Asteroid Vesta

Dorik Harbin kaschierte das Unbehagen, das er verspürte, vor den anderen, aber er vermochte es nicht vor sich selbst zu verbergen. Als ein Mensch, der die Einsamkeit bevorzugte — ein einsamer Wolf, der seine Beute lautlos und ohne Hilfe verfolgte —, hatte er nun das Kommando über fast fünfhundert Männer und Frauen; Söldner, die Humphries für den bevorstehenden Angriff gegen die Astro Corporation angeheuert hatte.

Allerdings waren die meisten von ihnen nur Ingenieure und Techniker, keine Krieger. Sie bauten eine Basis auf Vesta, trieben sie tief in den steinigen Körper des Asteroiden und legten gehärtete Silos für Raketen an, die unbefugt sich nähernde Schiffe zu zerstören vermochten. Harbin erinnerte sich noch an den ersten Versuch von HSS, eine Basis an der Oberfläche von Vesta zu errichten. Fuchs hatte sie mit einem einzigen Schlag ausradiert, indem er die Asteroidenerzladung eines Frachters auslöste, die Gebäude und Menschen in einer tödlichen Gesteinslawine unter sich begrub.

Also graben wir uns nun ein, sagte Harbin sich, während er durch einen der staubigen Tunnels zur geglätteten Höhle glitt, die sein Hauptquartier sein würde. Er trug nun eine richtige Uniform mit Epauletten auf den Schultern und einem Stehkragen, der ihm fast die Luft abschnürte. Und mit Rangabzeichen. Die vierzackigen Sterne am Hals und auf den Schultern wiesen Harbin als Obristen aus. Die Insignien störten ihn. Sie erinnerten ihn an Kreuze. Im Lauf der Jahre hatte er schon zu viele Kreuze gesehen — in Kirchen und noch öfter auf Friedhöfen.

Er wusste, dass Humphries jemanden mit dem Entwurf dieser doofen Uniformen beauftragt hatte. Er wusste aber auch, dass die Fähigkeit zur Menschenführung nicht von Phantasieuniformen und polierten Stiefeln abhing, sondern von intellektueller Kapazität und emotionaler Intelligenz.

Humphries bezahlt schließlich die Rechnungen, rieb Grigor ihm ständig unter die Nase. Und Humphries kann es kaum erwarten, dass die Basis fertig gestellt ist und der Angriff gestartet werden kann, der Astro aus dem Gürtel fegen wird.

Aber Fuchs verbirgt sich noch irgendwo da draußen in der dunklen Leere des Gürtels. Es ist ein Fehler, die Jagd auf ihn zu beenden, sagte Harbin sich. Humphries glaubt wohl, dass Fuchs ihm wie eine reife Frucht in den Schoß fallen würde, wenn er Astro eliminiert hat. Das wage ich aber zu bezweifeln. Der Mann ist gerissen und eine Kämpfernatur. Er ist gefährlich — zu gefährlich, als dass man ihn am Leben lassen dürfte.

Obwohl er der drittgrößte aller Asteroiden war, hatte Vesta dennoch nur einen Durchmesser von kaum mehr als fünfhundert Kilometern. Die Gravitation war minimal. Harbin und alle anderen, die in den Tunnels und Höhlen arbeiteten, mussten sich ständig lästige Atemmasken und Schutzbrillen aufs Gesicht drücken: Bei jedem Schritt, den sie machten, wirbelten sie feinen, pulvrigen Staub auf, der endlos in der Luft hing wie ein Nebel, der sich nicht mehr lichten wollte und in der praktisch nicht vorhandenen Schwerkraft waberte. Die Leute, denen er bei der Passage durch den Tunnel begegnete, salutierten beim Anblick der Sterne auf seiner Uniform. Harbin erwiderte jeden Gruß militärisch korrekt, auch wenn er es als überflüssig betrachtete.

Wenigstens war sein Büro sauber. Es handelte sich dabei um eine Kammer, die mit Plasmabrennern aus dem metallhaltigen Gestein gefräst worden und in mehreren Lagen mit einer dicken Kunststoffbeschichtung überzogen worden war, die den Staub zu binden vermochte. Bei laufendem Gebläse konnte Harbin die Atemschutzmaske absetzen und normal atmen, sobald die Tür zum Tunnel geschlossen wurde.

