Technisch befand das Hauptquartier der Astro Corporation sich noch in La Guaira an der überfluteten Küste Venezuelas. Jedoch hatte Pancho fast die ganze Belegschaft der Konzern-Zentrale nach Selene versetzt. Der größte Teil des Vorstands lebte in der Mondstadt und auch die Personen, die nicht auf elektronischem Weg an den Vorstandssitzungen teilnahmen. Durch die Kommunikationsverzögerung von drei Sekunden wurden die Sitzungen zu einer zähen Angelegenheit, doch nahm Pancho das bereitwillig in Kauf. Die Aktivitäten von Astro fanden im Weltraum statt; der Transport des Asteroiden-Erzes zur Erde war im Wesentlichen eine Weltraum-Operation, und Pancho hatte schon immer Wert darauf gelegt, im Brennpunkt der Action zu sein.
Nun saß sie im getäfelten Sitzungssaal an ihrem üblichen Platz am Ende des langen polierten Konferenztisches. Die einzige andere Person im Raum war Jacob Wanamaker, auch bekannt als ›Hard-Ass Jake‹. Wanamaker, ein pensionierter Kommandeur der Internationalen Friedenstruppe, war ein breitschultriger, korpulenter und jovial wirkender älterer Herr mit einem schiefen Lächeln und traurigen braunen Augen mit Tränensäcken, die Tod und Vernichtung im Übermaß gesehen hatten.
Nobuhiko Yamagata hatte Pancho drei militärische Berater empfohlen: einen japanischen Söldner, der in Kleinkriegen von Indonesien bis Chiapas in Mexiko gekämpft hatte; eine Schwedin, der es gelungen war, eine multinationale Streitmacht zu organisieren, die den Aufruhr im südlichen Afrika niederschlug, und Hard-Ass Jake. Die beiden ersteren hatten die Erde noch nie verlassen; Wanamaker hingegen hatte schon ein paar Einsätze an Bord einer Raketenabwehr-Raumstation im Erdorbit hinter sich. Außerdem war Jacob Wanamaker Admiral der US-Marine gewesen, bevor er den Posten bei der IPF annahm, und Pancho glaubte, dass der Kampf im Weltraum eine größere Ähnlichkeit mit einem Seekrieg als mit Bodenoperationen hätte.
Nachdem sie die drei Kandidaten persönlich interviewt hatte, war Jake mit Abstand ihr Favorit. Er war offen und machte kein Hehl aus seiner mangelnden Weltraum-Erfahrung, doch schimmerte hinter seiner Höflichkeit und den guten Umgangsformen die Zähigkeit durch, für die er berühmt war. Pancho hatte Männer wie ihn gesehen, als sie im Westen von Texas aufgewachsen war.
»Es geht vor allem darum«, sagte er ihr mit seiner rauen Stimme, »die Kommunikationswege zu kontrollieren. Und um das zu erreichen, brauchen Sie bewaffnete Schiffe und Stützpunkte, wo sie mit Nachschub versorgt und repariert werden können.«
Pancho nickte. »Hört sich teuer an.«
Wanamakers wettergegerbtes Gesicht kündete von harter und leidvoller Erfahrung. »Kriege sind nie billig, Ms. Lane. Sie kosten viel Blut und viel Geld. Eine Menge Geld.«
»Das muss trotzdem aufregend sein«, sagte sie, um ihn aus der Reserve zu locken.
Wanamaker sah sie prüfend an. »Aufregend? — Wenn Sie es für lustig halten, sich in die Hose zu scheißen, weil Sie schon in der nächsten Millisekunde getötet werden könnten … jawohl, dann könnte man das aufregend nennen.«
In diesem Moment entschied Pancho sich dafür, Jacob Wanamaker anzuheuern.
Und nun saßen sie im ansonsten leeren Sitzungsraum und entwickelten eine Strategie.
