»Irgend jemand hungrig?«, rief Tom zu den drei Frauen hinüber.
Richard zog eine Laterne von der Ladefläche des Wagens und stellte sie, nachdem es ihm endlich gelungen war, sie anzuzünden, auf einen Felsvorsprung. Er musterte die Frauen mit argwöhnischem Blick, als sie sich ihm näherten, und schien etwas sagen zu wollen, ließ es aber dann sein.
Kaum hatte Kahlan sich gleich neben Richard niedergelassen, reichte ihm Tom die erste dicke Scheibe, die er von einem langen Stück Wurst abgeschnitten hatte. Als dieser ablehnte, griff an seiner Stelle Kahlan zu. Tom schnitt eine weitere Scheibe ab und reichte sie Cara, gleich darauf noch eine für Friedrich. Jennsen war unterdessen zum Wagen gegangen, um etwas in ihrem Rucksack zu suchen.
Hätten sie ein Feuer gehabt, hätten sie sich einen Eintopf, ein Reisgericht oder Bohnen kochen, auf einem Blech ein paar Gerstenfladen backen oder vielleicht eine leckere Suppe zubereiten können. Trotz ihres Hungers bezweifelte Kahlan, daß sie die Kraft zum Kochen aufgebracht hätte, deshalb war sie bereit, sich mit dem zufrieden zu geben, was zur Hand war. Jennsen entnahm ihrem Rucksack ein paar Streifen Trockenfleisch und bot sie den anderen an. Richard lehnte auch diese ab und begnügte sich statt dessen mit hartem Reisezwieback, Nüssen und getrockneten Beeren.
»Aber willst du denn kein Fleisch?«, fragte Jennsen, als sie sich ihm gegenüber auf ihrem Bettzeug niederließ. »Das kann dir doch unmöglich reichen. Du brauchst etwas Sättigenderes.«
»Ich bekomme kein Fleisch mehr hinunter. Nicht, seit die Gabe in mir erwacht ist.«
Jennsen rümpfte die Nase und sah ihn fragend an. »Wieso sollte deine Gabe schuld daran sein, daß du kein Fleisch mehr essen kannst?«
Richard lehnte sich zur Seite, stützte sich auf einen Ellenbogen und betrachtete den weiten, sternenübersäten Himmel, während er nach den passenden Worten für eine Erklärung suchte. Schließlich meinte er: »In der Natur ist Ausgewogenheit die Folge eines Wechselspiels aller existierenden Dinge. Ein einfaches Beispiel: Betrachte die Ausgewogenheit zwischen Raubtieren und ihrer Beute. Gäbe es einen Überschuß an Raubtieren, wäre die Beute rasch verzehrt. Für einen kurzen Zeitraum würden die Raubtiere prächtig gedeihen, dann jedoch würden auch sie Hunger leiden und schließlich aussterben.
Der Mangel an Ausgewogenheit würde Beute und Raubtier gleichermaßen zum Verhängnis; beider Existenz würde vernichtet. Sie leben in einem ausgewogenen Verhältnis miteinander, weil dies, wenn nicht ihrer bewußten Absicht, so doch ihrem naturgegebenen Wesen entspricht.
Mit Menschen dagegen verhält es sich anders. Ohne diese bewußte Absicht ist nicht unbedingt gewährleistet, daß wir die oft zum Überleben unentbehrliche Ausgewogenheit erlangen. Deshalb müssen wir, um zu überleben, lernen, unseren Verstand zu gebrauchen. Wir pflanzen Getreide, wir jagen nach Fellen, um uns warm zu halten, wir züchten Schafe, scheren ihre Wolle und lernen, sie zu Tuch zu weben. Wir müssen lernen, uns einen Unterschlupf zu bauen. Wir wägen den Wert verschiedener Gegenstände gegeneinander ab und treiben Handel, um die von uns hergestellten Erzeugnisse gegen Dinge einzutauschen, die wir benötigen – und die von anderen hergestellt, gewebt oder erjagt worden sind.
