Reid Gormley war ein Karriere-Soldat. Er hatte bei der Internationalen Friedenstruppe in Asien und Afrika gedient und den bilderbuchmäßigen Angriff geführt, der die paramilitärischen Kräfte des lateinamerikanischen Drogen-Kartells vernichtet hatte. Er war in militärischen Kreisen als fähiger Kommandeur bekannt: ein Haudegen, der seinen Leuten viel abverlangte, ihnen aber auch ein Gefühl des Stolzes und der Unbesiegbarkeit vermittelte. Allerdings war er auch eitel, zaudernd und zögerte militärische Aktionen hinaus, bis er sicher war, eine erdrückende Übermacht auf seiner Seite zu haben.
Er war schon im Ruhestand gewesen und von der Astro Corporation reaktiviert worden. Der Kampf im Weltraum war ihm fremd, doch galt das gleichermaßen für jeden Kommandeur, den die großen Konzerne anstellten. Die einzigen erfahrenen Raumkämpfer waren eine Hand voll Söldner und Renegaten wie Lars Fuchs. Wie die meisten anderen erfahrenen Offiziere, denen sich plötzlich neue Karriereperspektiven eröffneten, war Gormley sich sicher, dass eine hoch motivierte, gut ausgebildete und gut ausgerüstete Truppe Söldner zu schlagen vermochte, die lediglich für Geld kämpften. Und was einsame Renegaten betraf, so würden die eingefangen und zu gegebener Zeit abgefertigt werden.
Er brauchte fast sechs Monate, um bei seiner Truppe die Einsatzbereitschaft herzustellen, die er verlangte. Wie er selbst waren die meisten Männer und Frauen in dieser Einsatzgruppe der Astro Corporation entweder Veteranen oder jüngere Leute, die sich von ihrer regulären Arbeit hatten beurlauben lassen, um die bessere Bezahlung und spannende Action zu genießen, für die der Asteroiden-Krieg bürgte.
Gormley betonte gegenüber seinen Leuten, dass sie, während die HSS-Leute nur Söldner waren und bloß für Geld kämpften, in der besten militärischen Tradition dienten und in den Kampf zogen, um den Asteroidengürtel von der Zwangsherrschaft eines Konzerns zu befreien und die im Gürtel verstreuten Bergarbeiter und Prospektoren vor der Sklaverei zu schützen. Es kam ihm nie in den Sinn, dass Humphries' Söldner das Gleiche über ihn und seine Truppen zu sagen vermochten, und zwar mit derselben Berechtigung.
Nun führte er eine Streitmacht aus vierzehn Schiffen an, die mit Hochleistungslasern bewaffnet und mit Schutt aus zerstampftem Asteroidengestein gepanzert waren. Er hatte den Auftrag, HSS-Schiffe aus dem inneren Gürtel zu vertreiben und dann eine Position in der Nähe von Vesta zu beziehen, um die Blockade und schlussendliche Einkesselung von Humphries' Hauptbasis einzuleiten.
Er hatte keine Ahnung, dass er in eine Falle flog.
Derweil in Japan Hochsommer war, war es im Kloster auf dem Dach der Welt immer noch kalt. Die Mauern waren wie Eis, wenn man sie mit den Fingerspitzen berührte. Nobuhiko Yamagata schaute durchs einzige Fenster des Raums und tröstete sich damit, dass wenigstens der Himalaja noch schneebedeckt war. Der weltweite Treibhauseffekt hatte den Schnee noch nicht zum Schmelzen gebracht.
Sein Vater kam so leise in den kleinen Raum, dass Nobu bei seinem »Hallo, Sohn« fast einen Satz gemacht hätte.
Nobu drehte sich um und sah, dass sein Vater, obwohl er lächelte, nicht richtig froh wirkte. Saito trug den üblichen Kimono. Sein rundes Gesicht schien sogar noch jugendlicher als bei Nobus letztem Besuch. Ob Vater wohl eine Verjüngungs-Therapie macht, fragte Nobuhiko sich. Er wagte es aber nicht, Saito danach zu fragen.
Der kniete sich auf die Matte am Fenster und sagte: »Wie ich soeben erfahren habe, wurde einer unserer loyalen Agenten zusammen mit seiner Frau und den Kindern ermordet.«
Nobu blinzelte überrascht und verwirrt und kniete sich neben seinem Vater hin.
»Ermordet?«
»Der Mann, der den Auftrag hatte, dafür zu sorgen, dass Pancho Lane beim Seilbahn-Zwischenfall nicht getötet wurde«, erklärte Saito knapp.
»Das ist doch Monate her.«
»Die Frau und die Kinder?«, fragte Saito schroff. »Weshalb?«
»Unsere Sicherheitsleute hielten das für nötig«, sagte er und massierte sich nervös die Beine. »Die Astro Corporation durfte auf gar keinen Fall herausfinden, dass wir den Unfall verursacht hatten.«
»Er war ein loyaler Angestellter.«
»Ich habe die Exekution nicht veranlasst, Vater. Ich habe erst hinterher davon erfahren.«
Saito stieß ein leises, knurrendes Grunzen aus.