»HSS hat eine große Basis auf Vesta«, sagte Pancho. »Was wollen wir diesbezüglich unternehmen — sie angreifen?«
Wanamaker schürzte die Lippen und sagte dann mit seiner Sandpapierstimme: »Es hat wenig Sinn, sie anzugreifen, wo sie sich bereits eingegraben und eine starke Verteidigung aufgebaut haben. Das würde zu hohe Verluste fordern.«
»Aber diese Basis ist das Zentrum ihrer ganzen Operationen im Gürtel.«
»Dann neutralisieren Sie sie. Stationieren Sie einen Schiffsverband in der Nähe — nah genug, um Schiffe nach oder von Vesta abzufangen, aber doch so weit entfernt, dass sie nicht in die Reichweite der stationären Abwehr des Asteroiden geraten.«
Pancho nickte.
Wanamaker war nun wieder ganz in seinem Element; er gestikulierte mit den großen Händen und formte sie zu einer imaginären Sphäre.
»Reden wir Klartext«, sagte er. »Wieso stellen Sie nicht drei oder vier Ihrer bewaffneten Schiffe ab, panzern sie mit Asteroidengestein und stationieren sie in einem sicheren Abstand um Vesta? Sie hätten dadurch mehr Feuerkraft als jedes einzelne HSS-Schiff und obendrein ein strategisches Übergewicht.«
»Es wäre eine Art Blockade, richtig?«, fragte Pancho.
Wanamaker grinste sie schief an. »Sie lernen ziemlich schnell.«
Der Überschwang, den Pancho wegen seines Lobes verspürte, verflog schnell wieder. »Aber dann wird Humphries seine Schiffe doch auch in Gruppen losschicken anstatt einzeln, nicht wahr?«
»Ja, die Bildung von Geleitzügen wäre der Gegenzug.«
»Das würde das Ausmaß der Kämpfe vergrößern.«
»Und verteuern.«
Plötzlich sank ihre Stimmung.
Wanamaker reagierte sofort auf ihren Stimmungsumschwung. »Sehen Sie, Ms. Lane …«
»Pancho«, korrigierte sie abwesend.
»Okay, dann Pancho. Sherman hatte Recht: Der Krieg ist die Hölle. Keine Frage. Er kostet so viel Geld und Blut. Wenn es eine Möglichkeit gibt, Ihre Differenzen mit Humphries beizulegen — irgendeine Möglichkeit —, dann sollten Sie sie nutzen und das Blutvergießen vermeiden.«
Sie schaute ihm in die ernsten braunen Augen und sagte: »Das versuche ich schon seit über acht Jahren, Jake. Es gibt aber keine Möglichkeit — außer man räumt Humphries die vollständige Kontrolle über den Gürtel ein, was die vollständige Kontrolle über das ganze Sonnensystem bedeuten würde. Das werde ich nicht zulassen. Das kann ich nicht.«
Er blies die Backen zu einem gewichtigen Seufzer auf. »Dann werden wir kämpfen müssen.«
»Das sehe ich auch so«, sagte Pancho düster.
»Sie wissen, Kriege werden in erster Linie durch die Moral der kämpfenden Truppe gewonnen. Kaum eine Einheit kämpft bis zum letzten Mann oder bis zur letzten Patrone. Schon gar nicht Söldner, wie Sie sie einsetzen. Irgendeiner kommt immer zu dem Schluss, dass es hoffnungslos sei und gibt auf, bevor er noch getötet wird.«
»Oder irgendeine«, sagte Pancho.
Er pflichtete ihr mit einem Kopfnicken bei. »Kämpfe werden im Kopf und im Herzen gewonnen, Pancho. Kriege auch. Der Sieger ist immer derjenige, der sich die Niederlage nicht eingestehen will.«
Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück, streckte die langen Beine aus und starrte auf die glatte weiße Decke des Vorstandszimmers.
»Humphries ist ein sturer Hundesohn«, sagte sie. »Zumal er selbst nie kämpft. Er sitzt sicher und gemütlich in seinem Haus im tiefsten Untergeschoss und gibt die Befehle.«
»Und bezahlt die Rechnungen«, fügte Wanamaker hinzu.
Pancho starrte ihn an.
