Ein unvermittelter Ruck zwang Zedd stehenzubleiben: endlich stand er, in Handschellen, vor dem finster dreinblickenden Traumwandler höchstselbst, Kaiser Jagang.
Der thronte mit mahlenden Kiefern, beide Ellbogen aufgestützt, auf einem mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Stuhl mit hoher Rückenlehne, eine Gänsekeule zwischen beiden Händen. Lichtpunkte der Kerzen spiegelten sich an den Seiten seines kahlgeschorenen Schädels und tanzten, sobald die Sehnen in seinen Schläfen durch sein Kauen in Bewegung gerieten. Sein dünner Schnauzer an den Mundwinkeln und in der Mitte seiner Unterlippe bewegte sich im Rhythmus seines Kiefers, ebenso das dünne Kettchen, das die goldenen Ringe in Ohr und Nase miteinander verband. Das ölige Gänsefett auf seinen beringten Fingern glänzte im Schein der Kerzen und troff an seinen nackten Armen herab.
Von seinem Platz hinter der Tafel musterte er seine jüngsten Gefangenen mit gelangweiltem Blick.
Trotz der überall auf dem Tisch verteilten und zu beiden Seiten in Haltern aufgestellten Kerzen verströmte das Innere des Zeltes die düstere Atmosphäre eines Gefängnisses.
Rechts und links von ihm war die Tafel vollgestellt mit Tellern voller Speisen, mit Pokalen, Flaschen, Kerzen und Schalen sowie bisweilen, da und dort, mit einem Buch oder einer Schriftrolle. Da in diesem Gedränge nicht für alle Silberteller Platz war, hatten einige an strategisch günstigen Stellen auf kleinen Ziersäulen plaziert werden müssen. Die Menge der Speisen schien ausreichend für eine kleine Armee.
Allem Gerede des Ordens zum Trotz, die Darbringung von Opfern zum Wohl der Menschheit sei ihr nobles Anliegen, wußte Zedd, daß diese Völlerei an der kaiserlichen Tafel eine ganz andere Botschaft vermitteln sollte, auch wenn kaum jemand außer dem Kaiser selbst sie jemals zu Gesicht bekam.
An der Zeltwand hinter Jagang standen Sklaven aufgereiht, einige mit weiteren Serviertellern in den Händen, andere in steifer Körperhaltung – und alle harrten ihrer Befehle. Einige waren noch sehr jung -angeblich junge Zauberer, hatte Zedd gehört –, bekleidet mit weiten, weißen Hosen und sonst nichts. Hier also waren die Zauberer gelandet, die im Palast der Propheten hatten ausgebildet werden sollen – zusammen mit den gefangen genommenen Schwestern, die einst ihre Ausbilderinnen waren. Sie alle waren nun Gefangene des Traumwandlers. Männer mit hervorragenden Anlagen, Männer, die über ein enormes Potential verfügten, wurden als Hausdiener für niedere Dienste mißbraucht. Auch das war eine Botschaft, mit welcher der Kaiser der Imperialen Ordnung jedem zeigen wollte, daß die Besten und Klügsten gerade gut genug waren, das Nachtgeschirr zu leeren, während brutale Rohlinge über sie herrschten.
Die jüngeren Frauen unter ihnen – sowohl Schwestern der Finsternis wie auch des Lichts, vermutete Zedd – trugen vom Hals bis zu den Knöcheln reichende Gewänder, die jedoch so durchscheinend waren, daß ihre Trägerinnen ebensogut hätten nackt sein können. Auch das sollte zum Ausdruck bringen, wie wenig der Kaiser von ihren Anlagen hielt, und daß er sie nur zu seiner Zerstreuung schätzte. Die älteren, nicht mehr ganz so attraktiven Schwestern standen, in schmutziggraue Kleider gehüllt, etwas abseits – vermutlich Schwestern, die ihm in anderen niederen Funktionen dienten.
Jagang fand sichtlich Gefallen daran, einige der begabtesten Menschen überhaupt als Sklaven zu halten. Es entsprach dem Wesen der Imperialen Ordnung, Menschen mit besonderen Talenten zu erniedrigen statt sie zu verehren.
