25

Richard fuhr herum. »Nicholas? Du hast gehört, wie er diesen Namen nannte?«

Owen blinzelte ihn überrascht an. »Ja. Ich bin mir ganz sicher.«

Kahlan spürte, wie ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit sie überkam, nicht unähnlich dem kalten, feuchten Nebel.

Mit einer ungeduldigen Handbewegung drängte Richard ihn fortzufahren.

»Na ja, als der Kommandant von ›denen‹ sprach, war ich nicht ganz sicher, ob sie damit Euch – also den Lord Rahl und die Mutter Konfessor – meinten, die zornige Erregung ihrer Stimmen jedenfalls schien darauf hinzudeuten. Ihre Stimmen erinnerten mich an meine erste Begegnung mit der Imperialen Ordnung, als dieser Luchan mich auf eine Weise anfeixte, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte – so als ob er mich verspeisen wollte.

Diese Information schien mir die beste Möglichkeit zu sein, Euch aufzuspüren, also machte ich mich unverzüglich auf den Weg.«

Mit dem leichten Wind setzte ein feiner Nieselregen ein, der an die Stelle des Morgennebels trat. Kahlan merkte, daß sie vor Kälte zitterte.

Richard deutete auf den unweit am Boden hockenden Soldaten, den Mann mit der Kerbe im rechten Ohr, und ließ einen Teil des in seinem Innern brodelnden Zorns heraus, um sich Luft zu machen.

»Dort sitzt der Kerl, an den Nicholas’ Befehle gerichtet waren. Er war der Anführer der Männer, die du an unserem vorherigen Lagerplatz gesehen hast. Hätten wir uns nicht zur Wehr gesetzt, hätten wir unsere tiefe Abneigung gegen jede Gewaltanwendung über die brutale Wirklichkeit gestellt, wären wir jetzt ebenso verloren wie Marilee.«

Owen starrte zu dem Mann hinüber. »Wie ist sein Name?«

»Ich weiß es nicht, und es interessiert mich auch nicht im Mindesten. Er hat für die Imperiale Ordnung gekämpft, für den Erhalt einer Ideologie, die jedes Menschenleben, sein eigenes eingeschlossen – in ihrem geistlosen Streben nach einem Ideal, das jede individuelle Existenz für wertlos hält –, für bedeutungslos, austauschbar und entbehrlich erklärt, eine Lehre, die verlangt, sich für andere aufzuopfern, bis man selbst ein Nichts ist.

Er kämpft für den Traum von der völligen Vernichtung jeglicher Individualität.

Nach den Vorstellungen der Imperialen Ordnung hattest du kein Recht, Marilee zu lieben; da jeder absolut gleich ist, wäre es deine Pflicht gewesen, den Menschen zu ehelichen, der deine Hilfe am meisten brauchte. Nur durch dieses selbstlose Opfer hättest du deinen Mitmenschen angemessen gedient. So sehr du dich auch bemühst, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen, Owen, ich denke, irgendwo jenseits deiner zigmal wiedergekäuten Lehren ist selbst dir klar, daß dies der größte Schrecken ist, den die Imperiale Ordnung verbreitet – nicht ihre Barbarei, sondern ihr Gedankengut. Deren Überzeugungen billigen diese Barbarei, deine hingegen fordern sie geradezu heraus.

Diesem Mann war sein Leben, seine individuelle Existenz gleichgültig, wieso sollte es mich dann scheren, wie er heißt? Ich habe ihm seinen größten Wunsch erfüllt: zu einem absoluten Nichts zu werden.«

Als Richard Kahlan im kalten Nieselregen frösteln sah, löste er seinen zornentbrannten Blick von Owen, ging ihren Umhang aus ihrem Rucksack im Wagen holen und breitete ihn so zärtlich und behutsam wie nur möglich um ihre Schultern. Seinem Gesichtsausdruck zufolge hatte er Owens Geschwätz bis an die Grenze der Erträglichkeit gelauscht.