Somit stellen wir eine Ausgewogenheit zwischen unseren Bedürfnissen und den uns bekannten Gegebenheiten der Welt her. Wir wägen das, was wir wollen, gegen den vernünftigen Vorteil ab, den es uns bringt, statt einem flüchtigen Bedürfnis nachzugeben, denn wir wissen, nur so können wir auf lange Sicht überleben. Wir nehmen Holz und zünden ein Feuer im Kamin an, um in kalten Winternächten nicht zu frieren, aber so sehr wir auch frieren, sind wir stets darauf bedacht, das Feuer nicht zu groß zu machen, denn damit würden wir riskieren, unseren Unterschlupf, nachdem wir wohlig eingeschlafen sind, in Brand zu setzen.«
»Aber manche Menschen handeln doch auch aus kurzsichtigem Eigennutz, aus Habgier und aus Gier nach Macht, und richten damit andere zu Grunde.« Jennsen deutete mit dem Arm hinaus in die Dunkelheit. »Sieh doch nur, was die Imperiale Ordnung tut – noch dazu mit Erfolg. Sie scheren sich nicht darum, Wolle zu spinnen, Häuser zu bauen oder Handel zu treiben. Sie schlachten Menschen ab, nur weil sie ein Land erobern wollen, und nehmen sich, was immer sie begehren.«
»Und wir leisten ihnen Widerstand. Wir haben gelernt, den Wert des Lebens zu erkennen, deswegen kämpfen wir für die Wiedereinführung der Vernunft. Wir sind es, die für Ausgewogenheit sorgen.«
Jennsen strich sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Aber was hat das alles mit deinem Verzicht auf Fleisch zu tun?«
»Mir wurde beigebracht, daß auch Zauberer für sich selbst – für ihre Gabe, ihre Kraft – Ausgewogenheit erzielen müssen; wie übrigens auch in allem anderen, was sie tun. Ich bekämpfe diese Soldaten, die Imperiale Ordnung, die das Leben vernichten wollen, weil es für sie keinen Wert bedeutet. Dafür ist es aber erforderlich, daß ich ganz ähnliche Greuel begehe und vernichte, was ich für das wertvollste Gut halte: Menschenleben. Da meine Gabe eng damit verbunden ist, daß ich Krieger bin, gilt mein Verzicht auf Fleisch als Ausgleich für all das Töten, zu dem ich gezwungen bin.«
»Und was geschieht, wenn du doch Fleisch ißt?«
Nach dem gestrigen Tag, das wußte Kahlan, hatte Richard allen Grund, durch seinen Verzicht auf Fleisch das Gleichgewicht wiederherzustellen.
»Normalerweise bereitet mir schon der Gedanke, Fleisch zu essen, Übelkeit. Wenn ich mußte, habe ich es getan, aber wenn irgend möglich verzichte ich darauf. Magie ohne Ausgewogenheit kann schwerwiegende Folgen haben – wie ein zu großes Feuer im Kamin.«
Kahlan kam der Gedanke, daß Richard ja das Schwert der Wahrheit bei sich trug und diese Waffe ihm vielleicht ein ganz eigenes Bedürfnis nach Ausgewogenheit auferlegte. Richard war vom Obersten Zauberer Zeddicus Zu’l Zorander persönlich, von seinem Großvater Zedd, jenem Mann, der einigen Anteil an seiner Erziehung gehabt hatte und von dem er zusätzlich die Gabe geerbt hatte, zum rechtmäßigen Sucher der Wahrheit ernannt worden. Richards Gabe war ihm also nicht nur vom Geschlecht der Rahls, sondern auch von dem der Zoranders vererbt worden. Ausgewogenheit, in der Tat.
Dieses Schwert trugen die rechtmäßig ernannten Sucher nun schon seit nahezu drei Jahrtausenden. Möglicherweise hatte Richards Verständnis für Ausgewogenheit ihm geholfen, die harten Prüfungen, mit denen er konfrontiert worden war lebend zu überstehen.
