7

Irgendwann im Lauf des Nachmittags – sie marschierten zu Fuß durch die sengend heiße Wüste – bemerkte Kahlan, daß Richard seinen eigenen langen Schatten aufmerksam beobachtete.

»Was ist los?«, erkundigte sie sich.

Er deutete auf den Schatten vor ihm. »Riesenkrähen, zehn oder zwölf an der Zahl. Sie haben sich soeben im Gleitflug von hinten genähert und verstecken sich in der Sonne.«

»Sie verstecken sich in der Sonne?«

»Ja, sie fliegen hoch und in einem solchen Winkel, daß ihr Schatten genau auf uns fällt. Würden wir in den Himmel schauen, könnten wir sie nicht sehen, denn wir wären gezwungen, genau in die Sonne zu blicken.«

Kahlan drehte sich um, hielt die Hand schützend über ihre Augen und versuchte sich selbst davon zu überzeugen, doch sobald ihr Blick in die Nähe der unerbittlich gleißenden Sonne geriet, wurde deren Helligkeit unerträglich stechend. Sie wandte sich Richard, der sich nicht mit herumgedreht hatte, wieder zu, als dieser mit einer Handbewegung erneut auf die Schatten deutete.

»Betrachte einmal genau den Boden rings um deinen Schatten; eigentlich müßtest du die leichte Verschiebung in der Helligkeit erkennen können. Das sind sie.«

Kahlan wischte sich den beißenden Schweiß aus den Augen und betrachtete die vier schwarzen Federn, die Richard, zusammengebunden zu einem Büschel, um seinen rechten Oberarm geschnürt hatte. Er hatte sie beim Einsammeln der noch brauchbaren Pfeile an sich genommen. Die letzte Feder hatte er Tom geschenkt, weil er die fünfte Riesenkrähe mit dem Messer getötet hatte. Er trug sie wie Richard am Oberarm – offenbar betrachtete er sie als eine Art Auszeichnung, verliehen von Lord Rahl persönlich.

Richard dagegen, das wußte Kahlen, trug seine aus einem ganz anderen Grund – sie dienten ihm als deutliche, für jeden sichtbare Warnung.

Kahlan strich sich ihr langes Haar über die Schulter. »Glaubst du, diese Erscheinung vorhin, unter den Riesenkrähen, war ein Mann? Ein Mann, der uns beobachtete?«

Richard zuckte die Achseln. »Du kennst dich mit Magie besser aus als ich. Sag du es mir.«

»Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gesehen.« Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Aber wenn es tatsächlich ein Mann war ... warum hat er sich dann, deiner Meinung nach, entschlossen, sich endlich zu zeigen?«

»Ich glaube nicht, daß er sich bewußt dazu entschlossen hat.« Richard maß sie mit einem durchdringenden Blick aus seinen grauen Augen. »Meiner Meinung nach war es ein Versehen.«

»Inwiefern?«

»Angenommen, jemand verfolgt mit Hilfe der Riesenkrähen unsere Fährte, und dieser Jemand kann uns irgendwie sehen ...«

»Wie sollte das möglich sein?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht mit den Augen der Raubvögel.«

»Mit Magie ist so etwas nicht möglich.«

Richard fixierte sie mit einem durchdringenden Blick. »Na schön, was war es dann?«

Kahlan richtete ihren Blick wieder auf die langen Schatten auf dem fahlgelben Steinboden vor ihnen, auf die kleinen, verschwommenen Konturen, die den Schatten ihres Kopfes umschwirrten wie Fliegen ein Stück Aas. »Ich weiß es nicht. Was wolltest du gerade sagen? ... Daß jemand die Riesenkrähen benutzt, um unserer Fährte zu folgen?«

»Ich glaube, jemand läßt uns beobachten – entweder unmittelbar durch die Riesenkrähen oder mit ihrer Hilfe –, nur daß er eben nicht alles sehen kann. Seine Sicht ist eingeschränkt.«