Kahlan ergriff seine Hand und legte sie einen Moment an ihre Wange. Owens Geschichte hatte wenigstens ein Gutes.

»Das bedeutet, daß nicht etwa die Gabe im Begriff ist, dich zu töten, Richard«, raunte sie ihm mit vertraulicher Stimme zu. »Sondern das Gift.«

Sie war erleichtert, daß die Zeit noch nicht zu knapp war, um Hilfe für ihn zu holen, wie sie es noch auf der sich endlos hinziehenden Fahrt befürchtet hatte, als er bewußtlos im Wagen gelegen hatte.

»Die Kopfschmerzen hatte ich schon, bevor ich Owen zufällig begegnete, und sie halten unvermindert an. Und auch die Magie des Schwertes hatte schon vor meiner Vergiftung versagt.«

»Aber wenigstens läßt uns das jetzt mehr Zeit, eine Lösung für diese Probleme zu finden.«

Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Ich fürchte, unsere Schwierigkeiten sind eher noch gewachsen, und unsere Zeit ist knapper, als du denkst.«

»Eher noch gewachsen?«

Richard nickte. »Ist dir dieses Reich, aus dem Owen stammt, dieses Bandakar, ein Begriff? Weißt du überhaupt, was ›Bandakar‹ bedeutet?«

Kahlan blickte zu Owen, der in sich zusammengesunken ganz für sich allein auf seiner Kiste hockte. Sie schüttelte den Kopf, während ihr Blick wieder zu Richards grauen Augen zurückwanderte. Vor allem der unterdrückte Zorn in seiner Stimme war es, der sie beunruhigte.

»Nein, weiß ich nicht. Was denn?«

»Es ist ein Begriff aus dem Hoch-D’Haran und bedeutet: ›die Verdammten‹. Erinnerst du dich, was ich dir über das Buch Die Säulen der Schöpfung erzählt habe, und daß dort stand, man habe beschlossen, alle von der Gabe völlig Unbeleckten in die Alte Welt zu schicken – mit anderen Worten, sie zu verbannen? Erinnerst du dich noch, wie ich sagte, niemand wisse, was aus ihnen geworden sei? Nun, soeben haben wir es herausgefunden. Von nun an ist die Welt dem Volk aus dem Reich Bandakar schutzlos ausgeliefert.«

Kahlan runzelte nachdenklich die Stirn. »Wieso bist du so sicher, daß er ein Nachfahre dieser Leute ist?«

»Sieh ihn dir doch an. Er hat blondes Haar und gleicht auch sonst eher einem reinblütigen D’Haraner als den Menschen hier unten in der Alten Welt. Aber schwerwiegender ist, daß Magie bei ihm offensichtlich keine Wirkung hat.«

»Aber er könnte doch der Einzige sein, auf den das zutrifft.«

Richard beugte sich näher zu ihr. »In einer Gegend wie seiner Heimat, die Jahrtausende hermetisch von der Welt abgeriegelt war, hätte eine einzige Säule der Schöpfung genügt, um das Merkmal der völligen Unbeflecktheit von der Gabe bis heute in der gesamten Bevölkerung zu verbreiten.

Aber es war eben nicht nur einer; sie alle waren von der Gabe völlig unbeleckt. Aus diesem Grund hatte man sie schließlich in die Alte Welt verbannt – und als sie sich in der Alten Welt eine neue Existenz aufzubauen versuchten, wurden sie erneut zusammengetrieben und an diesen Ort jenseits der Berge verbannt – einen Ort, der, wie man ihnen erklärte, den Bandakaren, den Verbannten, vorbehalten war.«

»Und wie sind die Bewohner der Alten Welt ihnen auf die Schliche gekommen? Wie haben sie all die Menschen zusammengehalten, ohne daß ein Einziger überlebte, um das Merkmal der völligen Unbeflecktheit von der Gabe in der Bevölkerung zu verbreiten, und wie haben sie es geschafft, sie alle in dieser Gegend anzusiedeln?«

»Alles ausgezeichnete Fragen, die uns aber im Augenblick nicht weiterhelfen.« Richard dachte kurz nach.