Jennsen riß einen Streifen Trockenfleisch ab, während sie darüber nachdachte. »Also, weil du manchmal kämpfen und jemanden töten mußt, darfst du, als Ausgleich für diese schreckliche Tat, kein Fleisch essen?«
Richard, der gerade eine getrocknete Aprikose kaute, nickte.
»Es muß schrecklich sein, die Gabe zu besitzen«, sagte Jennsen mit ruhiger Stimme. »Einen so zerstörerischen Zug in sich zu haben, der einen zwingt, einen Ausgleich dafür zu schaffen.«
Sie wich Richards grauen Augen aus. Kahlan wußte nur zu gut, wie schwierig es bisweilen sein konnte, seinem offenen, durchdringenden Blick standzuhalten.
»Genauso habe ich mich damals gefühlt, nachdem ich zum Sucher ernannt worden war und das Schwert bekommen hatte – und mehr noch später, als ich erfuhr, daß ich die Gabe besaß. Ich wollte das alles gar nicht, wollte all das nicht, wozu die Gabe mich befähigte – ebenso wenig wie ich das Schwert gewollt hatte, denn es löste gewisse Empfindungen in mir aus, die besser im Verborgenen geblieben wären.«
»Aber jetzt stört es dich doch nicht mehr so – das Schwert oder die Gabe zu besitzen, meine ich?«
»Du besitzt doch selbst ein Messer und hast es schon benutzt.« Richard beugte sich zu ihr und streckte ihr die Hände entgegen. »Und du hast Hände. Haßt du das Messer oder deine Hände?«
»Weder noch. Aber was hat das damit zu tun, daß man die Gabe besitzt?«
»Ich wurde einfach mit der Gabe geboren, so wie man als Mann oder Frau oder mit blauen, braunen oder grünen Augen geboren wird – oder mit zwei Händen. Ich hasse meine Hände doch nicht allein deswegen, weil ich mit ihnen möglicherweise jemanden erwürgen könnte. Mein Verstand lenkt meine Hände, sie handeln nicht aus eigenem Antrieb. Das zu glauben hieße das Wesen der Dinge, ihre wahre Natur, leugnen. Dieses wahre Wesen der Dinge muß man erkennen, wenn man Ausgewogenheit erzielen will – oder wenn man irgend etwas wirklich verstehen will.«
Im Stillen fragte sich Kahlan, wieso es sie nicht ebenso wie Richard nach Ausgewogenheit verlangte. Warum war dieses Bedürfnis für ihn so alles entscheidend, nicht aber für sie? So gern sie sich schlafen gelegt hatte, sie konnte diesen Gedanken nicht für sich behalten. »Oft benutze ich meine Konfessorinnenkraft zu dem gleichen Zweck – um zu töten –, ohne jedoch anschließend, etwa durch Verzicht auf Fleisch, das Gleichgewicht wiederherstellen zu müssen.«
»Nach Ansicht der Schwestern des Lichts wird der Schleier, der die Welt des Lebens vom Reich der Toten trennt, durch Magie aufrechterhalten. Oder präziser, sie behaupten, der Schleier befindet sich hier drin«- Richard tippte sich gegen die Schläfe –, »und zwar bei denen unter uns, die die Gabe besitzen, also Zauberern, und in geringerem Maße Hexenmeisterinnen. Sie behaupten, Ausgewogenheit sei für uns, die wir die Gabe besitzen, unbedingt erforderlich, weil uns, beziehungsweise unserer Gabe, der Schleier innewohnt wodurch wir unserem Wesen nach zu Wächtern des Schleiers und damit zum Gleichgewicht zwischen den Welten werden.
Mag sein, daß sie Recht haben. Ich besitze beide Seiten der Gabe, additive und subtraktive Magie. Vielleicht besteht darin der Unterschied für mich, vielleicht macht der Besitz beider Seiten der Magie es für mich noch wichtiger als ohnehin, die Gabe im Gleichgewicht zu halten.«
Cara beendete die Diskussion, indem sie Kahlan und Richard mit einem Stück Trockenfleisch vor dem Gesicht herumfuchtelte. »Dieses ganze Gerede über Ausgewogenheit ist nichts anderes als eine Nachricht von den Guten Seelen aus der anderen Welt, die Richard mitteilen wollen, er soll das Kämpfen uns überlassen. Täte er es, müßte er sich auch keine Gedanken über Ausgewogenheit machen – oder darüber, was er essen darf und was nicht. Wenn er sich nicht ständig in Lebensgefahr brächte, wäre seine Ausgewogenheit in prächtigem Zustand, und er könnte eine ganze Ziege verspeisen.«
Jennsen zog erschrocken die Brauen hoch.