»Und?«

»Und da irgend etwas seine Sicht einschränkt, hat er möglicherweise nicht bemerkt, daß ein Sandsturm aufkam. Er hat nicht vorhergesehen, daß der aufgewirbelte Sand seine Anwesenheit preisgeben würde. Ich glaube nicht, daß er die Absicht hatte, sich zu erkennen zu geben.« Richard sah wieder zu ihr. »Meiner Meinung nach ist ihm schlicht ein Fehler unterlaufen.«

Kahlan schnaufte verärgert. Der Gedanke war so abwegig, daß sie es nicht einmal für nötig hielt zu widersprechen. Kein Wunder, daß er ihr seine Theorie nicht ausführlich dargelegt hatte. Als er behauptet hatte, die Riesenkrähen verfolgten ihre Spur, hatte sie sofort an ein magisches Netz gedacht, das jemand ausgeworfen hatte, und das anschließend durch irgendein Ereignis – vermutlich durch Caras nichts ahnende Berührung – ausgelöst worden war. Daraufhin hatte sich der Zauber an sie geheftet und die Riesenkrähen veranlaßt, dieser magischen Kennung zu folgen. Demnach brauchte dieser Jemand, wie Jennsen vermutet hatte, die Riesenkrähen nur zu beobachten, um eine ziemlich genaue Vorstellung von Richards und Kahlans Aufenthaltsort zu bekommen. Kahlan hatte sich sofort an Darken Rahls alte Methode erinnert gefühlt, Richard eine Spürwolke anzuheften, um stets über ihren Aufenthaltsort im Bild zu sein. Richard hingegen scheute den Vergleich mit einem Vorgang aus der Vergangenheit; er betrachtete das Problem aus dem Blickwinkel eines Suchers.

Obwohl seine Theorie in ihren Augen nach wie vor etliche Ungereimtheiten aufwies, war Kahlan klug genug, seine Überlegung nicht einfach als unsinnig abzutun, nur weil sie dergleichen noch nie gehört hatte.

»Vielleicht ist es ja gar kein Er«, sagte sie schließlich, »sondern eine Sie. Eine Schwester der Finsternis womöglich.«

Wieder warf Richard ihr einen Blick zu, aus dem diesmal jedoch eher Besorgnis sprach. »Wer oder was es auch sein mag, ich kann mir nicht vorstellen, daß es etwas Gutes verheißt.«

Dem mochte Kahlan nicht widersprechen, trotzdem wollte sie sich mit dem Gedanken noch nicht recht anfreunden. »Nehmen wir einmal an, es verhält sich so, wie du denkst – daß wir ihn zufällig dabei ertappt haben, wie er uns nachspioniert. Warum hätten uns die Riesenkrähen dann angreifen sollen?«

Richards Stiefel wirbelte eine kleine Staubwolke auf, als er beiläufig nach einem kleinen Stein trat. »Ich weiß es nicht. Vielleicht war er einfach wütend, weil er sich verraten hatte.«

»Du meinst, er hat die Riesenkrähen aus Verärgerung veranlaßt, Bettys Junge zu töten und dich anzugreifen?«

Richard zuckte die Achseln. »Ich stelle nur eine Vermutung auf; das heißt nicht, daß es meiner Ansicht nach so gewesen sein muß.«

Schließlich sann er noch einmal darüber nach, und sein Ton bekam etwas Grüblerisches. »Denkbar wäre sogar, daß, wer immer sich der Riesenkrähen bedient, überhaupt nichts mit dem Angriff zu tun hatte. Vielleicht haben die Vögel aus eigenem Entschluß gehandelt.«

Kahlan stieß einen verzweifelten Seufzer aus. »Richard«, sagte sie, außerstande, ihre Zweifel länger für sich zu behalten, »ich weiß eine Menge über alle möglichen Arten von Magie, aber ich habe noch nie gehört, daß so etwas möglich wäre.«

Richard beugte sich zu ihr und betrachtete sie erneut mit seinen eindrucksvollen grauen Augen. »Mit der Magie in den Midlands kennst du dich hervorragend aus, aber möglicherweise gibt es hier unten Dinge, mit denen du noch nie in Berührung gekommen bist. Hattest du zum Beispiel, vor unserer Begegnung mit Jagang, jemals von einem Traumwandler gehört? Oder auch nur für möglich gehalten, es könnte so etwas geben?«

