Trikot Zorach war ein griesgrämiger Astrophysiker, der das Wetter im Weltall studierte. Obwohl er schon in der dritten Generation Amerikaner und in Chicago geboren und aufgewachsen war, war er seinem lettischen Erbe nie entwachsen, mit einer Vorahnung dräuenden Unheils belastet zu sein.
Er saß in seinem unordentlichen Büroverschlag — ein stämmiger, ungepflegter Mann mit der Statur eines Hydranten und mit einem dicken widerborstigen, vorzeitig ergrauten Haarschopf, der ihm in die Stirn fiel. Er wurde von Bildschirmen, Bücherstapeln, Berichten, Videochips und den verstreuten Resten vieler Mahlzeiten umzingelt, die er am Schreibtisch eingenommen hatte.
Weil der interplanetare Raum ein fast vollkommenes Vakuum ist, lächelten die meisten Menschen oder lachten sogar, wenn Zorach ihnen von seinem Beruf erzählte und auf einen ›Knalleffekt‹ warteten, der nie eintrat. Es gab weder Regen noch Schnee im Weltraum, wohl wahr. Zorach wusste aber, dass es einen Wind aus geisterhaften mikroskopischen Partikeln gab, der in Böen von der Sonne wehte: ein Sonnenwind, der manchmal Orkanstärke und mehr erreichte. Außerdem gab es einen ständigen Nieselregen kosmischer Partikel von den entfernten Sternen.
Und es gab Wolken — manchmal. Unsichtbare, aber durchaus tödliche Wolken.
Seit Jahren hatte er schon daran gearbeitet, exakte Vorhersagen für Sonnenstürme zu treffen. Er studierte die Sonne, bis die Augen vom Starren auf ihr feurig loderndes Bild brannten. Er türmte Berge aus statistischen Analysen auf und versuchte eine Methodik für die Vorhersage von Sonnenstürmen zu finden, indem er die aktuellen Daten mit denen früherer Protuberanzen verglich und auf ihrer Grundlage ›Zurücksagen‹ traf. Er erstellte holografische Karten des interplanetaren Magnetfeldes, wohl wissend, dass jene unsichtbaren Fäden aus Energie die Strahlenwolken lenkten, die durch Protuberanzen ausgeworfen wurden.
Ohne Erfolg. Seine Vorhersagen waren im besten Fall Schätzungen. Jeder lobte ihn zwar und die Ergebnisse, die er erzielte, doch Zorach wusste, dass er einen Sonnensturm erst noch vorhersagen musste. Das war ihm in all den Jahren, die er schon daran gearbeitet hatte, noch nicht gelungen.
Also war er auch nicht sonderlich überrascht, als von einem der Monitore im überfüllten Büro plötzlich ein Signal ertönte. Er drehte sich zu ihm um, nahm mit bloßem Auge jedoch nichts Ungewöhnliches wahr. Die alphanumerischen Zeichenketten am unteren Bildschirmrand sagten ihm aber deutlich, dass soeben ein neuer Sonnensturm ausgebrochen war.
Ein großer noch dazu, wie er sah. Groß und scheußlich. Er wusste, dass das automatische System bereits Warnungen an jedes menschliche Habitat und Vorposten von Selene bis in die Kolonie in der Umlaufbahn um den entfernten Saturn sandte. Dennoch griff er zum Telefon und rief Selenes Sicherheits-Büro an. Sie sollten veranlassen, dass die Oberfläche evakuiert wurde. Er betrachtete das als Ehrensache. Wenn ich die verdammten Stürme schon nicht vorherzusagen vermag, sagte er sich, will ich wenigstens dafür sorgen, dass niemand getötet wird.
Tief unter der Oberfläche des Mondes, in seiner privaten Felsenhöhle, machte Martin Humphries sich keine Sorgen über Sonnenstürme oder die Strahlenwolken, von denen sie begleitet wurden.
Er schlenderte durch den bunten Garten im Innenhof vor der kunstvoll geschnitzten Haustür des Herrenhauses — mit Victoria Ferrer an seiner Seite. Der berauschende Duft der Rabatten mit Rosen und Pfingstrosen erfüllte die Luft, und er hatte das Gefühl, dass der Sieg zum Greifen nahe war.