»Ihr wißt schon, was ich meine«, brummte Cara.
Tom beugte sich vor. »Vielleicht hat Herrin Cara ja Recht, Lord Rahl. Ihr verfügt über Personen, die Euch beschützen; vielleicht solltet Ihr ihnen diese Arbeit überlassen, damit Ihr Euch voll und ganz auf Eure Aufgabe als Lord Rahl konzentrieren könnt.«
Richard schloß die Augen und rieb sich mit den Fingerspitzen die Schläfen. »Wenn ich jedes Mal darauf warten müßte, daß Cara mich rettet, würde ich vermutlich längst kopflos durch die Weltgeschichte laufen.«
Als sie den Anflug eines Lächelns bei ihm bemerkte, verdrehte Cara die Augen und machte sich wieder über ihre Wurst her.
»Mein Großvater Zedd besitzt ebenfalls die Gabe«, erklärte Richard dann und lehnte sich zurück. »Er wollte mich fernab aller Magie großziehen – ganz so wie Jennsen –, an einem verborgenen Ort, wo Darken Rahl meiner nicht habhaft werden konnte. Deswegen wollte er auch, daß ich in Westland aufwuchs, jenseits der Grenze, hinter der es Magie gab.«
»Und Euer Großvater – immerhin ein Zauberer – hat sich niemals anmerken lassen, daß er die Gabe besitzt?«, fragte Friedrich.
»Nein, nicht, bis Kahlan nach Westland kam. Im Nachhinein sehe ich jetzt, daß eine ganze Reihe von Kleinigkeiten darauf hindeuteten, daß er mehr war, als er zu sein vorgab, aber damals war ich vollkommen ahnungslos. In meinen Augen war er damals nur insofern ein Zauberer, als er praktisch alles über unsere Welt zu wissen schien. Und diese Welt erschloß er mir, indem er in mir den steten Wunsch weckte, alles über sie zu erfahren. Aber diese Art Magie hatte mit der Gabe nichts zu tun – er hat mir einfach das Leben gezeigt.«
»Dann ist es also tatsächlich wahr«, sagte Friedrich, »daß Westland eine Art magiefreies Reservat bleiben sollte.«
Richard mußte lächeln, als der Name seiner Heimat Westland fiel. »Ja, das stimmt. Ich bin in den Wäldern Kernlands aufgewachsen, ganz in der Nähe der Grenze, und habe nichts Magisches gesehen. Außer vielleicht Chase.«
»Chase?«, fragte Tom.
»Ein Freund von mir – ein Grenzposten. Er hat etwa Eure Größe, Tom. Während Ihr in Diensten des Lord Rahl steht, um ihn zu beschützen, hatte Chase sich um das Grenzgebiet zu kümmern, oder besser, er hatte dafür zu sorgen, daß niemand sich dorthin verirrte. Mir hat er erzählt, es sei seine Aufgabe, das Grenzgebiet von Beutewesen – Menschen – freizuhalten, sodaß die Kreaturen, die gelegentlich aus dem Grenzgebiet hervorkamen, nicht noch stärker wurden. Ziel seiner Arbeit war die Aufrechterhaltung der Ausgewogenheit.« Richard lächelte versonnen bei sich. »Er besaß nicht die Gabe, aber ich weiß noch, daß ich damals oft dachte, was der Mann so alles zuwege brachte, müßte eigentlich etwas mit Magie zu tun haben.«
Jetzt lächelte auch Friedrich über Richards Geschichte. »Ich habe mein ganzes Leben in D’Hara verbracht. Als ich noch klein war, waren die Männer, die das Grenzgebiet bewachten, meine großen Vorbilder, und ich hätte viel darum gegeben, einer von ihnen zu werden.«
»Und warum habt Ihr es nicht getan?«, fragte Richard.