Jagang beobachtete Zedd, wie dieser seine Haussklaven mit seinem Blick erfaßte, zeigte jedoch keinerlei Regung. Sein Stiernacken verlieh seinem Äußeren etwas beinahe Nichtmenschliches. Seine Brustmuskulatur, wie auch seine massigen Schultern, waren unter der offenen, ärmellosen Schafwollweste deutlich zu erkennen. Er war der stämmigste, kräftigste Mann, den Zedd je gesehen hatte, eine einschüchternde Erscheinung, selbst wenn er sich nicht bewegte.
Während Zedd und Adie schweigend warteten, riß Jagang mit den Zähnen ein weiteres Fleischstück von der Gänsekeule. In der angespannten Stille musterte er sie kauend, so als überlegte er was er mit seinem jüngsten Fang anfangen sollte.
Mehr als alles andere waren es seine tiefschwarzen Augen ohne Pupille, Iris oder auch nur eine Spur von Weiß, die Zedd das Blut in den Adern gefrieren zu lassen drohten. Das letzte Mal, als er diese Augen gesehen hatte, war Zedd nicht in Handschellen gewesen, sondern dieses nicht mit der Gabe gesegnete Mädchen hatte ihn daran gehindert, dem Mann den Garaus zu machen. Nie würde er einer verpaßten Gelegenheit jemals mehr nachtrauern als dieser. Er hatte die Gelegenheit, Jagang zu töten, an jenem Tag leichtfertig verspielt – nicht etwa wegen der unermeßlichen Kräfte all der erfahrenen Schwestern und Truppen, die man gegen ihn aufgeboten hatte, sondern wegen eines einzigen, nicht mit der Gabe gesegneten Mädchens.
Die vollkommen schwarzen Augen – Augen eines erwachsenen Traumwandlers – funkelten im Kerzenschein, während dunkle Schatten, gleich Wolken in einer mondlosen Nacht, durch ihre dunkle Leere trieben.
Die Unmittelbarkeit seines Blicks war ebenso unverkennbar wie bei Adie, wenn sie ihn aus ihren vollkommen weißen Augen ansah. Zedd mußte sich unter Jagangs starrem Blick ermahnen, seine Muskeln zu entspannen und das Weiteratmen nicht zu vergessen.
Am meisten aber entsetzte ihn der scharfe, berechnende Verstand, den er dahinter zu erkennen glaubte. Mittlerweile bekämpfte er Jagang lange genug, um zu wissen, daß man diesen Mann nicht ungestraft unterschätzte.
»Jagang der Gerechte«, stellte die Schwester ihn vor, indem sie mit ausgestreckter Hand auf den Alptraum vor ihnen wies. »Exzellenz, dies sind Zeddicus Zu’l Zorander, der Oberste Zauberer, sowie eine Hexenmeisterin mit Namen Adie.«
»Ich weiß, wer sie sind«, sagte Jagang in einem tiefen Baß, der gleichermaßen von Bedrohlichkeit und Abscheu troff.
Er lehnte sich zurück, ließ einen Arm über die Rückenlehne seines Stuhles baumeln, legte ein Bein über die mit Schnitzereien verzierte Armlehne und gestikulierte mit der Gänsekeule.
»Richard Rahls Großvater, habe ich mir sagen lassen.«
Zedd schwieg.
Jagang warf die halb abgenagte Keule auf einen Servierteller und nahm ein Messer zur Hand. Mit einer Hand säbelte er ein Stück blutiges Fleisch von einem Braten und spießte es auf.
»Vermutlich hattet Ihr gehofft, mir unter anderen Umständen zu begegnen.«
Er lachte über seinen eigenen Scherz – ein tiefes, hallendes, von Bedrohlichkeit durchdrungenes Geräusch.
Jagang zog das Fleischstück mit den Zähnen vom Messer ab und kaute, während er die beiden betrachtete, als wüßte er nicht, für welche der zahllosen ihm durch den Kopf gehenden Möglichkeiten von erlesener Grausamkeit er sich entscheiden sollte.