»Owen«, rief er dann, »ich möchte dich bitten, dich nicht von der Stelle zu rühren, bis wir anderen einen einstimmigen Beschluss gefaßt haben, was jetzt zu tun ist.«

Konfrontiert mit einem Verfahren, das ihm vertraut war und das er respektieren konnte, hellte sich Owens Miene sogleich auf. Anders als Kahlan schien er Richards beißenden Unterton nicht bemerkt zu haben.

Richard deutete auf den Mann, den Kahlan berührt hatte. »Du da, setz dich zu ihm und sorg dafür, daß er nicht von deiner Seite weicht.«

Während der Angesprochene seiner Aufforderung beflissen nachkam, bedeutete Richard den anderen mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen. »Wir haben etwas zu besprechen.«

Friedrich, Tom, Jennsen, Cara und Kahlan folgten ihm. Während die anderen sich um ihn scharten, lehnte sich Richard mit verschränkten Armen gegen das Stabgitter des Wagens und nahm sich die Zeit, ausgiebig jedes einzelne der ihm entgegenblickenden Gesichter zu betrachten.

»Wir stecken in allergrößten Schwierigkeiten«, begann er schließlich, »und das nicht nur wegen des Giftes, das Owen mir verabreicht hat. Owen ist nicht mit der Gabe gesegnet; er ist genau wie du, Jennsen. Er ist immun gegen Magie.« Er sah Jennsen fest in die Augen. »Die übrigen aus seinem Volk sind ebenfalls wie er – und wie du.«

Jennsen klappte vor Verblüffung der Unterkiefer runter. Sie schien verwirrt, so als wäre sie außerstande, all dies in ihren Gedanken miteinander in Einklang zu bringen. Friedrich und Tom wirkten kaum weniger verstört, und Cara hatte eine düstere Miene aufgesetzt.

Schließlich meinte Jennsen: »Das kann doch gar nicht sein, Richard. Dafür sind es viel zu viele. Sie können unmöglich alle Halbbrüder und – Schwestern von uns beiden sein.«

»Das sind sie auch nicht. Sie alle gehören einem Volksstamm an, der auf das Geschlecht der Rahl zurückgeht – wie du auch. Mir fehlt im Augenblick die Zeit, es dir in allen Einzelheiten begreiflich zu machen; erinnerst du dich, wie ich dir erklärte, deine Kinder würden wie du sein und dieses Merkmal der völligen Unbeflecktheit von der Gabe an alle künftigen Generationen weitergeben? Nun, vor langer Zeit begab es sich, daß diese Menschen in D’Hara plötzlich überhand nahmen; die damalige Bevölkerung trieb diese nicht mit der Gabe Gesegneten zusammen und schob sie in die Alte Welt ab, worauf die hier unten lebenden Menschen sie hinter jenen Bergen dort wegsperrten. Der Name ihres Reiches, Bandakar, bedeutet ›die Verbannten‹.«

Jennsens große, blaue Augen füllten sich mit Tranen. Auch sie war einer dieser Menschen, Menschen, die so verhaßt waren, daß man sie von der übrigen Bevölkerung ihres Landes abgesondert und ins Exil geschickt hatte.