Das Büro war nur ein kahler Raum mit einem Schreibtisch und ein paar Stühlen darin. Kein Schmuck an den Wänden, nichts, was Harbin an seine Vergangenheit hätte erinnern können. Sogar die Schreibtischschubladen waren leer bis auf die verschlossenen, die seine Medikamente enthielten. Er plumpste müde auf den Bürostuhl und befahl dem Computer, ihm die eingegangenen Nachrichten des Tages zu zeigen. Ich sollte nicht hinter einem Schreibtisch sitzen, sagte er sich. Ich sollte in einem Schiff sein und Fuchs aufspüren. Es ist ein Fehler, ihn leben zu lassen.

Dann lächelte er bitter. Nicht dass meine Bemühungen, ihn aufzuspüren, bisher von Erfolg gekrönt gewesen wären. Fuchs ist ein gerissener alter Kerl, gestand Harbin sich ein. Fast bewunderte er den Mann.

Die Liste der Nachrichten nahm über Harbins Schreibtisch Gestalt an. Bei den meisten handelte es sich um Routine-Meldungen, aber es gab auch eine von Grigor, dem direkten Vorgesetzten von Harbin in der HSS-Hierarchie — der einzige Mensch zwischen ihm und Martin Humphries selbst.

Harbin wies den Computer an, die Nachricht von Grigor anzuzeigen.

Das düstere Konterfei von Grigor erschien. Er saß auch am Schreibtisch. Es war, als ob Harbin ins Büro des Mannes blickte. Zu seiner Überraschung lächelte der mürrische kaltäugige Chef der HSS-Sicherheit — unglaublich! Es schien ihm aber Schmerzen zu bereiten, die schmalen Lippen derart zu verzerren.

»Ich habe gute Nachrichten für Sie, Dorik«, sagte Grigor fast freundlich. »Ein Dutzend Kampfschiffe ist zu Ihnen unterwegs, dazu Versorgungs- und Logistik-Schiffe. Aber sie bilden natürlich keinen Geleitzug. Das würde nur die Aufmerksamkeit von Astro und womöglich der Internationalen Astronauten-Behörde erregen. Aber sie werden Ihre Basis noch im Lauf dieser Woche erreichen. Eine ausführliche Liste der Kurse, Ladungen und Ankunftszeiten befindet sich im Anhang dieser Nachricht.«

Harbin unterbrach die Nachricht von Grigor und öffnete den Anhang. Eindrucksvoll. In zwei Wochen würde er eine kleine Flotte von Kampfschiffen zur Verfügung haben, die zum Einsatz im Gürtel bereit war.

Er schaltete wieder zu Grigor um. »Aus den Berichten, die Sie übermittelt haben, ersehe ich, dass die Basis in spätestens drei Wochen voll einsatzbereit sein wird. Mr. Humphries will absolut sichergehen, dass die Basis rundum geschützt wird. Er will kein Risiko eingehen, dass Fuchs oder sonst jemand sie noch vor der Fertigstellung angreift. Deshalb sollen Sie mit den Kampfschiffen einen Schutzschirm um Vesta bilden. Stationieren Sie sie in der Umlaufbahn um den Asteroiden und ordnen Sie höchste Alarmstufe an. Jedes nicht autorisierte Schiff ist abzufangen. Ist das klar?«

Die Frage war natürlich rhetorisch. Harbins Antwort an Grigor würde frühestens in einer halben Stunde auf Selene eingehen.

»Noch etwas«, fuhr Grigor fort, ohne auf eine Antwort zu warten. »Sobald der Kampfverband vollzählig versammelt ist, werden Sie ihn in Bereitschaft halten, bis Ihnen über mich ein Angriffsplan übermittelt wird. Mr. Humphries will keine Manöver, bevor er den gesamten Schlachtplan genehmigt hat.«

Dann lächelte Grigor wieder — offensichtlich gezwungen. »Natürlich erwarten wir auch Ihre Vorschläge für den Plan. Wir werden ihn erst dann umsetzen, wenn Sie Ihren Beitrag geleistet haben.«

Das Bild verblasste. Harbin starrte auf die leeren Stühle vor dem Schreibtisch.