»Der Zwischenfall hat immerhin seinen Zweck erfüllt«, sagte Nobu in der Hoffnung, dass sein Vater das gutheißen würde. »Er hat die Kette von Ereignissen ausgelöst, die zum totalen Krieg zwischen Astro und Humphries Space Systems führt.«
Saito nickte, aber sein unzufriedener Ausdruck änderte sich nicht.
»Sowohl Astro als auch HSS heuern unsere Leute als Unterstützung bei den Kämpfen an«, fügte Nobu hinzu. »Wir verdienen Geld an ihrem Krieg.«
Der Anflug eines Lächelns erschien in Saitos bisher so ernstem Gesicht.
Ermutigt fuhr Nobu fort: »Ich glaube, dass wir uns allmählich fragen sollten, wie und wann wir losschlagen.«
»Noch nicht.«
»Wenn wir die eine oder andere Seite unterstützen, wird diese Seite den Krieg zweifellos gewinnen.«
»Ja, ich verstehe«, sagte der Alte. »Aber es ist noch zu früh. Sie sollen sich noch weiter abnutzen. Astro und HSS verbuchen jetzt schon riesige Verluste wegen dieses Krieges. Sie sollen noch tiefer in die roten Zahlen kommen, bevor wir unseren Zug machen.«
Nobu pflichtete ihm mit einem Kopfnicken bei. »Was meinst du, wen sollten wir unterstützen?«, fragte er dann. »Wenn die Zeit kommt, natürlich.«
»Keinen.«
»Keinen? Aber ich dachte …«
Saito hob gebieterisch die Hand. »Wenn der richtige Moment kommt, wenn Astro und Hurnphries am Rand des Zusammenbruchs stehen, werden wir zuschlagen und die Kontrolle über den Gürtel übernehmen. Unsere Söldnereinheiten, die ihnen derzeit dienen, werden dann Flagge zeigen. Der Kranich von Yamagata wird seine Schwingen über den ganzen Asteroidengürtel ausbreiten und auch über Selene.«
Nobu staunte über die großartige Vision seines Vaters.
Er hätte eigentlich einen erholsamen Urlaub im Hotel Luna genießen sollen, doch Lars Fuchs erholte sich nicht.
In seiner Verkleidung als Karl Manstein bediente Fuchs sich vom Spesenkonto, das Pancho ihm bereitgestellt hatte, als ob es ein Füllhorn wäre. In Wirklichkeit schrumpfte es wie eine Sandburg, die von der heranrauschenden Flut geschleift wurde. Das Hotel Luna mochte seine besten Zeiten hinter sich haben und durch die paar Touristen am Bankrott vorbeischrammen, aber die Preise hatten noch immer Fünf-Sterne-Niveau. Frischer Fisch aus den hoteleigenen Zuchtteichen, Mietflügel, mit denen man sich durch Muskelkraft wie ein Adler in der Grand Plaza emporschwingen konnte, geführte Wanderungen über den rissigen, narbigen Boden des Alphonsus-Ringwalls, wo das Wrack der primitiven Raumfähre Ranger 9 unter einer Schutzkuppel aus klarem Glasstahl stand — all diese Dinge kosteten Geld, und das nicht zu knapp.
Obwohl Fuchs/Manstein den Touristenattraktionen entsagte und so bescheiden wie möglich speiste, war eine Suite im Hotel Luna unerhört teuer. Er verbrachte jeden wachen Moment damit, den Grundriss von Selene zu studieren, die Tunnels und Wohnräume, die Büros und Werkstätten und die Maschinen und Anlagen, die die unterirdische Stadt mit Atemluft und Trinkwasser versorgten. Insbesondere versuchte er alles über die unterste Ebene von Selene herauszufinden — die große natürliche Felsenhöhle, die Martin Humphries in einen Garten Eden und ein luxuriöses Heim für sich selbst umgestaltet hatte.
Über das Haus vermochte er nichts in Erfahrung zu bringen. Humphries' Sicherheitsdienst hielt den Grundriss und die Daten der Lebenserhaltungssysteme unter Verschluss. Fuchs musste sich damit begnügen, sich jedes Detail der Rohrleitungen und Elektroinstallationen einzuprägen, die zur Grotte führten. Ab dem Punkt, wo sie in Humphries' privates Reservat mündeten, waren keine Informationen über die Rohrleitungen und Kabelstränge mehr verfügbar. Das wird vielleicht schon genügen, sagte Fuchs sich. Vielleicht wird das genügen.
Er widmete sich verbissen seinem Auftrag, füllte den ganzen Tag mit seinen Studien aus und sagte sich hundertmal in der Stunde, dass er einen Weg finden würde, Martin Humphries zu töten.
Des Nachts, wenn er von der Arbeit so erschöpft war, dass ihm schier die Augen zufielen, kehrte die Wut zurück. Er und Amanda waren einmal im Hotel Luna abgestiegen. Sie hatten sich in einem Zimmer wie diesem geliebt, in dem er sich nun befand. In den seltenen Momenten, wo er wirklich Schlaf fand, träumte er von Amanda und erlebte ihre Leidenschaft noch einmal. Und dann wachte er auf, beschämt und klebrig von seinen kurzen Träumen.
Ich bin nur etwa einen Kilometer von Humphries entfernt, sagte Fuchs sich immer wieder. Nah genug, um ihn zu töten. Bald. Sehr bald.