Kahlan legte ihr einen Arm um die Schultern. »Erinnerst du dich noch, wie du sagtest, du fühlst dich so allein in der Welt?«, versuchte sie Jennsen lächelnd aufzumuntern. »Jetzt brauchst du dich nicht mehr allein zu fühlen; es gibt noch andere wie dich.«

Unvermittelt hob Jennsen den Kopf und sah Richard an. »Das kann gar nicht sein. Man hatte eine Grenze errichtet, die sie an diesem Ort festhielt. Wären sie wie ich, hätte eine magische Grenze keinerlei Einfluß auf sie gehabt. Sie hätten das Land jederzeit verlassen können. In dieser unendlich langen Zeitspanne müßten doch wenigstens ein paar von ihnen in die Außenwelt gelangt sein – zumindest hätte die Magie der Grenze sie nicht daran hindern können.«

»Ich glaube, das stimmt nicht«, erwiderte Richard. »Erinnerst du dich noch an den seitwärts rieselnden Sand in dem Warnzeichen, das Sabar uns mitbrachte? Das war Magie, und trotzdem konntest du sie sehen. Erinnerst du dich an das Gebiet, das wir vor einer Weile passiert haben?«, fragte Richard. »Diese Gegend, wo so gut wie nichts wuchs?«

Jennsen nickte. »Ja, natürlich.«

»Nun, Sabar berichtete, er habe etwas nördlich von hier ein ganz ähnliches Gebiet passiert.«

»Stimmt«, warf Kahlan ein. »Es führte mitten hinein in die Wüste, zu den Säulen der Schöpfung – genau wie der Streifen, der uns aufgefallen ist. Die beiden dürften ungefähr parallel verlaufen.«

Richard vermerkte ihren aufkeimenden Verdacht mit einem Nicken. »Darüber hinaus endeten beide seitlich jenes Einschnitts, der nach Bandakar hineinführt. Sie lagen nicht sehr weit auseinander. Genau in diesem Gebiet befinden wir uns jetzt, in dem Geländestreifen zwischen diesen beiden Grenzen.«

Friedrich streckte den Kopf vor. »Aber Lord Rahl, das würde doch bedeuten, daß ein aus dem Reich Bandakar Verbannter nach Verlassen des Grenzgebiets zwischen den unsichtbaren Wänden dieser beiden Grenzen, die nur ein schmaler Landstreifen trennt, hier draußen gefangen wäre. Wohin sollte er sich denn wenden, wenn nicht...«

Friedrich schlug sich die Hand vor den Mund, drehte sich plötzlich nach Westen und richtete seinen Blick in die dunkle Abenddämmerung.

»Wenn nicht zu den Säulen der Schöpfung«, beendete Richard den Satz mit ruhiger Endgültigkeit.

»Aber ... aber«, stammelte Jennsen, »willst du damit etwa sagen, jemand hat es absichtlich so eingerichtet und die beiden Grenzen so angelegt, daß jeder der aus Bandakar verbannt wurde, zwangsläufig dort landete – bei den Säulen der Schöpfung? Aber warum?«

Richard sah ihr lange in die Augen. »Um ihn auf diese Weise zu töten.«

Jennsen schluckte trocken. »Du meinst, wer immer diese Leute in die Verbannung geschickt hatte, wollte, daß jeder umkommt, der wieder aus dem Exil vertrieben wurde?«

»So ist es«, sagte Richard.

Kahlan raffte ihren Umhang enger um ihren Körper. Nach der langen unerträglichen Hitze konnte sie kaum glauben, daß das Wetter plötzlich umgeschlagen war und nun eine empfindliche Kühle herrschte.

Richard strich sich eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn und fuhr fort: »Nach dem, was Adie mir damals erzählte, müssen Grenzen einen Durchgang besitzen, damit die Ausgewogenheit auf beiden Seiten gewahrt bleibt und das Leben auf beiden Seiten sich angleichen kann. Ich vermute, die Bewohner der Alten Welt wollten den Verbannten eine Möglichkeit geben, sich ihrer Verbrecher zu entledigen, und haben ihnen deshalb von der Existenz des Passes erzählt. Andererseits wollten sie verhindern, daß ausgerechnet diese Personen auf den Rest der Welt losgelassen wurden. Verbrecher oder nicht, sie waren nicht mit der Gabe Gesegnete, also durfte man ihnen nicht erlauben, frei herumzulaufen.«