Mit einem kräftigen Schluck aus einem silbernen Pokal spülte er das Fleisch hinunter, ohne seinen stechenden Blick von ihnen abzuwenden. »Ich vermag kaum zu beschreiben, wie entzückt ich bin, daß Ihr gekommen seid um mich aufzusuchen.« Sein Lächeln war wie der Tod persönlich. »Und das lebend.«
Mit einer Drehung seines Handgelenks ließ er das Messer kreisen. »Es gibt eine Menge Dinge, über die wir reden müssen.« Sein Gelächter erstarb, sein Grinsen jedoch blieb. »Nun, Ihr zumindest. Ich werde den guten Gastgeber mimen und zuhören.«
Zedd und Adie schwiegen noch immer, während der Blick aus Jagangs schwarzen Augen von einem zum anderen wanderte.
»Euch ist noch nicht nach Sprechen zumute. Nun, sei’s drum. Ihr werdet noch früh genug gesprächig werden.«
Zedd vergeudete seine Kräfte nicht damit Jagang zu erklären, daß Folter ihm nichts einbringen werde. Jagang würde eine solche Prahlerei nicht glauben, und selbst wenn, würde sie ihn kaum davon abbringen können, seinen Wunsch in die Tat umsetzen zu lassen.
Jagang fischte ein paar Trauben aus einer Schale. »Ihr seid ein findiger Mann, Zauberer Zorander.« Er ließ mehrere Trauben in seinen Mund fallen und kaute, während er sprach. »Ganz auf Euch gestellt in Aydindril, umringt von einer Armee, ist es Euch gelungen, mich zu dem Glauben zu verleiten, ich hätte Richard Rahl und die Mutter Konfessor in eine Falle gelockt. Meine Hochachtung. Ehre, wem Ehre gebührt.
Dann der Lichtbann, den Ihr inmitten meiner Krieger gezündet habt. Bemerkenswert«. Eine weitere Traube verschwand in seinem Mund. »Macht Ihr Euch eigentlich eine Vorstellung, wie viele Hunderttausende von ihnen durch Eure Zauberei in Mitleidenschaft gezogen worden sind?«
Zedd sah die Muskelstränge seines über die Stuhllehne drapierten Armes hervortreten, als er seine Faust ballte. Schließlich entspannte er seine Hand, beugte sich vor und löste mit dem Daumen ein mächtiges Stück Schinken aus.
Mit dem Fleischstück fuchtelnd, fuhr er fort. »Exakt diese Art der Magie müßt Ihr für mich wirken, bester Zauberer. Ich bin mir darüber im Klaren – wenn ich diese dummen Weibsstücke recht verstehe, die sich, je nachdem, wer ihnen ihrer Meinung nach im Leben nach dem Tod die größeren Privilegien zu bieten vermag, Schwestern des Lichts oder Schwestern der Finsternis schimpfen –, daß Ihr diesen kleinen Zauber nicht allein bewirkt, sondern Euch eines entworfenen Banns aus der Burg der Zauberer bedient und ihn mit Hilfe irgendeines Tricks oder Auslösers mitten unter meinen Männern zur Entzündung gebracht habt – vermutlich mit irgendeinem unscheinbaren Gegenstand, den einer von ihnen aus Neugier in die Hand genommen hat.«
Zedd war einigermaßen schockiert, daß es Jagang gelungen war, sich so umfassende Kenntnisse zu beschaffen. Der Kaiser riß einen weiteren mächtigen Bissen aus dem Schinkenstück, ohne sie einen Moment aus den Augen zu lassen. Die Nachsicht in seinem Blick neigte sich dem Ende zu.