Kahlan biß sich verlegen auf die Unterlippe und betrachtete lange sein ernstes Gesicht. Richard war fernab aller Magie aufgewachsen – diese Dinge waren für ihn vollkommen neu –, in gewisser Weise aber war das eher von Vorteil, denn er hatte keine vorgefaßte Meinung, was möglich war und was nicht. Schließlich waren sie schon des Öfteren auf Dinge gestoßen, die bislang als beispiellos galten – was in Richards Augen auf so ziemlich alles zutraf, was irgendwie mit Magie zu tun hatte.

»Was sollen wir deiner Meinung nach also tun?«, wandte sie sich schließlich in vertraulichem Ton an ihn.

»Wir halten auf jeden Fall an unserem Plan fest.« Er blickte über seine Schulter und sah Cara links von ihnen in einiger Entfernung das Gelände erkunden. »Es gibt bestimmt eine Verbindung zu allem anderen.«

»Cara wollte uns doch nur beschützen.«

»Das weiß ich doch. Und wer weiß, vielleicht wäre alles noch viel schlimmer gekommen, hätte sie den Gegenstand einfach liegen lassen. Womöglich haben wir dadurch sogar Zeit gewonnen.«

Da war plötzlich wieder etwas in seinen Augen, etwas, das sie davon abhielt zu fragen, ob er denn glaube, daß die angesprochene Möglichkeit ihnen überhaupt weiterhelfen würde.

»Du hast Kopfschmerzen, hab ich Recht?«, fragte sie.

Sein Lächeln erlosch. »Ja. Sie sind zwar anders als damals, trotzdem bin ich einigermaßen sicher, daß sie die gleiche Ursache haben.«

Die Gabe – das war es, was er meinte.

»Wie meinst du das: Sie sind anders als damals? Und wenn sie tatsächlich anders sind, wie kommst du dann darauf, sie könnten dieselbe Ursache haben?«

Er überlegte einen Augenblick. »Erinnerst du dich noch, wie ich Jennsen erklärte, daß die Gabe nach Ausgewogenheit verlangt und ich das Kämpfen und Töten durch meinen Verzicht auf Fleisch ausgleichen muß?« Als sie nickte, fuhr er fort: »In diesem Augenblick wurden sie schlimmer.«

»Kopfschmerzen, auch diese Art, fühlen sich nicht immer gleich an.«

»Mag sein ...« Er legte die Stirn nachdenklich in Falten und schien nach den passenden Worten zu suchen. »Nein, eigentlich war es eher so, als waren sie durch das Gespräch über – oder auch nur den Gedanken an – die Notwendigkeit, als Ausgleich für die Gabe kein Fleisch zu essen, weiter in den Vordergrund gerückt und dadurch schlimmer geworden.«

Die Vorstellung behagte Kahlan ganz und gar nicht. »Willst du damit sagen, deine Gabe, die Ursache deiner Kopfschmerzen, versucht dich auf die Bedeutung der Ausgewogenheit in allem, was du mit der Gabe tust, aufmerksam zu machen?«

Richard fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich weiß es nicht. Irgendwie scheint es noch komplizierter zu sein, nur komme ich offenbar einfach nicht darauf. Manchmal, wenn ich es versuche und den Gedankengang, einen Ausgleich für das Töten schaffen zu müssen, weiterverfolge, werden die Schmerzen so unerträglich, daß ich nicht länger darüber nachdenken kann.«

»Aber das ist noch nicht alles«, fügte er hinzu. »Möglicherweise gibt es ein Problem mit meiner Verbindung zur Magie des Schwertes.«

»Was? Wie ist das möglich?«

»Ich weiß es nicht.«

Kahlan versuchte zu verhindern, daß sich ihre Bestürzung auf ihre Stimme übertrug. »Bist du ganz sicher?«

Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Eben nicht, das ist es ja. Aber als ich heute Morgen das Bedürfnis verspürte, das Schwert zu ziehen, schien sie sich irgendwie verändert zu haben. Fast war es, als widerstrebte es ihm, diesem Bedürfnis gerecht zu werden.«

Kahlan dachte einen Moment darüber nach. »Das könnte darauf hindeuten, daß die Kopfschmerzen diesmal eine andere Ursache haben. Vielleicht werden sie gar nicht von der Gabe hervorgerufen.«

Er widersprach: »Auch wenn sie in mancher Hinsicht anders sind, glaube ich trotzdem, daß meine Gabe sie verursacht. In einem Punkt jedenfalls verhalten sie sich ganz ähnlich wie beim letzten Mal: Sie werden allmählich immer unerträglicher.«

»Und was gedenkst du dagegen zu tun?«

Er hob die Arme in einer hilflosen Geste und ließ sie wieder fallen. »Im Augenblick bleibt uns kaum etwas anderes übrig, als an unserem Plan festzuhalten.«

»Wir könnten Zedd aufsuchen. Wenn die Gabe, wie du vermutest, tatsächlich die Ursache ist, wird Zedd wissen, was zu tun ist. Er kann dir sicherlich helfen.«

»Glaubst du allen Ernstes, wir hätten auch nur den Hauch einer Chance, es rechtzeitig bis Aydindril zu schaffen? Auch ohne alles andere wäre ich, wenn die Gabe tatsächlich die Ursache der Kopfschmerzen ist, bereits mehrere Wochen tot, ehe wir den weiten Weg bis nach Aydindril zurückgelegt hätten. Und dabei habe ich noch nicht einmal die gewaltigen Schwierigkeiten berücksichtigt, die uns bei der Umgehung von Jagangs über die gesamten Midlands verteilten und vor allem unmittelbar vor Aydindril stehenden Truppen höchstwahrscheinlich erwarten.«

»Vielleicht steht er zur Zeit ja gar nicht dort.«

Richard trat erneut gegen ein auf dem Pfad liegendes Steinchen. »Glaubst du wirklich, Jagang würde die Burg der Zauberer mit allem, was sich darin befindet, einfach aufgeben – und uns diese magischen Objekte überlassen, damit wir sie gegen ihn verwenden?«

Zedd war der Oberste Zauberer. Für einen Mann von seinen Fähigkeiten war die Verteidigung der Burg der Zauberer gewiß kein unlösbares Problem, zumal er in Adie eine unschätzbare Hilfe hatte. Vermutlich wäre die alte Hexenmeisterin allein bereits imstande, einen solchen magischen Ort zu verteidigen. Zedd wußte, welche Bedeutung die Burg im Falle einer Eroberung für Jagang hätte, und würde sie mit allen Mitteln verteidigen.

»Jagang kann die dort errichteten Barrieren unmöglich überwinden«, sagte Kahlan. Zumindest in diesem Punkt konnten sie also ganz unbesorgt sein. »Das weiß er selbst auch, weshalb er seine Zeit wohl kaum damit vergeuden wird, dort sinnlos eine Armee in Stellung gehen zu lassen.«

»Da magst du Recht haben, es nützt uns leider trotzdem nichts – es ist einfach zu weit.«

Zu weit. Kahlan packte Richards Arm und zwang ihn, stehen zu bleiben. »Die Sliph. Wenn es uns gelingt, einen ihrer Brunnen ausfindig zu machen, könnten wir durch die Sliph reisen. Wir wissen von mindestens einem Brunnen hier in der Alten Welt – in Tanimura. Schon das wäre erheblich näher als eine Reise auf dem Landweg nach Aydindril.«

Richard blickte nach Norden. »Das wäre vielleicht eine Möglichkeit. Wir brauchten Jagangs Truppen nicht zu umgehen und kämen genau in der Burg der Zauberer heraus.« Er legte ihr den Arm um die Schultern. »Aber zunächst einmal müssen wir uns um die andere Angelegenheit kümmern.«

Kahlan schmunzelte. »Einverstanden. Erst kümmern wir uns um mich, und dann sehen wir zu, daß du versorgt wirst.«

Die Erleichterung darüber, daß eine Lösung greifbar nahe schien, versetzte sie in eine Art Rauschzustand. Den anderen war eine Reise durch die Sliph verwehrt, da sie nicht die erforderliche Magie besaßen, aber für Kahlan, Richard und Cara bestand diese Möglichkeit durchaus.