Kahlan erkannte sofort das Problem, das diese Theorie beinhaltete. »Aber alle drei Grenzen müssen einen Durchgang gehabt haben«, sagte sie. »Selbst wenn die beiden anderen geheim waren, bestand nach wie vor die Möglichkeit, daß ein durch den Einschnitt in den Bergen geschickter Exilant einen davon entdeckte und nicht durch das Tal der Säulen der Schöpfung zu fliehen versuchte, wo er umgekommen wäre. Somit bestand die Möglichkeit, daß sie trotz allem in die Alte Welt entkamen.«

»Hätte es tatsächlich drei Grenzen gegeben, wäre das sicher möglich gewesen«, gab Richard ihr Recht. »Nur glaube ich, so war es nicht. Meiner Meinung nach gab es nur eine einzige.«

»Was Ihr da sagt, klingt einfach unlogisch«, beschwerte sich Cara. »Eben sagtet Ihr noch, eine Grenze sei von Norden nach Süden verlaufen und habe den Gebirgspass versperrt, außerdem gebe es jene beiden parallel verlaufenden Grenzen hier draußen in west-östlicher Richtung, die jeden, der das Reich verlassen hatte, durch die erste Grenze hindurch zu den Säulen der Schöpfung schleusen sollten, wo er schließlich umgekommen wäre.«

Kahlan konnte ihr nur beipflichten. Die Möglichkeit, daß jemand eine der beiden anderen überwinden und auf diese Weise entkommen konnte, schien tatsächlich gegeben.

»Ich glaube trotzdem nicht, daß es drei Grenzen gab«, wiederholte Richard. »Meiner Meinung nach gab es nur eine, aber die verlief nicht etwa entlang einer geraden Linie, sondern war in der Mitte gekrümmt.« Er hielt zwei Finger nebeneinander in die Höhe. »Das untere Ende der Krümmung führte über den Gebirgspass.« Er deutete auf das Häutchen zwischen seinen beiden Fingern. »Die beiden Schenkel erstreckten sich parallel in diese Richtung und endeten schließlich im Tal der Säulen.«

Jennsen konnte nur verwundert fragen: »Und wieso?«

»Die Durchdachtheit dieser Konstruktion scheint mir darauf hinzudeuten, daß diejenigen, die diese Leute weggesperrt hatten, ihnen eine Möglichkeit geben wollten, sich unliebsamer Elemente zu entledigen – möglicherweise in Kenntnis dessen, was sie über ihre Überzeugungen erfahren hatten, daß sie nämlich davor zurückscheuen würden, jemanden hinzurichten. Als diese Leute hierher, in die Alte Welt, verbannt wurden, huldigten sie im Kern möglicherweise schon den gleichen Überzeugungen wie heute – Überzeugungen, aufgrund derer sie allen schlechten Menschen schutzlos ausgeliefert waren. Wollten sie ihre Lebensweise bewahren, ohne die kriminellen Elemente hinzurichten, mußten sie diese Personen aus ihrer Gemeinschaft entfernen, wenn diese nicht von innen heraus zerstört werden sollte.

Die Verbannung aus D’Hara und der Neuen Welt muß für sie damals ein schwerer Schlag gewesen sein, weshalb sie, um überleben zu können, fest zusammenhielten und ein starkes Verbundenheitsgefühl entwickelten.

Offenbar haben die Menschen hier, in der Alten Welt, die sie damals hinter die Grenze sperrten, diese Angst vor Verfolgung dazu benutzt, ihnen einzureden, die Grenze diene vor allem ihrem Schutz – indem sie Außenstehende daran hinderte, ihnen Schaden zuzufügen. Das, in Verbindung mit ihrem ausgeprägten Bedürfnis nach Zusammenhalt, dürfte ihnen eine übergroße Angst, aus ihrer sicheren Umgebung vertrieben zu werden, eingeimpft haben. Mit Verbannung verbanden diese Menschen einen ganz besonderen Schrecken.

