Decke trugen.

Sie zermarterte sich das Gehirn. Die Luftschleusen sind eine Ebene höher, aber sie werden bewacht. Das Gleiche gilt für die Anzüge. Selbst wenn ich mir einen Raumanzug schnappte, würden die Wachen mich ergreifen, bevor ich Zeit hätte, ihn anzuziehen. Und dann tobt auch noch der verdammte Sonnensturm da draußen. Kein günstiger Zeitpunkt für einen Spaziergang auf der Oberfläche.

Ich könnte den Softsuit anziehen, sagte sie sich. Ich habe ihn doch in der Reisetasche. Den selbstaufblasenden Helm habe ich zwar noch nie benutzt, aber Doug sagte, dass er gut funktioniert. Ja, vielleicht. Aber welche Wahl habe ich?

Das eigentliche Problem war, unentdeckt eine Luftschleuse zu erreichen. Plötzlich musste Pancho breit grinsen. Nein, das Problem besteht darin, an Sprengstoff zu kommen, um eine neue Luftschleuse extra für mich zu schaffen!


Doug Stavenger versuchte sich zu beschäftigen, indem er die Sitzungsprotokolle von Selenes Regierungsrat abarbeitete. Als er Berichte des Wasserausschusses, der Wartungsabteilung und des Sicherheitsbüros las, verschwammen die Worte jedoch vor seinen Augen zu Hieroglyphen. Gereizt und nervös befahl er dem Computer, ihm den aktuellen Bericht über den Sonnensturm zu zeigen.

Eine Wand des Büros in seinem Heim löste sich scheinbar in eine dreidimensionale Darstellung des Erde/Mond-Systems auf. Es war in ein heißes rosa Glühen gebadet, das die Strahlenwolke darstellte. Stavenger dämpfte den Ton; er zog es vor, die Werte für die Strahlungsintensität und prognostizierte Zeitdauer des Sturms zu lesen, die am unteren Rand des Holo-Bilds eingeblendet wurden.

»Flugverkehr einblenden«, sagte er ruhig.

Mehrere gelbe Punkte erschienen im Bild. Einer von ihnen wurde als die Elsinore identifiziert — das Schiff, auf dem Edith sich befand.

»Flugbahnen.«

Dünne grüne Kurven erschienen: Der Graph, der der Elsinore zugeordnet war, war nach rechts gerichtet, aus der Wolke hinaus.

»Zielpunkte hinzufügen.«

Der geplante Pfad der Elsinore endete an einem Punkt mit der Bezeichnung ›Ceres‹. Stavenger stellte fest, dass von allen Schiffen in der Region nur eins keinen ausgewiesenen Bestimmungsort hatte — ein Schiff mit dem Namen Cromwell. Es wurde auch kein Kursvektor eingeblendet. Und es stand auch tief innerhalb der Strahlenwolke.

Plötzlich verschwand der Punkt der Cromwell. Stavenger starrte auf die Anzeige. Entweder war das Schiff plötzlich zerstört worden, oder sie hatten alle Zielverfolgungs- und Telemetrie-Bojen abgeschaltet. Andere Schiffe waren nicht in der Nähe, soweit das aus der Darstellung hervorging. Also war die Cromwell auch keinem Angriff zum Opfer gefallen.

Wieso sollte sie alle Bojen abschalten, fragte sich Stavenger. Es dauerte nur einen Moment, bis er dahinterkam.


Pancho sprang vom Anhänger, als der Minischlepper an einem chaotischen Haufen aus Ausrüstung und Kisten vorbeirollte. Das Zeug lag ungeordnet auf dem staubigen Betonboden herum. Der Fahrer sah sie und schrie sie über die Schulter auf Japanisch an, während der Schlepper sich von ihr entfernte.

»Du mich auch, du Arsch«, schrie Pancho zurück und verneigte sich höflich vor dem Fahrer.

Sie warf sich die Reisetasche über die Schulter, duckte sich hinter einen Kistenstapel und durchsuchte ihn. Sprengstoff fand sie zwar nicht, aber etwas, das fast genauso gut war: einen Schweißlaser. Sie kniete sich neben den gerippten Lauf des Lasers nieder und betätigte den Schalter. Mist! Die Akku-Ladezustandsanzeige war schon weit im roten Bereich. Ich brauche eine Stromquelle, sagte sie sich.

