17

Zedd schaufelte soeben die achte Kelle Eintopf in seine Schale, als er ein Geräusch vernahm. Seine Hand erstarrte über dem sachte brodelnden Kessel. Vermutlich, so sein erster Gedanke, das leise Klingeln eines Glöckchens.

Zedd neigte weder zu Anfällen übersteigerter Phantasie, noch war er übermäßig nervös, trotzdem überlief ihn eine Gänsehaut, so als hätten ihn die eisigen Finger einer Seele aus dem Jenseits gestreift. Regungslos stand er da, halb über den überm Feuer hängenden Kessel gebeugt, halb zum Flur gedreht, und horchte.

Womöglich eine Katze. Vielleicht hatte er die feine Schnur nicht hoch genug gespannt, so daß eine darunter herlaufende Katze das Glöckchen mit ihrem Schwanz zum Klingen gebracht hatte. Vielleicht trieb eine Katze ihren Schabernack mit ihm und hatte das Glöckchen mit einer wedelnden Bewegung ihres Schwanzes ausgelöst. Eine Katze konnte es gewesen sein.

Oder aber ein Vogel hatte sich auf der Schnur niedergelassen, um dort zu übernachten. Ein Mensch hätte gar nicht die zusätzlich von ihm errichteten Schilde passieren können, um über eine der mit Glöckchen versehenen Schnüre zu stolpern. Nein, es mußte ein Tier gewesen sein – eine Katze oder ein Vogel.

Zum wiederholten Mal fragte er sich auch, wo eigentlich Adie abgeblieben war.

Allen plausiblen Erklärungsversuchen zum Trotz versuchten seine Haare sich nach Kräften aufzurichten. Vor allem gefiel ihm nicht, wie das Glöckchen ausgelöst worden war; etwas an der Art des Geräusches sagte ihm, daß es kein Tier gewesen sein konnte. Das Geräusch hatte zu entschieden, zu abrupt geklungen, war zu unvermittelt abgebrochen.

Auf einmal war er absolut sicher, daß tatsächlich ein Glöckchen erklungen war; das konnte schlichtweg keine Einbildung gewesen sein! Er versuchte, sich das Geräusch noch einmal in Erinnerung zu rufen, um dem Wesen, das gegen die Schnur gestoßen war, Gestalt zu verleihen.

Lautlos stellte Zedd die Schale auf der Umrandung der granitenen Feuerstelle ab, richtete sich auf und lauschte, ein Ohr zur Türöffnung, hinter der er das Glöckchen vernommen hatte, gedreht. In Gedanken überflog er einen Lageplan aller von ihm aufgespannter Glöckchen.

Der Zauberer mußte sich Gewißheit verschaffen.

Er schlüpfte durch die Tür hinaus auf den Flur; dort war alles still. Mit schnellen Schritten eilte Zedd an verschlossenen Türen vorbei, passierte einen Wandteppich voller Weinberge, dessen erbärmliche Qualität ihm stets ein Dorn im Auge gewesen war, passierte die Tür eines Zimmers, dessen Fenster auf den tiefen Schacht zwischen zwei auf einem hohen Befestigungswall sitzenden Türmen hinausging, sowie drei weitere Kreuzungen, bis er schließlich zur ersten Treppe gelangte. Auf diese Weise kam er schließlich wieder in das Geflecht aus Gängen und Fluren zurück, in denen er einen Teil der Glockenschnüre aufgespannt hatte, ohne diese selbst betreten zu müssen.

Zedd folgte der geistigen Karte eines komplizierten Gewirrs aus Durchgängen, Fluren, Räumen und Sackgassen, das ihm mittlerweile bestens vertraut war. Als Oberster Zauberer hatte er Zutritt zu sämtlichen Räumlichkeiten in der Burg, mit Ausnahme jener, für die subtraktive Magie benötigt wurde. Zwar gab es einige Bereiche, wo er immer noch in Verwirrung geraten konnte, dieser jedoch gehörte nicht dazu.

Er wußte, wer ihm nicht unmittelbar auf dem Fuße folgte, würde entweder umkehren oder aber eine jener Stellen passieren müssen, wo er sowohl aus sorgfältig durchdachter Magie als auch aus einer simplen Schnur bestehende Fallen ausgelegt hatte. Übersah der Betreffende dann dort die Schnur, würde er zwangsläufig ein weiteres Glöckchen zum Klingen bringen, und alle Zweifel waren ausgeräumt.

Möglicherweise war es Adie selbst; vielleicht hatte sie die tiefschwarze, quer durch eine Türöffnung gespannte Schnur schlicht nicht erspürt. Oder sie hatte sich über die von ihm aufgespannten Glöckchen geärgert und eines angeschlagen, um ihn zu beunruhigen.

Nein, das entspräche nicht ihrer Art. Sie mochte sich mit erhobenem Finger vor ihn hinstellen und ihm einen galligen Vortrag halten, warum sie im Gegensatz zu ihm keineswegs der Meinung sei, das Aufhängen von Glöckchen habe irgendeinen Sinn, aber niemals würde sie ihm mit einer Vorrichtung einen Streich spielen, die offenkundig vor Gefahren warnen sollte. Nein, denkbar war höchstens, daß Adie das Glöckchen aus Versehen angeschlagen hatte, absichtlich gewiß nicht.