»Nun, da Ihr offenbar außerstande seid, derart phantastische Magie allein zu wirken, habe ich einige Dinge aus der Burg der Zauberer herbringen lassen, damit Ihr mir ihre Funktions- und Wirkungsweise erläutern könnt. Ich bin sicher, der Bestand umfaßt eine Vielzahl faszinierender Objekte. Ich möchte einige dieser entworfenen Banne in meinen Besitz bringen, damit sie uns die Pässe nach D’Hara freisprengen, was mir eine Menge Zeit und Ärger ersparen wird. Ohne Zweifel habt Ihr Verständnis für meine Ungeduld, nach D’Hara einzumarschieren und den bescheidenen Widerstand dort ein für alle Mal zu brechen.«
Zedd holte tief Luft und ergriff schließlich das Wort. »Was die meisten dieser Objekte anbelangt, so könntet Ihr mich bis ans Ende aller Zeiten foltern, ich könnte Euch doch nichts erklären – schlicht, weil ich über sie nichts weiß. Im Gegensatz zu Euch kenne ich meine Grenzen. Ich weiß ganz einfach nicht, wie ein solcher Bann aussehen könnte. Und selbst wenn, bedeutet das noch lange nicht, daß ich auch weiß, wie man ihn wirkt. Bei dem, den ich damals benutzte, hatte ich ganz einfach Glück.«
»Das mag alles sein, einige Objekte werden Euch gewiß trotzdem vertraut sein. Schließlich seid Ihr der Oberste Zauberer, habe ich mir sagen lassen; es ist Eure Burg. Eure angebliche Unkenntnis der dort eingelagerten Objekte erscheint mir daher wenig glaubwürdig. Auch wenn Ihr Euch auf Glück beruft, so konntet Ihr offenbar genügend Kenntnisse über diesen entworfenen Lichtbann sammeln, um ihn mitten unter meinen Männern zu zünden; daraus schließe ich, daß Ihr über die mächtigsten dieser Objekte bestens informiert seid.«
»Ihr habt nicht die leiseste Ahnung von Magie«, unterbrach Zedd ihn schroff. »Ihr habt den Kopf voller großartiger Hirngespinste und glaubt, es nur befehlen zu müssen, und schon werden sie in die Tat umgesetzt. Nun, dem ist nicht so. Ihr seid ein Narr, der von echter Magie und ihren Grenzen keine Ahnung hat.«
Über einem der trüben Augen Jagangs schnellte erstaunt eine Braue hoch. »Oh, ich denke, ich weiß weit mehr, als Ihr vielleicht glaubt, Zauberer. Seht Ihr, ich bin ein begeisterter Leser, und ich habe den großen Vorteil, die Gedanken einiger der, sagen wir, bemerkenswertesten mit der Gabe gesegneten Köpfe, die Ihr Euch vorstellen könnt, lesen zu können. Wahrscheinlich weiß ich weit mehr über Magie, als Ihr mir zutraut.«
»Vor allem traue ich Euch dreiste Selbsttäuschung zu.«
»Selbsttäuschung?« Er breitete die Arme aus. »Seid Ihr imstande, einen Schleifer zu erschaffen, Zauberer Zorander?«
Zedd erstarrte. Jagang mußte den Namen aufgeschnappt haben, das war alles. Er las gerne; folglich hatte er den Namen irgendwo gelesen.
»Natürlich nicht; und das vermag zur Zeit auch sonst kein Lebender.«
»Ihr könnt ein solches Wesen nicht erschaffen, Zauberer Zorander. Aber Ihr habt keine Ahnung, wie ungeheuer weit meine Kenntnisse der Magie inzwischen fortgeschritten sind. Seht Ihr, ich habe gelernt, verlorengeglaubte Begabungen wieder ins Leben zu rufen – Künste, die längst als ausgestorben und verloren galten.«
»Ich möchte Euren Träumen eine gewisse Großartigkeit nicht absprechen, Jagang, aber Träumen ist nicht schwer. Eure Träume werden nicht einfach dadurch Wirklichkeit, daß Ihr beschließt, sie lebendig werden zu lassen.«
»Schwester Tahirah hier kennt die Wahrheit.« Jagang deutete mit seinem Messer auf sie. »Erklärt Ihr es ihm, meine Liebe. Sagt ihm, was ich träumen und zum Leben erwecken kann.«