»Um diesen Krieg zu gewinnen, müssen wir dafür sorgen, dass eine Fortsetzung zu teuer für ihn wird.«
»Das bedeutet, dass er für Astro auch teuer wird, und ich habe einen Vorstand, dem gegenüber ich mich rechtfertigen muss. Humphries hingegen kann sich über seinen Vorstand hinwegsetzen.«
Wanamaker nickte verständnisvoll. »Dann werden Sie sich eben auch mit Ihrem Vorstand auseinander setzen müssen«, erwiderte er. »Nur weil Sie an der Spitze der Befehlskette stehen, heißt das noch lange nicht, dass Sie alles auf Ihre Kappe nehmen müssen, Pancho.«
Sie versuchte zu lächeln. »Ich glaube, der Preis von Rohstoffen aus dem Gürtel wird demnächst steigen.«
George wurde von Panchos Nachricht überrascht.
»Gib Vollgas bei der Nanoverarbeitung«, sagte sie todernst. »Wir müssen die Kosten für die Ausbeutung der Asteroiden unbedingt reduzieren.«
George musterte ihr Bild auf dem Wandbildschirm seines Wohnzimmers und wurde nicht ganz schlau aus ihr. Erst sagt sie, dass Nanoverarbeitung den Markt ruinieren würde, und nun kann es ihr gar nicht schnell genug gehen. Was ist nur los mit ihr?
Panchos nächster Satz erklärte es zumindest teilweise. »Es kommen hohe Kosten auf Astro zu, Georgie. Wir müssen alles tun, um die Kosten zu senken und möglichst viel Gewinn mit dem Bergbaubetrieb zu erzielen, damit wir für die kommenden Herausforderungen gerüstet sind.«
»Vor welchen Herausforderungen stehen wir denn?«, fragte George Panchos Bild.
Sie vermochte natürlich nicht zu antworten — jedenfalls nicht binnen einer Stunde oder so, aber George befürchtete, dass er die Antwort ohnehin schon wusste. Sie werden es auskämpfen, sagte er sich. Keine vereinzelten Scharmützel mehr; sie werden einen totalen Krieg führen. Und sie werden es genau hier im Gürtel tun.
»Noch etwas«, fuhr Pancho fast ohne eine Atempause fort. »Lars ist da draußen in größerer Gefahr als je zuvor. Sag ihm, dass es Zeit für ihn wird, aus der Kälte zu kommen. Ich vermag ihm eine neue Identität zu geben, mit der er hier in Selene leben kann oder auch wieder auf der Erde, wenn er das möchte. Er muss den Gürtel zu seiner eigenen Sicherheit verlassen.«
George nickte Panchos Pferdegesicht zu. Es machte einen ernsten und düsteren Eindruck. Wie eine Frau, die in den Krieg zog, sagte George sich. Nein, korrigierte er sich, sie sieht eher wie ein Racheengel aus.
Victoria Ferrer beobachtete Humphries' Reaktion auf die aktuellsten Berichte seines weit verzweigten Nachrichtendienstes.
»Astro bewaffnet Schiffe«, murmelte er und starrte auf die Grafik, die über seinem Schreibtisch in der Luft hing. »Und sie forcieren den Nanoverarbeitungs-Plan.«
»Sie bereitet sich auf einen Krieg vor«, sagte Ferrer. »Gegen Sie.«
Er schaute mit einem Ausdruck kalten Zorns zu ihr auf. »Mit Nanoverarbeitung kann Pancho ihre Kosten reduzieren und Astro zusätzliche Gewinne bescheren, um ihren Krieg zu finanzieren.«
»Dann müssen wir eben auch zu Nanoverarbeitung greifen.«
»Und zwar verdammt schnell«, blaffte Humphries.
»Der Wissenschaftler, der den Prozess perfektioniert hat, ist hier in Selene«, erläuterte Ferrer. »Er ist mit Pancho gekommen.«
»Werben Sie ihn von Astro ab«, sagte Humphries wie aus der Pistole geschossen.
»Er ist gar kein Astro-Mitarbeiter«, sagte sie. »Zumindest nicht offiziell.«
»Dann stellen Sie ihn ein. Geben Sie ihm, was er will. Und wenn er nicht freiwillig zu uns kommt, kidnappen Sie ihn. Ich will, dass er für mich arbeitet!«
»Ich verstehe«, sagte Ferrer.