Die Burg der Zauberer war ein mehrere tausend Jahre altes Bauwerk von gewaltigen Ausmaßen. Kahlan hatte einen Großteil ihres Lebens dort verbracht und doch nur einen Bruchteil des Gebäudes kennen gelernt. Nicht einmal Zedd kannte sie bis in den letzten Winkel, was auf die dort vor langer Zeit von Zauberern mit beiden Seiten der Gabe angebrachten Schilde zurückzuführen war – während er nur über die additive Seite verfügte. Seit ewigen Zeiten lagerten dort überaus seltene und gefährliche magische Gegenstände, des Weiteren eine Vielzahl von Aufzeichnungen sowie zahllose Folianten. Es war durchaus möglich, daß Zedd und Adie dort inzwischen auf etwas gestoßen waren, das ihnen helfen würde, die Armeen der Imperialen Ordnung wieder in die Alte Welt zurückzujagen.

Ein Besuch auf der Burg der Zauberer böte nicht nur die Möglichkeit, Richards Problem mit der Gabe zu lösen, sondern konnte ihnen auch ein dringend benötigtes Hilfsmittel an die Hand geben, um in diesem Krieg das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden.

Auf einmal schien ein Treffen mit Zedd, schienen Aydindril und die Burg der Zauberer gar nicht mehr so weit entfernt.

Erfüllt von neuer Zuversicht, drückte Kahlan Richards Hand. Sie wußte, daß er weiter das Gelände vor ihnen erkunden wollte, und ließ ihn allein. »Ich werde zum Wagen zurückgehen und nachsehen, wie es Jennsen geht.«

Während Richard seinen Weg fortsetzte und Kahlan ihr Tempo drosselte, um den Wagen aufschließen zu lassen, glitt ein weiteres Dutzend schwarz gezeichneter Riesenkrähen, getragen von Luftströmungen hoch über der glühend heißen Ebene, heran. Sie behielten die Sonne im Rücken und blieben ein gutes Stück außerhalb der Reichweite von Richards Pfeilen, aber stets in Sichtweite.

Als der holpernde, ratternde Wagen sie eingeholt hatte und sich neben sie schob, reichte Tom ihr einen Wasserschlauch. Sie war so ausgedörrt, daß sie das aufgeheizte Wasser ohne Rücksicht auf den muffigen Geschmack hinunterstürzte. Den Wagen ließ sie an sich vorüberrollen, stellte einen bestiefelten Fuß auf die eiserne Speiche, ließ sich nach oben heben und kletterte über die Seitenwand.

Jennsen schien sich über die Gesellschaft sehr zu freuen. Kahlan erwiderte ihr Lächeln, ehe sie sich neben Richards Schwester und der leise vor sich hin winselnden Ziege niederließ.

»Wie geht es ihr?«, erkundigte sie sich und strich dem Tier zärtlich über die Ohren.

Jennsen schüttelte verzweifelt den Kopf. »So wie jetzt habe ich sie noch nie erlebt; es bricht mir fast das Herz, denn es erinnert mich daran, wie schmerzlich der Verlust meiner Mutter für mich war.«

Kahlan hockte sich auf die Fersen und drückte Jennsens Hand voller Mitgefühl. »Es ist schwer, ich weiß, aber Tiere kommen über einen solchen Verlust sehr viel leichter hinweg als Menschen. Du solltest es nicht mit dem Verlust deiner Mutter vergleichen. So traurig es sein mag, es ist etwas völlig anderes. Betty kann jederzeit wieder Junge bekommen und wird dies alles bald vergessen haben – was du oder ich niemals könnten.«

Kaum waren die Worte über ihre Lippen gedrungen, spürte sie, wie ihr der Verlust ihres ungeborenen Kindes einen schmerzlichen Stich versetzte. Selbst wenn sie später noch andere bekäme, diesen Verlust, verschuldet von brutalen Rohlingen, würde sie nie verwinden können.