Zögernd trat die Ordensschwester einige Schritte vor. »Es ist, wie Seine Exzellenz sagt.« Sie vermied es, Zedds mißfälligem Blick zu begegnen, und spielte statt dessen nervös mit ihrem widerspenstigen grauen Haar. »Dank der brillanten Unterweisung Seiner Exzellenz ist es uns gelungen, das alte Wissen teilweise wiederzugewinnen. Unter der kundigen Leitung unseres Kaisers konnten wir einen Zauberer mit Namen Nicholas mit einem Talent ausstatten, wie es die Welt seit dreitausend Jahren nicht gesehen hat. Es ist eine der gewaltigsten Großtaten seiner Exzellenz. Ich kann Euch persönlich versichern, daß es sich genauso verhält, wie Seine Exzellenz sagt; derzeit wandelt wieder ein Schleifer auf Erden. Das ist nicht etwa Wunschdenken, Zauberer Zorander, sondern die Wahrheit.«
»Die Seelen mögen mir beistehen«, fügte sie mit kaum hörbarer Stimme hinzu, »ich war dabei und habe mit eigenen Augen gesehen, wie der Schleifer das Licht der Welt erblickte.«
»Ihr habt einen Schleifer erschaffen?« Die Hände noch immer auf den Rücken gebunden, machte Zedd einen zornentbrannten Schritt auf die Schwester zu. »Habt Ihr den Verstand verloren, Frau?« Sie wich verängstigt zur hinteren Wand zurück. Zedd richtete seinen Zorn auf Jagang. »Schleifer haben nichts als Unheil angerichtet! Sie sind unkontrollierbar! Ihr müßt verrückt sein, daß Ihr ein solches Wesen erschaffen habt!«
Jagang lächelte boshaft. »Eifersüchtig, Zauberer? Eifersüchtig, daß Ihr zu so etwas nicht fähig seid, daß Ihr keine solche Waffe gegen mich erschaffen könnt, während ich Euch mit ihrer Hilfe Richard Rahl und seine Gemahlin fortnehmen werde?«
»Ein Schleifer verfügt über Kräfte, die Ihr unmöglich beherrschen könnt!«
»Ein Schleifer kann einem Traumwandler nicht gefährlich werden. Mein Talent ist schneller als seins; ich bin ihm überlegen.«
»Wie schnell Ihr seid, spielt keine Rolle – mit Schnelligkeit hat das alles nichts zu tun! Schleifer sind unkontrollierbar und werden niemals tun, was Ihr von ihnen verlangt!«
»Das kann ich zur Zeit wirklich nicht bestätigen.« Auf einen Ellenbogen gestützt, beugte sich Jagang vor. »Eurer Meinung nach braucht man Magie, um seine Untergebenen zu beherrschen, doch auf mich trifft das nicht zu. Weder bei Nicholas noch bei den Menschen überhaupt.
Ihr scheint, im Gegensatz zu mir, von Herrschaft geradezu besessen. Es ist mir gelungen, ein Volk zu finden, das nach dem Willen von Euch und Euresgleichen nicht in Freiheit unter seinen Mitmenschen leben durfte, ein Volk, das von den mit der Gabe Gesegneten vertrieben wurde, ein Volk, das verunglimpft wurde, weil es nicht einen Funken der ach so geschätzten Gabe der Magie besitzt – ein Volk, verhaßt und verbannt, weil Ihr und Euresgleichen es nicht beherrschen konntet. Das war sein einziges Verbrechen: sie entzogen sich der Herrschaft Eurer Magie.«
Jagangs Faust, die krachend auf dem Tisch landete, ließ Teller wie Sklaven gleichermaßen in die Höhe springen.
»So wünscht Ihr Euch die Zukunft der Menschheit: nur wer zumindest einen Funken der Gabe besitzt, darf sich frei bewegen! Und das auch nur, damit Ihr ihn mit Hilfe Eurer Gabe kontrollieren könnt! Wenn ich mir den Ring um Euren Hals betrachte, scheint es Euch geradezu eine Lust zu sein, die ganze Menschheit mit Hilfe von Magie an die Kette zu legen!
Ich habe dieses vertriebene Volk der nicht mit der Gabe Gesegneten gefunden und es in den Schoß der Gemeinschaft ihrer Mitmenschen zurückgeführt. Zum großen Mißfallen und Schrecken von Euch und Euresgleichen berührt Eure widerwärtige Magie sie nicht.«
Zedd vermochte sich nicht vorzustellen, wo Jagang ein solches Volk entdeckt haben wollte. »Und nun habt Ihr einen Schleifer, der es stellvertretend für Euch beherrscht.«
»Ihr habt sie verdammt und ins Exil getrieben; wir haben sie mit offenen Armen aufgenommen; mehr noch, wir wollen die Menschen nach ihrem Vorbild umgestalten. Ihre Sache ist geradezu naturgegeben auch die unsere – die Schaffung einer reinen, vom Makel der Magie befreiten Menschheit. Auf diese Weise wird die Welt endlich in Frieden vereint sein.