Von den übrigen Völkern der Welt wegen ihrer völligen Unbeflecktheit von der Gabe abgelehnt zu werden muß schmerzlich für sie gewesen sein, als Gemeinschaft aber fühlten sie sich hinter der Grenze sicher. Jetzt, da dieser Schutz aufgehoben ist, stehen wir vor gewaltigen Schwierigkeiten.«

Jennsen verschränkte die Arme. »Mit anderen Worten: Jetzt, da feststeht, daß wir mehr als nur einer – mehr als nur eine Schneeflocke – sind, befürchtest du, es könnte zu einem Schneesturm kommen?«

Richard warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. »Warum glaubst du, ist die Imperiale Ordnung in das Land eingefallen und hat einige der Bewohner verschleppt?«

Jennsen war um eine prompte Antwort nicht verlegen. »Offenbar ja wohl, um weitere Kinder wie sie heranzuzüchten und so dem Menschengeschlecht auf dem Weg der Zucht alle Magie auszutreiben.«

Richard überhörte die Erregung, die in ihrer Stimme mitgeklungen hatte. »Nein, ich meinte, warum könnten sie wohl auch Männer verschleppt haben?«

»Na, aus demselben Grund«, erwiderte Jennsen. »Damit sie sich mit normalen Frauen verbinden und nicht mit der Gabe gesegnete Kinder zeugen.«

Richard holte geduldig Luft und atmete langsam wieder aus. »Was hat Owen denn erzählt? Daß die Männer den Frauen zugeführt worden seien und man ihnen erklärt habe, diese Frauen würden, falls sie die Befehle nicht befolgten, bei lebendigem Leib gehäutet.«

Jennsen wurde unsicher. »Welche Befehle?«

Richard beugte sich zu ihr. »Genau, welche Befehle? Denkt mal darüber nach«, sagte er mit einem Rundblick in die kleine Gruppe. »Was könnten sie ihnen befohlen haben? Wieso hatten sie Bedarf an nicht mit der Gabe gesegneten Männern, und was könnten sie von diesen Männern gewollt haben?«

Erschrocken stieß Kahlan hervor: »Die Burg der Zauberer!«

»Genau.« Richard sah einem nach dem anderen mit seinem beunruhigenden Blick in die Augen. »Wie ich bereits sagte, wir stehen vor gewaltigen Schwierigkeiten. Die Burg der Zauberer wird derzeit von Zedd bewacht; dank seiner herausragenden Talente und der Magie dieses Ortes dürfte er keine Schwierigkeiten haben, Jagangs gesamte Armee allein abzuwehren.

Aber wie soll sich dieser klapperdürre alte Mann auch nur eines einzigen jungen, nicht mit der Gabe gesegneten Mannes erwehren, dem Magie nichts anhaben kann, wenn dieser sich auf ihn stürzt und ihn mit beiden Händen an der Kehle packt?«

Jennsen nahm ihre Hand vom Mund. »Du hast Recht, Richard. Jagang besitzt ebenfalls ein Exemplar dieses Buches Die Säulen der Schöpfung: er weiß, daß diesen Männern mit Magie nicht beizukommen ist, schließlich hat er sogar mich auf diese Weise einzuspannen versucht. Deswegen hat er sich auch solche Mühe gegeben, mich zu überzeugen, daß du mich töten wolltest – ich sollte denken, meine einzige Chance wäre, dich zuerst zu töten.«

»Überdies stammt Jagang aus der Alten Welt«, setzte Richard hinzu. »Aller Wahrscheinlichkeit nach wußte er also von dem Reich jenseits der Grenze. Nach allem, was wir wissen, könnte Bandakar in der Alten Welt zu einer Legende geworden sein, wohingegen die Menschen in der Neuen Welt, seit dreitausend Jahren jenseits der großen Grenze, vermutlich gar nicht wußten, was diesen Menschen widerfahren war.