»Wir gewinnen«, sagte Humphries glücklich. »Wir treiben Astro vor uns her.«
Ferrer, die neben ihm ging, bekundete ihre Zustimmung mit einem Kopfnicken. Dennoch wandte sie ein: »Dieser letzte Zug von Astro könnte die Erzlieferungen vom Gürtel unterbrechen.«
Humphries tat das mit einer Handbewegung ab. »Drohnen, die unsere automatisierten Frachter angreifen? Darüber mache ich mir keine Sorgen.«
»Sollten Sie aber. Das könnte ein Problem werden.«
»Seien Sie nicht albern«, spottete Humphries. »Durch das Fiasko mit der Starlight ist Panchos kleiner Plan aufgeflogen.«
»Aber sie könnten Ihre Gewinne schmälern, wenn …«
»Ich werde mich Astros Drohnen mit einem Schlag entledigen«, sagte Humphries zuversichtlich.
Ferrer schaute ihn fragend an.
»Arrangieren Sie ein Gespräch mit Doug Stavenger für mich.«
»Stavenger?«
»Ja. Wenn ich Stavenger unter die Nase reibe, dass Astro diese Vögel von Selene aus steuert, wird er dem einen Riegel vorschieben.«
»Wird er das?«
»Ja, das wird er«, sagte Humphries breit grinsend. »Er hat mir und diesem Mädchen aus der Gosse deutlich zu verstehen gegeben, dass er keine Kämpfe in Selene will. Keine Kämpfe irgendwo auf dem Mond.«
»Aber bedeutet das auch, dass er Astro auffordern wird, ihr Kontrollzentrum für die Drohnen zu schließen?«
»Das wird er verdammt noch mal tun. Und er wird dieses Verbot auch aufrechterhalten.«
Ferrer schwieg für einen Moment nachdenklich. »Pancho wird das Kontrollzentrum einfach vom Mond in eine Raumstation verlegen«, sagte sie dann.
»Dann werden wir sie in Stücke schießen.« Humphries klatschte in die Hände. »Ich hoffe nur, dass der verdammte Schraubfix an Bord ist, wenn wir die Station auspusten.«
Ferrer musste sich nach kurzer Überlegung eingestehen, dass ihr Boss Recht hatte. HSS-Söldner hatten große Siege über Astro-Streitkräfte im Gürtel errungen. Astro hatte mit den Drohnen, die HSS-Frachter beim Anflug auf den Mond angriffen, zwar einen Überraschungserfolg verbucht; jedoch ging Humphries wahrscheinlich recht in der Annahme, dass Stavenger sie zwingen würde, diese Operationen aus der Sicherheit von Selene zu verlegen. Mit dem Abschuss dieses unabhängigen Frachters und der Tötung der Familie hatte Astro sich natürlich keinen Gefallen getan. Das war ein scheußlicher Rohrkrepierer gewesen.
Und doch hörte sie sich »Was ist mit Fuchs?« fragen. »Er lauert noch immer irgendwo da draußen.«
»Fuchs?«, schnaubte Humphries verächtlich. »Er ist mit seinen Kräften am Ende. Sobald wir Astro vertrieben haben, erledigen wir ihn en passant. Er ist schon so gut wie tot; er weiß es nur noch nicht.«
Seit Wochen hatte Lars Fuchs schon in den Maschinen- und Lagerräumen in Selenes ›Keller‹ gehaust.
Auf dem Mond, wo man umso sicherer vor der Strahlung, den Temperaturschwankungen und dem leichten, aber steten Hagel von Mikrometeoriten war, der die Oberfläche malträtierte, je tiefer unter der Oberfläche man sich befand, war Selenes ›Keller‹ das oberste Stockwerk.
Das direkt unter der Grand Plaza und seiner Peripherie gelegene höchste Untergeschoss von Selene beherbergte die Pumpen, Energieerzeugungskonverter und die sonstigen Lebenserhaltungssysteme, die die Stadt mit Luft, Wasser, Licht und Wärme versorgten. Die Wohnquartiere befanden sich auf den unteren Ebenen: je tiefer, desto prestigeträchtiger — und teurer.