Kahlan schaute zu, wie die schier endlose Ebene gemächlich zu beiden Seiten des Wagens vorüberglitt. Die wabernde Hitze schien den Horizont zu verflüssigen und den Wüstenboden stellenweise in flirrende Pfützen zu verwandeln, die langsam himmelwärts zu treiben schienen. Nach wie vor war nirgends eine Spur von Bewuchs zu erkennen, mittlerweile jedoch stieg das Gelände, jetzt, da sie den Bergen immer näher kamen, allmählich an. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder auf Leben stoßen würden, auch wenn im Augenblick noch nichts darauf hinzudeuten schien.

»Eins begreife ich nicht recht«, meinte Jennsen. »Du hast mir erzählt, ich soll in Dingen, die mit Magie zu tun haben, niemals überstürzt handeln, es sei denn, ich wüßte genau, was dabei herauskommt. Du sagtest, es sei gefährlich, und man sollte in Dingen der Magie niemals etwas unternehmen; solange man sich der Folgen nicht sicher ist.«

Kahlan wußte nur zu gut, worauf Jennsen hinauswollte. »Ja, das ist richtig.«

»Nun, das vorhin schien mir genau einer dieser Versuche mit Ungewissem Ausgang zu sein, vor denen du mich gewarnt hast.«

»Aber ich habe dir auch erklärt, daß man bisweilen gar keine andere Wahl hat, als schnell zu handeln, und nichts anderes hat Richard getan. Ich kenne ihn, er hat nach bestem Ermessen gehandelt.«

Jennsen schien damit zufrieden. »Ich wollte nicht andeuten, er habe einen Fehler gemacht. Ich meinte nur, daß ich es nicht begreife. Mir kam es jedenfalls ziemlich leichtsinnig vor. Woher soll ich wissen, was du meinst, wenn du mir sagst, ich soll nicht leichtsinnig handeln, wenn es doch um Magie geht?«

Kahlan lächelte. »So ist es nun einmal, wenn man mit Richard zusammen ist; die Hälfte der Zeit weiß ich nicht, was in seinem Kopf vorgeht. Wie oft habe ich schon gedacht, er handelt leichtsinnig, und dann stellte sich heraus, daß er nicht nur genau das Richtige getan hatte, sondern sogar das einzig Mögliche. Nicht zuletzt deswegen wird er schließlich der Sucher genannt. Ich bin sicher, er hat vorhin Dinge gespürt und berücksichtigt, die selbst mir verborgen geblieben waren.«

»Aber woher weiß er diese Dinge? Wie kann er so genau wissen, was er tun muß?«

»Oft ist er ebenso verwirrt wie du oder selbst ich; gleichzeitig aber ist er auch ganz anders als wir und verspürt eine Gewißheit, die wir einfach nicht kennen.«

»Anders?«

Kahlan sah die junge Frau an, betrachtete ihr rotes, in der Nachmittagssonne leuchtendes Haar. »Er ist mit beiden Seiten der Gabe geboren – alle anderen, die in den letzten dreitausend Jahren mit der Gabe geboren wurden, besaßen nur additive Magie. Einige wenige, wie Darken Rahl und die Schwestern der Finsternis, haben sich zuweilen subtraktiver Magie bedienen können, allerdings nur mit Hilfe des Hüters. Richard ist der Einzige, der bereits mit subtraktiver Magie auf die Welt gekommen ist.«

»Das hast du gestern Abend auch schon erzählt, aber ich habe von Magie keine Ahnung, deshalb weiß ich nicht, was es bedeutet.«

»Mit absoluter Gewißheit wissen wir das selbst nicht. Additive Magie benutzt Vorhandenes, um es zu verstärken oder auf bestimmte Weise zu verändern. Die Magie des Schwertes der Wahrheit zum Beispiel bedient sich des Zorns seines Trägers und verstärkt ihn, bis etwas Neues daraus entsteht. So können die mit der Gabe Gesegneten mit additiver Magie zum Beispiel Kranke heilen.