Wieder erklang ein Glöckchen. Zedd drehte sich in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. und verharrte regungslos auf der Stelle.

Das Klingeln war aus der falschen Richtung gekommen – drüben, von jenseits des Wintergartens. Es war vom ersten viel zu weit entfernt. als daß jemand es so schnell erreicht haben konnte.

Es sei denn, es handelte sich um mehr als eine Person.

Das Glöckchen war einmal kurz angerissen worden und dann klirrend über Stein geschliddert. Offenbar war jemand über die Schnur gestolpert und hatte das Glöckchen anschließend über den Steinfußboden geschleudert.

Zedd änderte seinen Plan. Er machte kehrt, lief einen schmalen Gang zu seiner Linken entlang und flog die erste Treppe, drei Eichentritte auf einmal nehmend, hinauf. Auf dem Absatz nahm er die rechte Abzweigung und lief, so schnell ihn seine Füße trugen, die zweite steinerne Wendeltreppe hinauf. Obwohl er mit dem Fuß auf den schmalen Tritten der spiralförmigen Treppe abglitt und sich das Schienbein stieß, ließ ihn der Schmerz nur eine Sekunde lang zusammenzucken. Er nutzte die Zeit, um sich noch einmal den Plan der Burg in Erinnerung zu rufen, und setzte sich sofort wieder in Bewegung.

Oben angekommen, hastete er durch einen kurzen, getäfelten Flur, bis er auf dem polierten Marmorboden schliddernd vor eine oben abgerundete Eichentür gelangte. Er warf sich mit der Schulter dagegen und stand plötzlich unter dem sternenbedeckten Himmel. Gierig sog er die kühle Nachtluft in seine Lungen, während er über den schmalen Wehrgang eilte. Zweimal blieb er unterwegs kurz stehen, um durch die Schlitze in der mit Zinnen versehenen Festungsmauer hinunterzuspähen, konnte aber niemanden entdecken. Das war ein gutes Zeichen – jetzt wußte er, wo die Eindringlinge sein mußten, wenn sie nicht den Weg außen herum gewählt hatten.

Zedd machte kehrt und lief über den Wehrgang zurück. An der vorspringenden Bastei packte er das Geländer mit einer Hand und schwang sich um die Ecke, ehe er bei völliger Dunkelheit die Stufen, einem Steilhang gleich, hinunterhastete.

Seine Gabe sagte ihm, daß sich niemand in unmittelbarer Nähe befand – was wiederum bedeutete, daß es ihm gelungen war, die Eindringlinge zu umgehen. Sie saßen in der Falle.

Am Fuß der Treppe angelangt, stieß er die dortige Tür auf und stürzte in den dahinter liegenden Flur.

Und prallte gegen einen Mann, der dort stand, als hatte er auf ihn gewartet.

Sein Schwung riß ihn glatt von den Beinen. Die beiden gingen in einem wirren Knäuel zu Boden und rutschten, bemüht, sich wieder zu fangen, ein Stück weit über den grün-gelben Marmorboden.

Zedds Überraschung hätte kaum größer sein können. Die Sinne seiner Gabe hatten ihm unzweideutig mitgeteilt, daß dieser Mann nicht vorhanden war; offenbar jedoch hatten sie sich getäuscht. Das verwirrende Gefühl, in einem eindeutig für leer erkannten Flur auf jemanden zu stoßen, war erschütternder als der heftige Sturz.

Noch im Rollen warf Zedd bereits Netze aus, um den Fremden in einer magischen Schlinge zu verstricken. Dieser wiederum versuchte sich über ihn zu werfen, um ihn mit seinen fleischigen Armen in die Zange zu nehmen.

In seiner Verzweiflung entzog Zedd, trotz der kurzen Entfernung, der Luft ringsum genügend Warme, um einen krachenden Lichtblitz loszuschleudern, den er genau auf den Fremden richtete. Der gleißende Lichtblitz brannte eine schartige Kerbe in die Steinquadermauer hinter ihm.

Viel zu spat erkannte Zedd, daß die Entladung tödlicher Energie durch sein Gegenüber hindurchgegangen war, ohne die geringste Wirkung zu erzielen. Plötzlich war der Flur erfüllt von wild umherschießenden Gesteinssplittern, die von Wand und Decke zurückgeworfen wurden und über den Boden sprangen.

Der Fremde landete auf Zedd und preßte ihm den Atem aus den Lungen, während er, verzweifelte Hilferufe ausstoßend, Zedd auf dem rutschigen Boden niederzuringen versuchte. Zedd wiegte ihn mit seiner bewußt lahmen und unbeholfenen Gegenwehr in trügerische Sicherheit, ehe er dem Angreifer sein Knie in einer ebenso heftigen wie überraschenden Attacke gegen das Brustbein rammte. Der, ebenso überrascht wie schmerzhaft getroffen, stieß einen Schrei aus, warf sich mit einer ruckartigen Bewegung nach hinten und versuchte keuchend wieder zu Atem zu kommen.