Der ›Keller‹ umfasste auch die Hallen, in denen Ersatzteile, Kleidung und Nahrungsmittelkonserven gelagert wurden, sowie die Tanks mit dem Wasser, das die Einwohner von Selene als Trink- und Brauchwasser nutzten. Kurz gesagt, im ›Keller‹ gab es alle Vorräte, die ein Renegat, ein Flüchtling, ein heimatloser Exilant zum Überleben brauchte.
Während der vielen Jahre in Ceres hatte Fuchs Big George Ambrose zugehört, wenn der stundenlang von den › schlechten alten Zeiten‹ erzählte, in denen er als Flüchtling in Selenes unterirdischer Schattenwirtschaft gelebt und mit seinem Instinkt und kleinen Raubzügen überlebt hatte, mit denen er Nahrung und Unterkunft für sich und seine Paria-Kameraden beschafft hatte. Sogar Dan Randolph hatte sich einmal für ein paar Monate vor den Behörden in Selene versteckt.
Also hatte Fuchs in der Sorge, früher oder später enttarnt und zur Erde abgeschoben zu werden, vorsorglich aus dem Hotel Luna ausgecheckt und war mit seiner spärlich gefüllten Reisetasche zum kilometerlangen Tunnel gegangen, der zum Raumhafen Armstrong führte. Anstatt jedoch zum Raumhafen zu gehen, suchte er eine der mit WARTUNGS- UND VERSORGUNGS-ABTEILUNG: NUR FÜR AUTORISIERTES PERSONAL beschrifteten Zugangsluken, decodierte das simple Sicherheitsschloss und verschwand im schattigen ›Keller‹, wo Maschinen unaufhörlich stampften und die Luft schwer war vom Gestank nach Schmieröl und Ozon der Pumpen, Dynamos und anderen Maschinen.
Farbcodierte Röhren und Kabelstränge verliefen an der Decke. Wartungsroboter rollten auf den Gängen zwischen den Maschinen und den Lagerhaus-Regalen hin und her. Die primitiven Maschinen waren darauf programmiert, menschliche Kontrolleure bei Defekten oder Wasserleckagen zu alarmieren; ansonsten stellten die Roboter keine große Gefahr dar. Fuchs konnte die roten Lampen auf ihren Köpfen in den trübe beleuchteten Durchgängen schon erkennen, wenn sie noch weit genug entfernt waren, und vermied es, in den Erfassungsbereich ihrer optischen Sensoren zu geraten.
Es gab noch ein paar andere Leute, die sich hier versteckt hielten: eine Hand voll zerlumpte Männer und Frauen, die lieber im Untergrund ein kärgliches Dasein fristeten, als sich Selenes Gesetzen zu unterwerfen. Ein paar von ihnen waren von Drogen oder Alkohol gezeichnet; andere waren einfach nicht fähig oder willens, nach den Regeln anderer Menschen zu leben. Fuchs traf auf ein paar von ihnen und konnte nur mit knapper Not einen Kampf vermeiden, als einer ein Messer zückte und ihm befahl, Treue zu schwören. Fuchs kniete nieder und schwor und suchte dann schleunigst das Weite vor diesem Größenwahnsinnigen.
Fuchs richtete sich im ›Keller‹ häuslich ein und begnügte sich damit, im Schlafsack zu schlafen und Konserven zu essen, die er aus den Beständen der Lagerräume stahl. Die wachen Stunden verbrachte er damit, am Palmcomp die Pläne von Selenes Luft- und Wasserleitungen zu studieren und nach einer Möglichkeit zu suchen, auf die unterste Ebene der Mondstadt zu gelangen, wo Humphries in seinem Herrenhaus residierte.
Während eine Woche nach der anderen verging, trafen Nodon, Sanja und Amarjagal in Selene ein. Jeder von ihnen wies sich als einfacher Techniker im Dienst der Astro Corporation aus. Die firmeneigenen Einraum-Apartments genügten ihnen und waren sogar luxuriös, verglichen mit Fuchs' Unterschlupf in den Lagerraum-Hochregalen im ›Keller‹.
Fuchs besuchte seine Besatzungsmitglieder; er schlich sich heimlich durch Selenes Korridore, verbrachte viele Stunden mit ihnen und plante, wie er an Martin Humphries herankommen könnte.