Subtraktive Magie dagegen dient der Vernichtung, der Zerstörung. Sie vermag Dinge in Nichts zu verwandeln. Laut Zedd ist subtraktive Magie das Gegenstück der additiven, so wie der Tag das Gegenstück der Nacht ist. Und doch sind beide Teil eines Ganzen.

Die subtraktive Magie zu beherrschen, wie Darken Rahl dies konnte, ist eine Sache, etwas völlig anderes dagegen ist es, mit ihr geboren zu sein.

Vor langer Zeit war es, im Gegensatz zu heute, durchaus üblich, mit beiden Seite der Gabe auf die Welt zu kommen. Eine der Folgen des Großen Krieges damals war daß man eine Barriere errichtete, die die Neue Welt von der Alten trennte – ein Maßnahme, die über viele Jahre den Frieden sicherte. Doch seitdem haben sich die Dinge geändert: Nicht nur sind die mit beiden Seiten der Gabe Geborenen äußerst selten geworden, sondern diese wenigen haben die subtraktive Seite der Gabe auch nicht mehr weitervererbt.

Richard stammt von zwei Geschlechtern von Zauberern ab, von Darken Rahl und von seinem Großvater Zedd. Darüber hinaus ist er seit Jahrtausenden der Erste, der mit beiden Seiten der Gabe geboren wurde.

Die Gesamtheit unserer Talente bestimmt über unser Vermögen, auf bestimmte Situationen zu reagieren. Nur wissen wir eben nicht, wie die beiden Seiten der Gabe sich auf Richards Vermögen auswirken, eine Situation so zu durchschauen, daß er das Notwendige tut. Ich vermute, daß die Gabe sein Handeln bestimmt, möglicherweise sogar in stärkerem Maße, als er selbst glaubt.«

Jennsen stieß einen besorgten Seufzer aus. »Wie kam es eigentlich, daß diese Grenze nach dieser langen Zeit gefallen ist?«

»Richard hat sie zerstört.«

Jennsen hob erstaunt den Kopf. »Dann stimmt es also doch. Sebastian hat mir nämlich erzählt, daß Lord Rahl – also Richard – die Grenze niedergerissen hat, und zwar damit er in die Alte Welt eindringen und sie erobern kann.«

Die Unterstellung war so ungeheuerlich, daß Kahlan nur darüber lächeln konnte. »Aber das glaubst du doch nicht etwa, oder?«

»Nein, jetzt nicht mehr.«

»Im Grunde ist es genau umgekehrt: Jetzt, da die Grenze gefallen ist, fällt die Imperiale Ordnung in die Neue Welt ein und ermordet oder versklavt jeden, der sich ihr dabei in den Weg zu stellen versucht.«

»Gibt es denn gar keinen Ort, wo die Menschen in Sicherheit leben können? Wo wir in Sicherheit leben können?«

»Nein – nicht, solange man diesen Leuten nicht Einhalt geboten und sie zurückgejagt hat.«

Jennsen dachte einen Moment darüber nach. »Aber wenn der Fall der Grenze der Imperialen Ordnung die Eroberung der Neuen Welt erst ermöglicht hat, warum hat Richard sie dann überhaupt zerstört?«

Kahlan hielt sich mit einer Hand an der Seitenwand des Wagens fest, als dieser über eine Unebenheit im Gelände holperte. Den Blick starr nach vorn gerichtet, betrachtete sie Richard, der durch die gleißende Helligkeit dieser Ödnis stapfte.

»Er hat es meinetwegen getan«, antwortete Kahlan mit ruhiger Stimme. »Es war einer dieser Fehler, über die wir soeben gesprochen haben.« Sie seufzte erschöpft. »Einer dieser Versuche mit Ungewissem Ausgang.«

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