Euch gegenüber bin ich im Vorteil, Zauberer; ich habe das Recht auf meiner Seite. Ich brauche keine Magie, um zu obsiegen. Ihr dagegen schon. Mein Streben gilt der bestmöglichen Zukunft für die Menschen, und der Weg dorthin steht unumkehrbar fest.
Mit Hilfe dieser Menschen habe ich Eure Burg erobert, mit ihrer Hilfe habe ich unbezahlbare Schätze in meinen Besitz gebracht. Und Ihr konntet nicht das Geringste tun, um sie daran zu hindern, hab ich Recht? Fortan werden die Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, ohne daß der Fluch der Magie sie in ihrem Ringen behindert.
Und ich besitze jetzt einen Schleifer, der uns zu diesem noblen Ziel verhelfen wird. Er bedient sich dieser Menschen zum Wohle unserer gemeinsamen Sache. Allein dadurch hat er sich bereits als von unschätzbarem Wert erwiesen.
Mehr noch, dieser Schleifer, den Ihr und Euresgleichen nie beherrschen konntet, hat hoch und heilig versprochen, mir jene beiden auszuhändigen, nach denen es mich am meisten verlangt: Euren Enkelsohn und seine Frau. Ich habe Großes mit den beiden vor – jedenfalls mit ihr.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Mit ihm dagegen weniger.«
Zedd konnte seine Wut kaum noch zügeln. Hätte der Halsring seine Gabe nicht gewaltsam unterdrückt, er hätte das gesamte Zelt in Schutt und Asche gelegt.
»Sobald dieser Nicholas sein Talent meisterlich beherrscht, werdet Ihr feststellen, daß er selbst auf Rache sinnt – und einen Preis von Euch verlangt, einen Preis, der Euch womöglich viel zu hoch erscheint.«
Jagang breitete die Arme aus. »Da täuscht Ihr Euch, Zauberer. Was immer Nicholas für Lord Rahl und die Mutter Konfessor verlangen mag, ich werde es mir leisten können. So etwas wie einen zu hohen Preis gibt es für mich nicht.
Ihr mögt mich für habgierig und eigennützig halten, doch Ihr täuscht Euch. Gewiß, ich genieße es, Beute zu machen, am meisten aber reizt mich die Rolle, die ich bei der Niederwerfung dieser Heiden spiele. Was mich wirklich interessiert, ist das Endergebnis; und am Ende werde ich die Menschen so weit haben, daß sie sich, so wie es sich geziemt, unserer gerechten Sache und dem Willen des Schöpfers beugen!«
Jagangs heftiger Ausbruch schien sich erschöpft zu haben. Er lehnte sich zurück und grapschte eine Hand voll Walnüsse aus einer Silberschale.
»Zedd irrt sich«, ergriff Adie schließlich das Wort. »Ihr habt bewiesen, daß Ihr wißt, was Ihr tut. Ihr werdet keine Mühe haben, diesen Schleifer zu beherrschen. Wenn ich Euch einen Rat geben darf haltet ihn am kurzen Zügel, damit er Euch in Eurem Bestreben unterstützt.«
Jagang lächelte sie an. »Auch Ihr, meine Beste, werdet mir alles, was Ihr wißt, über den Inhalt dieser Kisten verraten.«
»Pah«, schnaubte Adie spöttisch. »Ihr seid nichts weiter als ein Narr, und Eure Beute ist völlig wertlos. Ich hoffe, Ihr verhebt Euch, wenn Ihr sie überall mit hinschleppt.«
»Adie hat Recht«, warf Zedd ein. »Ihr seid ein unfähiger Einfaltspinsel, der bestenfalls ...«
»Ach, gebt Euch doch keine Mühe, ihr zwei. Glaubt Ihr wirklich, Ihr könntet mich zu einem Zornesausbruch reizen, damit ich Euch auf der Stelle niederstrecke?« Sein boshaftes Grinsen kehrte zurück. »Und Euch die gebührende Gerechtigkeit dessen erspare, was Euch erwartet?«
Zedd und Adie verstummten.