»Als die Grenze errichtet wurde, war ich noch zu klein.« Friedrichs Gedanken wanderten in die Vergangenheit, doch dann versuchte er, das Thema zu wechseln. »Wie lange wird es wohl noch dauern, bis wir diese Ödnis wieder verlassen, Lord Rahl?«
Richard blickte nach Osten, so als könnte er in der tiefschwarzen Nacht jenseits des trüben Lichtscheins der Laterne etwas erkennen. »Wenn wir das Tempo beibehalten, müßten wir nach ein paar Tagen das Schlimmste hinter uns haben, würde ich sagen. Jetzt, da das Gelände nach den fernen Bergen hin anzusteigen beginnt, wird der Boden immer steiniger. Das wird unser Vorankommen erschweren, dafür dürfte es, sobald wir in höhere Lagen kommen, nicht mehr ganz so heiß sein.«
»Wie weit ist es noch bis zu diesem Ding ... das ich nach Caras Ansicht berühren soll?«, fragte Jennsen.
Richard sah ihr einen Moment lang ins Gesicht. »Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das eine so gute Idee ist.«
»Aber wir gehen doch dorthin?«
»Ja.«
Jennsen knabberte lustlos an einem Streifen Trockenfleisch. »Was ist das überhaupt für ein Ding, das Cara berührt hat? Ich habe allmählich den Eindruck, Cara und Kahlan wollen es mir verheimlichen.«
»Ich habe sie gebeten, es dir nicht zu sagen«, erwiderte Richard.
»Aber warum? Wenn wir es ohnehin sehen werden, warum willst du mir dann nicht sagen, was es ist?«
»Weil du nicht die Gabe besitzt«, erklärte Richard. »Ich möchte, daß du es dir völlig unvoreingenommen ansiehst.«
Jennsen blinzelte verständnislos. »Was könnte das für einen Unterschied ausmachen?«
»Ich bin mit meiner Übersetzung noch nicht sehr weit gekommen, aber soweit ich dem Buch, das Friedrich mitgebracht hat, entnehmen kann, besitzen selbst jene, die nicht im üblichen Sinn mit der Gabe gesegnet sind, zumindest einen winzigen Funken von ihr – was sie in die Lage versetzt, mit der in der Welt existierenden Magie Verbindung aufzunehmen: etwa so, wie man mit Augen geboren sein muß, um Farben wahrnehmen zu können. Wenn man mit Augen geboren ist, ist man in der Lage, ein beeindruckendes Gemälde zu sehen und zu verstehen, selbst wenn man vielleicht nicht fähig ist, ein solches Bild eigenhändig zu erschaffen.
Jeder mit der Gabe gesegnete Lord Rahl zeugt nur einen einzigen mit der Gabe gesegneten Nachkommen. Selbst wenn er noch andere Kinder haben sollte, ist nur selten eines davon ebenfalls mit der Gabe gesegnet. Dennoch verfügen sie über besagten winzigen Funken, wie übrigens auch jeder andere Mensch – selbst sie können sozusagen Farben wahrnehmen.
Nun heißt es aber in dem Buch, daß es äußerst seltene Nachkommen eines mit der Gabe gesegneten Lord Rahl gibt, so wie dich, die gänzlich ohne einen Hauch der Gabe geboren wurden. Im Buch werden sie ›Säulen der Schöpfung‹ genannt. Ganz so wie ein ohne Augen geborener Mensch keine Farben wahrnehmen kann, können diese Menschen keine Magie wahrnehmen.
Doch selbst das trifft die Sache nicht ganz, denn in deinem Fall geht es um mehr als das völlig Unvermögen, Magie wahrzunehmen. Denn für jemanden, der blind geboren wurde, existieren Farben durchaus, nur kann er sie nicht sehen. Du aber kannst Magie nicht nur nicht wahrnehmen, für dich existiert Magie nicht – sie ist nicht Bestandteil deiner Wirklichkeit.«
»Wie ist so etwas möglich?«, fragte Jennsen.
