Selene: Fabrik Nummer Elf

Douglas Stavengers jugendliches Gesicht wurde von Zornes- und Sorgenfalten zugleich zerfurcht, während er langsam die gesamte Länge der Fabrik abschritt. Wie die meisten Mond-Produktionsstätten hatte man Fabrik Elf an der Oberfläche errichtet: offen, dem Vakuum ausgesetzt und nur durch eine dünne Kuppel aus Wabenkernmetall vor dem unaufhörlichen Mikrometeoriten-Regen geschützt.

»Es gibt im Grunde nicht viel zu sehen«, sagte die Betriebsleiterin und deutete mit einer behandschuhten Hand auf die Fässer, in denen winzige Nanomaschinen Raumschiffs-Hüllen aus purem Diamant fertigten — Atom für Atom aus Ruß zusammengesetzt, der aus Asteroiden gewonnen wurde.

Stavenger trug einen der neuen, so genannten ›Softsuits‹ aus nanogefertigtem Gewebe anstatt der schweren Hartschalen-Raumanzüge aus Cermet, wie die Fabrikdirektorin einen trug. Der Softsuit war fast so bequem wie ein Schlafanzug, bis hinunter zu den angeschweißten Stiefeln. Er war leicht anzuziehen und zu schließen. Die Nanomaschinen hielten im Anzug einen fast normalen Luftdruck aufrecht, sodass er sich nicht aufblähte,wie älteres Gewebe es im Vakuum tat. Sogar die Handschuhe waren bequem und flexibel. Ein transparenter Kugelhelm vervollständigte die Ausrüstung, und im Gürtel um Stavengers Taille steckten ein kleiner Luftrecycler und ein noch kleineres Funkgerät.

»Wie ist der Tragekomfort?«, fragte die Fabrikdirektorin. Ihre Stimme klang etwas unbehaglich und nervös in Stavengers Ohrhörer.

»Gut«, sagte er. »Ich wette, ich könnte einen Handstand darin machen.«

»Davon würde ich Ihnen abraten, Sir«, sagte die Frau wie aus der Pistole geschossen.

Stavenger lachte. »Nennen Sie mich doch bitte Doug. Jeder nennt mich so.«

»Ja, Sir. Ich meine … äh … Doug. Mein Name ist Ronda.«

Stavenger kannte ihren Namen schon. Und ihr vollständiges Dossier. Obwohl er schon seit Jahrzehnten kein offizielles Amt mehr in der Regierung von Selene bekleidete, hielt Doug Stavenger dennoch ständig den Finger am Puls der Mondnation. Er genoss den Vorteil des Prestiges und den noch größeren Vorteil der Freiheit. Er vermochte überall hinzugehen, sich alles anzuschauen und jeden zu beeinflussen. Und das tat er auch, in der Regel aber nur sehr dezent.

Doch die Zeit für Subtilitäten lief nun ab. Er hatte um eine Führung durch die modernste Fabrik von Selene gebeten, weil sie errichtet worden war, um neue Fusionsschiffe für die Unternehmen zu liefern, die im Gürtel konkurrierten: mit starken Lasern bewaffnete Fusionsschiffe, Kriegsschiffe mit Hüllen aus Diamant.

Sie bringen sich im Gürtel gegenseitig um, wie Stavenger wusste. Er wusste auch, dass früher oder später — auf die eine oder andere Art — der Krieg nach Selene kommen würde. Er wusste jedoch nicht, wie man das verhindern und den Kampf beenden sollte.

»Aufträge für wie viele Schiffe haben Sie?«, fragte er die Betriebsleiterin.

»Sechs«, erwiderte sie. »Drei von Astro und drei von HSS.« Sie hielt kurz inne und fügte dann hinzu: »Komisch, dass die Bestellungen immer paarweise hereinkommen. Wir bauen immer zeitgleich je ein Schiff für beide Unternehmen.«

Das hatte Stavenger so eingerichtet. Er hatte seinen ganzen Einfluss in die Waagschale geworfen, um zu verhindern, dass Humphries oder Pancho die Gegenseite ausstachen. Wenn sie schon kämpfen wollen, hatte Stavenger sich gesagt, liegt es an uns, für gleiche Wettbewerbsbedingungen zu sorgen. Sobald einer von ihnen die Oberhand bekommt, wird er imstande sein, uns die Rohstoffpreise zu diktieren. »Selene wird dann jeden Preis zahlen müssen, den der Sieger für seine natürlichen Ressourcen verlangt. Wer auch immer diesen Krieg im Gürtel gewinnt, wird auch die Kontrolle über Selene erringen.«

Und Stavenger war fest entschlossen, das auf keinen Fall zuzulassen.

»Angenommen, es würde auch eine dritte Partei Raumschiffe bestellen«, sagte er betont beiläufig zur Betriebsleiterin. »Wären Sie imstande, die Bestellungen mit der derzeitigen Kapazität auszuführen?«

Er vermochte ihr Gesicht durch den Hartschalen-Helm nicht zu erkennen, aber er registrierte ihr Nicken. »Sicher. Wir würden ein weiteres Werk errichten müssen, aber das wäre ein leichtes: einfach ein Betonfundament gießen und es überdachen. Den Rest erledigen dann die Nanos.«

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