Plötzlich plärrten die Lautsprecher, die ungefähr alle fünfzig Meter an Masten hingen, in hartem, schnellem Japanisch. Pancho verstand die Worte nicht, wohl aber die Botschaft: Hier treibt sich ein Eindringling herum. Schnappt ihn euch!

Der Baustellenlärm brach schlagartig ab. Das mutete Pancho geradezu unheimlich an. Die dröhnende, summende, kreischende Baustelle verstummte. Der Ort schien sich plötzlich in einen Friedhof verwandelt zu haben.

Aber nur für einen Moment. Pancho kauerte hinter einer Kiste und sah, wie die blau gekleideten Bauarbeiter sich unsicher umschauten. Vorarbeiter gingen zwischen ihnen umher und erteilten barsch Anordnungen. Die Arbeiter sammelten sich in Gruppen von vier, fünf oder sechs Leuten und suchten methodisch den Boden ab. Pancho vermutete, dass sie das auf den anderen Ebenen auch taten.

Die hinter der Kiste kauernde Pancho kam sich vor wie eine Maus in einer Versammlungshalle voller Katzen. Der Laser war griffbereit, doch ohne Strom war er nutzlos. Und selbst wenn ich rauskomme, sagte sie sich, werde ich durch den Sturm rennen müssen, um zu den Raumbooten auf der Startrampe zu gelangen. Meine Aussichten sind nicht berauschend.

Und dann sah sie denselben Minischlepper, auf dem sie mitgefahren war, über den mit Zementstaub bedeckten Boden auf sich zukommen. Zwei Männer hatten sich neben dem Fahrer ins Führerhaus gequetscht.

Er erinnert sich daran, dass ich bei ihm mitgefahren bin, wurde Pancho sich bewusst, und bringt nun diese Affen mit, damit sie die Gegend absuchen. Sie lächelte. Die Zugmaschine wäre eine ideale Ladestation für den Laser, sagte sie sich. Alles, was ich tun muss, ist, diese drei Kerle loszuwerden. Sie nahm den anderen Ohrring ab und hielt ihn fest umklammert.

Auf dem kahlen Betonfußboden sitzend, mit dem Rücken zur Plastikkiste, hörte Pancho den Schlepper näher kommen und dann anhalten. Stimmen, die etwas auf Japanisch riefen. Sie wusste, dass die Männer ausstiegen und herumschnüffeln würden.

Sie erhob sich. Die drei sahen sie sofort. Pancho stellte verwundert fest, dass der behelmte Fahrer eine junge Frau war. Die anderen zwei ohne Helm waren hartgesichtige Männer. Und mit Pistolen bewaffnet.

»Sie!«, schrie einer der Männer auf Englisch und richtete eine Pistole auf sie. »Keine Bewegung!«

Pancho hob langsam die Hände über den Kopf; den Ohrring hatte sie noch in der rechten Hand. Wartet, sagte sie sich und schnippte den Verschluss des Ohrrings mit dem Daumen auf. Lass sie noch etwas näher herankommen.

Jetzt! Sie warf den Ohrring nach ihnen und schlug beide Arme vor die Augen. Der Lichtblitz drang noch durch die geschlossenen Lider und brannte ein rotes Nachbild auf die Netzhaut. Doch als sie die Augen wieder öffnete, war die Sehfähigkeit wieder vorhanden. Die zwei Schlägertypen krümmten sich auf dem Boden und kreischten auf Japanisch. Die Fahrerin tappte blind umher. Panchos Augen schmerzten und tränten. Sie blinzelte die Tränen weg und packte den Laser mit beiden Händen. Dann drängte sie sich an der blindlings tastenden Fahrerin vorbei und warf den Laser auf die Ladefläche des Schleppers. Selbst bei einem 6tel Ge wog er noch schwer.

Schnell koppelte sie den Hänger ab und schwang sich ins Führerhaus der Zugmaschine. Sie fuhr los und steuerte die nächste Rampe zur obersten Ebene an.

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