»Das weiß ich nicht«, sagte Richard. »Als unsere Vorfahren die Bande zwischen dem Lord Rahl und dem Volk D’Haras schufen, war damit die einzigartige Fähigkeit verbunden, durchweg einen mit der Gabe gesegneten Nachkommen zu gebären. Magie verlangt nach Ausgewogenheit. Vielleicht hatten sie keine andere Wahl, als es so einzurichten, daß für jeden Menschen wie dich jeweils ein Gegenstück geboren werden mußte, damit die von ihnen erschaffene Magie funktionierte. Vielleicht war ihnen aber auch gar nicht klar, was geschehen würde, und sie schufen die Ausgewogenheit gewissermaßen aus Versehen.«
Jennsen räusperte sich. »Was würde passieren, wenn ... nun, du weißt schon, wenn ich ein Kind bekäme?«
Richard blickte Jennsen lange und tief in die Augen. »Du würdest Nachkommen zur Welt bringen, die wie du sind.«
Jennsen beugte sich vor; ihre Hände verrieten ihre innere Aufgewühltheit. »Selbst wenn ich jemanden heirate, der einen Funken der Gabe besitzt? Jemand, der wie du es genannt hast, Farben wahrnehmen kann? Selbst dann wäre mein Kind wie ich?«
»Selbst dann, und zwar ohne jede Ausnahme«, erwiderte Richard mit ruhiger Gewissheit. »Du bist ein zerbrochenes Glied in der Vererbungskette der Gabe. Laut Buch verhält es sich so: Wird die Reihe all derer, die mit einem Funken der Gabe geboren wurden, diejenigen eingeschlossen, die wie ich tatsächlich mit der Gabe geboren wurden – eine Reihe, die Tausende von Jahren, ja bis in die Ewigkeit zurückreicht –, nur ein einziges Mal unterbrochen, so ist sie für immer unterbrochen und kann nicht wiederhergestellt werden.«
»Aus diesem Grund machte der jeweilige Lord Rahl Jagd auf seine nicht mit der Gabe gesegneten Nachkommen und vernichtete sie, denn diese Menschen würden zum Ursprung von etwas, das man bis dahin in der Welt nicht kannte: den von der Gabe Unberührten. Jeder Abkömmling eines jeden Nachkommen würde die Vererbungskette des Funkens der Gabe bei jedem unterbrechen, den sie zum Ehegatten nähmen, und damit die Welt unwiederbringlich verändern.
Aus diesem Grund werdet ihr wie schon gesagt, in dem Buch als ›Säulen der Schöpfung‹ bezeichnet.«
Die Stille war zum Zerreißen gespannt.
»Und genauso wird auch dieser Ort genannt«, sagte Tom und deutete mit dem Daumen über seine Schulter; offenbar verspürte er das Bedürfnis, das Schweigen zu brechen. »›Die Säulen der Schöpfung‹.« Er betrachtete die Gesichter, die sich um das trübe Licht, das die flackernde Laterne spendete, scharten. »Scheint mir eine seltsame Fügung zu sein, daß sowohl die Menschen wie Jennsen als auch dieser Ort denselben Namen tragen.«
Richard starrte leeren Blicks hinüber zu jenem grauenhaften Ort, an dem Kahlan getötet worden wäre, wäre ihm bei der Anwendung der Magie ein Fehler unterlaufen. »Ich bin fest davon überzeugt, daß beides in bestimmter Weise miteinander verbunden ist.«
Das Buch -»Die Säulen der Schöpfung«-, in dem die wie Jennsen geborenen Menschen beschrieben wurden, war in der uralten Sprache Hoch-D’Haran verfaßt, einer Sprache, die kaum ein Lebender noch verstand. Richard hatte sie zu lernen begonnen, um wichtige Informationen aus anderen Büchern aus der Zeit vor dem Großen Krieg, die sie gefunden hatten, entschlüsseln zu können.