»Als kleiner Junge«, fuhr Jagang, den Blick in die Ferne gerichtet, in ruhigerem Tonfall fort, »war ich ein Nichts. Ein Straßenschläger in Altur’Rang. Ein kleiner Tyrann und Dieb. Mein Leben war ohne jeden Sinn. Meine Zukunft beschränkte sich auf die nächste Mahlzeit.
Eines Tages sah ich einen Mann die Straße entlangkommen. Er sah aus, als hätte er Geld; dieses Geld wollte ich. Es wurde bereits dunkel. Lautlos schlich ich mich hinterrücks an, fest entschlossen, ihm den Schädel einzuschlagen, doch dann drehte er sich plötzlich um und sah mir in die Augen. Sein Lächeln ließ mich auf der Stelle erstarren. Es war kein freundliches oder schwächliches Lächeln, sondern ein Lächeln, wie es einem jemand schenkt, der ganz genau weiß, daß er einen, so es ihm beliebt, auf der Stelle töten kann.
Er zog eine Münze aus seiner Tasche und schnippte sie mir zu, dann machte er ohne ein einziges Wort auf dem Absatz kehrt und ging seines Weges.
Einige Wochen darauf wachte ich mitten in der Nacht in einer Gasse auf, wo ich mir aus alten Decken und Kisten ein Nachtlager eingerichtet hatte, und sah vor mir auf der Straße einen Schatten Gestalt annehmen. Ich wußte, daß er es war, noch ehe er mir eine Münze zuschnippte und wieder in der Dunkelheit verschwand.
Bei unserer nächsten Begegnung saß er auf einer Steinbank am Rande eines alten Platzes, der hauptsächlich von den weniger vom Glück verwöhnten Bewohnern Altur’Rangs frequentiert wurde. Wie ich, war niemand bereit, diesen Menschen eine Chance im Leben zu geben. Die Habgier ihrer Mitmenschen hatte sie allen Lebenswillens beraubt. Gewöhnlich ging ich dorthin, um sie mir anzusehen, um mir einzureden, daß ich nie so werden wollte wie sie – dabei war mir längst klar, daß es genauso kommen würde: Ich war ein Niemand, menschlicher Abschaum, der nur darauf wartete, im Leben nach dem Tod der Vergessenheit anheim zu fallen. Eine Seele ohne jeden Wert.
Ich setzte mich neben ihn auf die Bank und fragte ihn, warum er mir Geld geschenkt hatte. Statt mich, wie es die meisten gegenüber einem kleinen Jungen getan hätten, mit irgendeiner nichtssagenden Antwort abzuspeisen, erzählte er mir von dem großen Ziel der Menschheit, vom Sinn des Lebens, und daß unser Aufenthalt auf Erden nur ein kurzer Zwischenhalt auf dem Weg zu der Bestimmung war, die der Schöpfer für uns alle ausersehen hat – vorausgesetzt, wir waren stark genug, uns der Herausforderung gewachsen zu zeigen.
Das war alles völlig neu für mich. Ich erzählte ihm, ich glaubte nicht, daß diese Dinge in meinem Leben eine Rolle spielten, schließlich sei ich doch bloß ein kleiner Dieb. Er erwiderte, damit setzte ich mich nur gegen mein ungerechtes Los im Leben zur Wehr; die Menschheit sei gottlos und böse, weil sie mich zu dem gemacht habe, was ich sei, und nur wenn sie meinesgleichen half und sich für mich aufopferte, könne sie auf Erlösung im Leben nach dem Tode hoffen. In diesem Moment öffnete er mir die Augen für die sündhafte Natur des Menschen.
Bevor er ging, wandte er sich noch einmal um und fragte mich, ob ich wisse, wie lange die Ewigkeit dauere. Ich verneinte. Er erklärte, unser elendes Dasein auf Erden sei nichts weiter als ein winziger Augenblick vor unserem Eintritt in die nächste Welt. Das brachte mich zum ersten Mal dazu, wirklich über den höheren Zweck unseres Daseins nachzudenken.
In den darauffolgenden Monaten nahm Bruder Narev sich die Zeit, sich mit mir zu unterhalten, mir von der Schöpfung und der Ewigkeit zu erzählen. Wo ich zuvor nichts besessen hatte, gab er mir die Vision einer möglichen besseren Zukunft. Er lehrte mich, was Selbstaufopferung und Erlösung bedeuteten. Ich hatte geglaubt, zu einer Ewigkeit in Dunkelheit verdammt zu sein, bis er mir zur Erleuchtung verhalf. Er nahm mich bei sich auf – als Gegenleistung mußte ich ihm bei seinen alltäglichen Arbeiten helfen.