Der ungeheure Wärmeentzug hatte die Luft so stark erkalten lassen wie in einer frostigen Winternacht. Wolken ihres Atems füllten die eisige Luft, als die beiden Männer ächzend vor Anstrengung miteinander rangen. Wieder stieß der Fremde einen Hilferuf aus, offenbar in der Hoffnung, einige Kumpane zu seiner Unterstützung herbeizurufen.

Normalerweise hätte Zedd vermutet, daß es sich jemand zweimal überlegte, einen Zauberer allein mit Muskelkraft zu attackieren, doch offenbar mußte der Fremde keine Magie fürchten. War ihm das bisher noch nicht klar gewesen, so war der Beweis jetzt mehr als offenkundig. Für jemanden, der seinen Gegner an Körpermasse bei weitem übertraf, mehr als die Hälfte jünger war und gegen alle Magie immun zu sein schien, die dieser ihm entgegenschleuderte, kämpfte sein Gegenüber, wie Zedd fand, eher verhalten.

Aber bei aller Zurückhaltung mangelte es ihm nicht an Entschlossenheit. Soeben kam er wieder auf die Beine, um erneut anzugreifen. Brach er Zedd das Genick, war es ziemlich gleichgültig, wie zurückhaltend er dabei zu Werke ging.

Kaum hatte er sich wieder aufgerappelt und wollte einen Satz in Zedds Richtung machen, zog dieser die Arme zurück, winkelte die Ellenbogen an, spreizte seine Finger und schleuderte ihm einen weiteren Lichtblitz entgegen. Doch diesmal war er klug genug, seine Kräfte nicht auf die Vernichtung eines Mannes zu verschwenden, dem mit Magie nicht beizukommen war. Statt dessen zielte er darauf ab, den Fußboden mit seinen magischen Energieblitzen aufzureißen. Krachend bohrten sie sich mit ungebremster Wucht in das Gestein, rissen ganze Brocken heraus und zersprengten sie, bis die Luft von spitzen, scharfkantigen Splittern erfüllt war.

Ein faustgroßer Gesteinsbrocken prallte mit so ungeheurer Geschwindigkeit gegen seine Schulter, daß das Krachen seiner Knochen trotz des donnernden Getöses der Energieentladung zu hören war. Die Wucht des Aufpralls wirbelte seinen Körper zur Seite und schleuderte ihn rücklings gegen die Wand. Da Zedd inzwischen wußte, daß dem Eindringling mit Magie direkt nichts anzuhaben war, erzeugte er im Flur einen ohrenbetäubenden magischen Sturm, der ihn nicht unmittelbar angreifen, sondern das Mauerwerk ringsumher in eine tödliche Wolke herumfliegender Splitter verwandeln sollte.

Der Mann hatte sich unterdessen von seinem Zusammenprall mit der Wand erholt: er stieß sich ab und warf sich erneut auf Zedd – nur um von einer Wolke aus tödlichen Gesteinssplittern empfangen zu werden, die ihm sirrend entgegenschossen. Sein Blut spritzte über die Wand in seinem Rücken, als er in Fetzen gerissen wurde. Er war auf der Stelle tot und sackte schwer zu Boden.

Plötzlich tauchten in der Wolke aus Rauch und Staub zwei weitere Gestalten auf und gingen auf Zedd los. Wiederum sagte ihm der Spürsinn seiner Gabe, daß sie eigentlich nicht vorhanden waren.

Zedd versuchte noch, den Fußboden mit weiteren Lichtblitzen zu zerwühlen und sie mit einem Hagel aus Gesteinstrümmern zu bombardieren, doch da hatten sie die Wand aus lodernder Energie bereits durchbrochen und warfen sich auf ihn. Er schlug hart auf den Rücken, die beiden Fremden unmittelbar über ihm. Sie packten seine Arme.

Wie von Sinnen versuchte Zedd noch, die Decke mit Hilfe einer Explosion zum Einsturz zu bringen. Er erzeugte einen Luftwirbel über den beiden, der den Flur – und sie gleich mit – in Stücke reißen sollte.

Unvermittelt drückte ihm eine kraftige, fleischige Hand einen schmutzigen weißen Lappen aufs Gesicht. Sein verzweifelter Versuch, nach Luft zu schnappen, endete damit, daß er einen alles überdeckenden Geruch in seine Lungen sog, gegen den sich seine Kehle mit letzter Kraft zu sperren versuchte, doch es war bereits zu spät.

Der Lappen, mit dem die klobige Hand sein Gesicht bedeckte, nahm ihm jede Sicht. Die Welt ringsum begann sich widerlich zu drehen, bis ihm übel wurde.

Er versuchte noch einmal dagegen anzukämpfen, doch dann umfing ihn sanfte, lautlose Dunkelheit, und er verlor das Bewußtsein.

Загрузка...