Dieser Weltenbrand, erloschen vor dreitausend Jahren, war irgendwie erneut entflammt und hatte sich unkontrolliert über die gesamte Welt ausgebreitet. Kahlan wagte gar nicht daran zu denken, welch maßgebliche – wenn auch unvermeidbare – Rolle sie und Richard dabei gespielt haben mochten.
Jennsen beugte sich vor, so als suchte sie nach einem Hoffnungsschimmer. »Wieso glaubst du, zwischen beiden könnte eine Verbindung bestehen?«
Richard fühlte sich völlig erschöpft und stieß einen Seufzer aus. »Ich weiß es nicht, noch nicht.«
Jennsen rollte einen kleinen Stein im Kreis herum, so daß eine feine Spur im Staub zurückblieb. »All diese Geschichten über mich, daß ich eine Säule der Schöpfung sein und die Vererbungskette der Gabe unterbrochen haben soll, geben mir das Gefühl, ich sei irgendwie ... schmutzig.«
»Schmutzig?« Sie so etwas auch nur aussprechen zu hören schien Tom bereits zu kränken.
Richard stützte seine Ellbogen auf die Knie. »Ich kenne das Gefühl, sich für die Dinge, die einem von Geburt an mitgegeben sind, schuldig zu fühlen – für die Talente, die man besitzt oder nicht. Mir war es stets zuwider, mit der Gabe geboren zu sein, trotzdem habe ich mittlerweile erkannt, wie unsinnig solche Empfindungen sind, und wie widersinnig es ist, sich selbst so zu verdammen.«
»Aber in meinem Fall ist es etwas anderes«, erwiderte sie und löschte die Spur des Steinchens im Sand mit dem Finger wieder aus. »Du bist nicht der Einzige, auch andere Zauberer oder Hexenmeisterinnen besitzen die Gabe. Oder wie du es ausgedrückt hast, alle anderen können die Farben zumindest sehen. Ich dagegen bin die Einzige meiner Art.«
Richard betrachtete seine Halbschwester, seine wunderschöne, kluge, nicht mit der Gabe gesegnete Halbschwester, die jeder frühere Lord Rahl auf der Stelle umgebracht hätte, und konnte sich eines strahlenden Lächelns nicht erwehren. »In meinen Augen, Jennsen, bist du rein wie eine Flocke jungfräulichen Schnees – einzigartig und von bemerkenswerter Schönheit. Weißt du, Magie existiert einfach, es geht nicht darum, ob sie ein Recht darauf hat. Das zu glauben hieße das wahre Wesen, die Realität, der Dinge ignorieren. Jeder Mensch hat, solange er anderen nicht das Leben nimmt, ein Recht auf Leben. Es wäre unsinnig, zu behaupten, die Tatsache, daß jemand mit rotem Haar geboren wurde, nähme braunem Haar das Recht, auf seinem Kopf zu wachsen.«
Die Vorstellung schien Jennsen zu amüsieren. Es tat gut zu sehen, daß ihr Lächeln wieder die Oberhand gewann. Tom schien, nach dem Ausdruck auf seinem Gesicht, derselben Meinung zu sein.