Humphries rieb sich die Hände. »Bei Gott, mit Nanoverarbeitung werden wir die Bergbaukosten fast auf null reduzieren. Etwa bis aufs Niveau der Transportkosten.«
»Nanotechniker sind aber nicht billig.«
»Billig genug«, sagte er spöttisch. »Zumal wir auch nur ein paar von ihnen brauchen. Diese kleinen Helferlein werden nicht nur für uns Erz aus den Asteroiden schürfen, sondern es gleichzeitig zu reinem Metall veredeln. Was will man mehr?«
Ferrer schien weniger begeistert. »Viele Bergarbeiter werden dann arbeitslos.«
»Na und?«, sagte Humphries gleichgültig. »Dann gibt es mehr Söldner.«
Mehr Kanonenfutter, sagte Ferrer sich.
Dorik Harbin befand sich noch immer in seinem Quartier im Asteroiden Vesta. Er versuchte den französischen Ausspruch zu beherzigen, wonach Veränderung das Einzige ist, was wirklich Bestand hat. Stattdessen kam ihm ein Vierzeiler aus dem Rubaiyl in den Sinn:
Und wenn der Wein, die Lippen, die du küsst,
im Nichts vergehn wie alles auf der Welt;
dann weißt du, dass du morgen sein wirst
was du heute schon bist und immer warst.
Die Ironie ist fast kosmisch, sagte Harbin sich. Humphries entlässt mich, weil ich daran gescheitert bin, Fuchs zu töten. Yamagata stellt mich ein, um eine Abteilung von Söldnern zu führen. Humphries heuert Yamagatas Söldner an und stationiert ihre Schiffe auf Vesta. Ich muss nicht umziehen, muss nicht einmal meine Reisetasche packen. Ich bin noch immer an derselben Stelle — tiefer im Rang, aber höher in der Lohngruppe. Alles, was ich tun muss, ist, drei Schiffe in den Kampf gegen die Astro Corporation zu führen. Fuchs ist ein Randproblem geworden.
Seine Beziehung mit Leeza Chaptal hatte sich allerdings geändert. Sie war Yamagatas ranghöchster Offizier unter den Söldnern, die Humphries Space Systems angeheuert hatte. Nun war sie ranghöher als Harbin und hatte wenig Zeit für ihn. Das war auch gut so, sagte Harbin sich. Es machte ihm keinen Spaß, mit einer Vorgesetzten zu schlafen. Es war eine Sache, im Gefecht Befehle von einer Frau entgegenzunehmen; im Bett war es jedoch etwas ganz anderes.
Aber Harbin fand auch so Trost. In der Reisetasche, die er nun doch nicht packen musste, befand sich nämlich ein grauer flacher, länglicher Medikamentensatz mit einer subkutanen Mikrospray-Spritze und einer Anzahl speziell entwickelter Medikamente.
Etwas für jede Stimmung, sagte Harbin sich, als er zur Tasche ging und den Medikamentensatz herausholte. Er setzte sich aufs Bett, öffnete den Klickverschluss und überprüfte die akkurat angeordneten Ampullen in ihren Halterungen. Etwas, um Depressionen zu lindern. Etwas, um die Potenz zu steigern. Dies hier löst Angst. Das hier beschleunigt die Reaktion. Jede Substanz ist eigens auf meinen Stoffwechsel abgestimmt. Und Leeza sagt, Yamagata könne so viel liefern, wie ich brauche.
Was du heute schon bist und immer warst … Er wiederholte die Zeile immer wieder im Geist, während er eine Ampulle aus der akkuraten kleinen Reihe nahm und sie in die Spritze einsetzte. Etwas, um mich alles vergessen zu lassen, sagte er sich. Etwas zum Vergessen.
Er krempelte den Ärmel der Uniformjacke hoch und presste die Spritze auf die Haut des Unterarms. Er hörte das leise, beruhigende Zischen.
Er schaute auf und sah, dass der Wandbildschirm eine Oberflächenansicht von Vesta zeigte. Ein Splitter kahlen Gesteins, und dann die schwarze Leere der Unendlichkeit. Sterne über Sterne schauten ihn stumm und ernst an. Eine öde Wildnis aus Kälte und Finsternis.
Die Wirkung der Droge setzte schnell ein. Harbin legte sich aufs Bett und sagte sich, und schon wird Wildnis uns zum Paradies.
Er schloss die Augen und bat die schweigenden Sterne, ihn vom Träumen abzuhalten.