»Ein Schlachtplan«, murmelte er. Humphries hält sich wohl für einen Feldherrn, der am Kartentisch bombastische Strategien entwickelt. Harbin stöhnte innerlich. Er stellt ein Waffenarsenal und eine Armee zusammen, lehnt sich dann in der Sicherheit seines unterirdischen Anwesens zurück und spielt den Operettengeneral. Ich werde seinen Befehlen aber folgen müssen, so hirnrissig sie auch sind.


Harbin war strikt darauf bedacht, sexuelle Beziehungen zu den Leuten unter seinem Kommando zu vermeiden. Kommandeure nutzen ihre Truppen nicht aus, sagte er sich. Außerdem hatte er Medikamente und virtuelle Realitäts-Simulationen, die seine Bedürfnisse zumindest teilweise befriedigten. Und in gewisser Hinsicht waren sie sogar besser als Sex; er musste sich nämlich nicht mit einem realen Menschen aus Fleisch und Blut befassen. Es ist besser, allein zu sein, sagte er sich. Es ist besser, Komplikationen zu vermeiden.

Und doch gab es eine junge Frau beim Technischen Personal, die ihn anzog. Sie hatte eine exotisch-asiatische Anmutung, war aber keine reinrassige Asiatin: Sie war groß gewachsen, schlank, hatte eine sanfte Stimme und einen makellosen goldfarbenen Teint, hohe Wangenknochen und Mandelaugen. Ihm war auch nicht entgangen, dass sie ihn schon ein paar Mal unter gesenkten Lidern hervor beobachtet hatte.

Sie erinnerte ihn an jemanden — an jemanden, den zu vergessen er sich einer monatelangen Reha-Behandlung unterzogen hatte. An jemanden, der ihn noch bis in seine Träume verfolgte, eine Frau, die nicht einmal die Drogen völlig aus dem Gedächtnis zu löschen vermochten. Eine Frau, die behauptet hatte, ihn zu lieben und die ihn dann verraten hatte. Eine Frau, die er ermordet hatte, indem er ihr die lügnerische Zunge mit bloßen Händen aus dem Hals gerissen hatte.

Harbin wachte des Nachts auf und weinte um sie. Und nun beobachtete diese eurasische Ingenieurin ihn verstohlen, wenn sie im selben Raum zusammen waren, und lächelte ihn verführerisch an, wenn er sich bewusst wurde, dass sie ihn anschaute.

Harbin versuchte, sie zu ignorieren, aber es gelang ihm nicht. In den Wochen und Monaten, die über der Errichtung der Basis vergingen, vermochte er ihr nicht ständig aus dem Weg zu gehen. Und jedes Mal, wenn er sie sah, lächelte sie und beobachtete ihn stumm; als ob sie nur darauf wartete, dass er ihr Lächeln erwiderte, sie ansprach, sie fragte, wie ihr Name war oder wo sie herkam oder wieso sie hier auf diesem gottverlassenen Vorposten in den Tiefen des Nichts ausharrte.

Doch anstatt mit ihr zu sprechen, rief Harbin ihr Dossier auf seinem Bürocomputer auf. Ihr Name war Leeza Chaptal; geboren in Selene, der Vater ein französischer Mediziner, die Mutter eine japanisch-amerikanische Biologin. Sie war Lebenserhaltungs-Ingenieurin und hatte einen Vertrag mit Humphries Space Systems, der jährlich verlängert wurde. Allerdings hatte sie sich für diesen Job auf Vesta nicht beworben; vielmehr war sie vor die Wahl gestellt worden, die Stelle anzunehmen oder wegen Vertragsbruchs gefeuert zu werden.

Sie ist hier nicht glücklich, sagte Harbin sich und überflog ihr Dossier. Dennoch machte sie sich gut. Ihr Vorgesetzter wusste ihre Arbeit zu schätzen, wie er sah.

Erst als das Telefon summte, wurde Harbin sich bewusst, dass er seit mehr als einer Viertelstunde auf ihr Foto gestarrt hatte.

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