Schließlich fragte Jennsen: »Was ist nun mit diesem Ding, das wir in Kürze zu Gesicht bekommen werden?«
»Wenn der Gegenstand, den Cara berührt hat, von einem mit der Gabe Gesegneten verändert worden ist, würdest du, da du Magie nicht wahrnehmen kannst, etwas sehen können, das uns vorenthalten bleibt, nämlich das, was sich hinter der Magie verbirgt.«
»Und du glaubst, das könnte dir etwas Wichtiges verraten?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es nützlich, vielleicht auch nicht, aber auf jeden Fall möchte ich wissen, was du – mit deinem besonderen Blick – siehst, ohne von uns vorher beeinflußt worden zu sein.«
»Wenn du so besorgt um diesen Gegenstand bist, warum hast du ihn dann überhaupt zurückgelassen? Hast du keine Angst, jemand könnte ihn zufällig finden und mitnehmen?«
»Ich mache mir über alles mögliche Sorgen.«
»Selbst wenn er durch Magie ein wenig verändert worden wäre und sie sein wahres Wesen erkennt«, gab Cara zu bedenken, »heißt das noch lange nicht, daß er nicht mehr das ist, was wir in ihm sehen, oder daß er weniger gefährlich geworden wäre.«
Richard nickte. »Aber zumindest erhalten wir diese zusätzliche Information. Was immer wir herausfinden, könnte für uns von Nutzen sein.«
Cara legte mürrisch die Stirn in Falten. »Ich will doch nur, daß sie ihn wieder herumdreht.«
Richard bedachte sie mit einem Blick, der ihr unmißverständlich zu verstehen gab, kein Wort mehr über dieses Thema zu verlieren. Cara beugte sich mit einem verärgerten Schnauben vor, schnappte sich eine von Richards getrockneten Aprikosen und steckte sie sich in den Mund – nicht ohne ihm dabei einen mißbilligenden Blick zuzuwerfen. Als alle ihr Abendessen beendet hatten, schlug Jennsen vor, die Lebensmittel sicherheitshalber wieder auf dem Wagen zu verstauen, damit die stets hungrige Betty sich in der Nacht nicht daran gütlich tun könne.
Kahlan fand, daß man Friedrichs Alter Rechnung tragen sollte, und fragte ihn, ob er die erste Wache übernehmen wolle; er nahm das Angebot dankbar lächelnd mit einem Nicken an.
Nachdem er Kahlans und sein Bettzeug ausgerollt hatte, löschte Richard die Laterne. Trotz der drückenden Hitze war die Nacht kristallklar, sodaß Kahlan, nachdem sich ihre Augen an die geringe Helligkeit gewöhnt hatten, im Licht des schier endlosen Sternenhimmels gerade eben genug erkennen konnte.
Als sie sich schließlich neben Richard niederlegte, sah Kahlan die dunklen Umrisse Jennsens sich neben ihrer Ziege zusammenrollen und die beiden Zwillingsjungtiere behutsam in ihre Arme schließen, wo sie es sich rasch bequem machten.
Richard beugte sich über sie und küßte sie auf die Lippen. »Ich liebe dich, weißt du das?«
»Falls wir jemals wieder einen Augenblick für uns alleine haben sollten«, erwiderte Kahlan im Flüsterton, »wünsche ich mir mehr als nur einen flüchtigen Kuß.«
Er lachte leise und gab ihr noch einen Kuß auf die Stirn, ehe er sich mit dem Rücken zu ihr auf die Seite drehte. Sie hatte ein zärtliches Versprechen erwartet, oder doch zumindest eine scherzhafte Bemerkung.
Kahlan schmiegte sich an ihn, legte ihm eine Hand auf die Schulter und fragte leise: »Ist mit dir alles in Ordnung, Richard?«
Seine Antwort ließ länger auf sich warten, als ihr lieb sein konnte. »Ich habe rasende Kopfschmerzen, allerdings nicht dieselben Kopfschmerzen, die ich früher hatte«, sagte Richard wie als Antwort auf ihre Gedanken. »Vermutlich ist es diese grauenhafte Hitze in Verbindung mit dem langen Schlafmangel.«
»Vermutlich.« Kahlan faltete die Decke, die sie als Kopfkissen benutzte, zu einem dicken Bündel zusammen und schob sie als Stütze unter die empfindliche Stelle an ihrem Halsansatz. »Ich spüre von der Hitze auch einen Druck im Kopf.« Sie strich ihm zärtlich über seine Schulter. »Also dann, schlaf gut.«
Erschöpft und am ganzen Körper zerschlagen, wie sie war, war es ein herrliches Gefühl, sich endlich ausstrecken zu können. Dank der fest zusammengefalteten Decke unter ihrem Nacken ging es auch ihrem Kopf bald besser. Die Hand noch immer auf Richards Schulter, spürte sie seinen ruhigen Atem und sank schon bald in einen tiefen, traumlosen Schlaf.