Für mich war Bruder Narev Lehrer, Priester, Berater, der Weg zur Erlösung und« – Jagang hob seinen Blick und sah Zedd tief in die Augen – »Großvater in einem.« Nach einer kleinen Pause fuhr Jagang fort: »Er entfachte in mir das Feuer dessen, wozu der Mensch fähig war, fähig sein sollte. Er zeigte mir die unverzeihliche Sünde selbstsüchtiger Gier und das dunkle Nichts, wohin sie die Menschen dereinst führen würde. Mit der Zeit machte er mich zur ausführenden Hand seiner Visionen. Er war die Seele, ich war das Rückgrat und die Muskeln.
Bruder Narev ließ mir die Ehre zuteil werden, die Revolution auszulösen. Er stellte mich ins Zentrum des Aufstands der Menschheit gegen die Unterdrückung der Sündhaftigkeit. Wir waren die neue Hoffnung des Menschengeschlechts, und Bruder Narev persönlich ließ mir die Ehre zuteil werden, seine Vision von den reinigenden Flammen der Erlösung unter die Menschheit zu bringen.«
Jagang ließ sich auf seinem Stuhl nach hinten sinken und fixierte Zedd mit einem Blick, grimmiger, als dieser je einen Blick gesehen hatte.
»In diesem Frühjahr schließlich kam ich – im Gepäck die noble Aufforderung Bruder Narevs an die Menschheit, an all jene, die nie Gelegenheit hatten, die Vision dessen zu sehen, was der Mensch sein konnte, die Vision einer Zukunft ohne den zerstörerischen Einfluß der Magie, ohne Unterdrückung, ohne Habgier und den charakterlosen Trieb, sich über andere zu erheben – nach Aydindril ... und was mußte ich dort sehen? Bruder Narevs Haupt aufgespießt auf einer Lanze, daneben ein Zettel mit den Worten: ›Mit besten Empfehlungen von Richard Rahl.‹
Der Mann, den ich am meisten auf dieser Welt bewunderte, der Mann, der uns allen den heiligen Traum der wahren Bestimmung des Menschen in diesem Leben brachte, wie sie uns vom Schöpfer selbst auferlegt worden war – tot, sein Kopf von Eurem Enkelsohn auf einer Lanze aufgespießt.
Wenn es jemals eine ungeheuerlichere Gotteslästerung, ein schwereres Verbrechen an der gesamten Menschheit gegeben hat, so ist mir nichts davon bekannt.«
Dunkle, schwermütige Schatten trieben durch Jagangs völlig schwarze Augen. »Richard Rahl wird Gerechtigkeit widerfahren. Er wird einen ebensolchen Schlag erleben, ehe ich ihn zum Hüter schicke. Ich wollte nur, daß Ihr Euer Schicksal kennt, alter Mann. Euer Enkelsohn wird die gleiche Art des Schmerzes kennen lernen und dazu die Qualen zu wissen, daß ich seine Gemahlin in meiner Gewalt habe und sie für ihre Schandtaten teuer bezahlen lassen werde.« Ein Anflug seines Grinsens kehrte zurück. »Und wenn er seinen Preis schließlich bezahlt hat, werde ich ihn ebenfalls töten.«
Zedd gähnte. »Nette Geschichte. Nur habt Ihr all die Passagen ausgelassen, in denen Ihr unschuldige Menschen zu Zehntausenden abschlachtet, nur weil sie nicht unter Eurer schändlichen Herrschaft oder nach Narevs kranker, verschrobener Vision leben wollten.
Wenn ich es mir reiflich überlege, verschont mich mit Euren schäbigen Rechtfertigungen. Schneidet mir einfach den Kopf ab, spießt ihn auf eine Lanze und Schluß.«
Jagangs Feixen erstrahlte in seiner ganzen erschreckenden Pracht. »So leicht werde ich es Euch nicht machen, alter Mann. Zuvor werdet Ihr mir einiges erzählen müssen.«