Ich denke, all diese Befehle Jagangs beziehen sich auf einen Angriff auf die Burg der Zauberer und ihre Eroberung im Namen der Imperialen Ordnung.«

Kahlan drohten die Beine unter ihrem Körper nachzugeben. Mit dem Fall der Burg würden sie ihren einzigen echten Vorteil, so gering dieser sein mochte, verlieren. Befand sich die Burg erst in der Gewalt der Imperialen Ordnung, hätte Jagang Zugriff auf all die uralten und todbringenden magischen Objekte – nicht auszudenken, welche Kräfte er damit entfesseln mochte. Es gab in der Burg Dinge, die ihrer aller, auch Jagangs, Untergang bedeuten konnten. Mit dem Auslösen der Pestepidemie hatte er schon einmal bewiesen, daß er, um seinen Willen durchzusetzen, nicht davor zurückschreckte, unzählige Menschen zu töten und jede nur erdenkliche Waffe einzusetzen – selbst auf Kosten der Dezimierung seines eigenes Volkes.

Aber auch wenn Jagang die Burg der Zauberer nicht für seine Zwecke einspannte – die Tatsache, daß er sie in seiner Gewalt hatte, nahm dem d’Haranischen Reich die Möglichkeit, dort Hilfe zu finden. Darin bestand, neben der Bewachung der Burg, Zedds eigentliche Aufgabe – er sollte etwas finden, das ihnen half, den Krieg zu gewinnen, oder doch zumindest die Imperiale Ordnung hinter eine Art Barriere zu verbannen, die ihren Einflußbereich auf die Alte Welt begrenzte.

Ohne die Burg der Zauberer war ihre Sache höchstwahrscheinlich verloren und jeder Widerstand nur ein Aufschub des Unvermeidlichen. Ohne die Unterstützung der Burg würde jeder Widerstand gegen Jagang letztendlich gebrochen werden. Seine Truppen würden die Neue Welt unaufhaltsam bis in den hintersten Winkel überrennen.

Mit zitternden Fingern raffte Kahlan ihren Umhang zusammen. Sie wußte, was ihrem Volk drohte, was es hieß, wenn Truppen der Imperialen Ordnung mit ihrer überwältigenden Kampfkraft in ein Gebiet einfielen. Seit nahezu einem Jahr war sie bei der Armee und kämpfte gegen diese Horden, die sich nicht selten wie ein Rudel räudiger Hunde gebärdeten. Solange einem solche Tiere im Nacken saßen, war an Frieden nicht zu denken. Sie würden erst Ruhe geben, wenn sie einen in Stücke gerissen hatten.

Die Welt außerhalb der Imperialen Ordnung stand schon jetzt am Rand eines bedrohlichen, zerstörerischen Schattens, der von der Ankunft finsterer Zeiten kündete; bedeutete dies bereits den Vorabend des Endes aller Zeiten?

Eine solche Frage durfte Kahlan natürlich nicht offen aussprechen, sie konnte ihnen nicht erklären, was sie empfand, durfte sich ihre Verzweiflung nicht anmerken lassen.

»Richard, wir dürfen auf keinen Fall zulassen, daß die Imperiale Ordnung die Burg einnimmt.« Sie konnte selbst kaum glauben, wie gefaßt und entschlossen ihre Stimme in diesem Moment klang, und sie fragte sich, ob ihr überhaupt jemand abnahm, daß sie noch an eine Chance glaubte. »Wir müssen sie daran hindern.«

»Das sehe ich genauso«, sagte Richard; auch er klang fest entschlossen.

»Das Einfache zuerst«, begann er. »Wir müssen Nicci und Victor mitteilen, daß wir im Augenblick unabkömmlich sind. Victor muß wissen, daß wir mit seinen Plänen einverstanden sind – daß er weitermachen soll wie bisher und nicht auf uns warten darf. Er muß sofort losschlagen, und Priska muß wissen, daß er ihn dabei nach Kräften unterstützen muß.

Nicci muß über unser Ziel unterrichtet werden; außerdem muß sie erfahren, daß wir glauben, den Zweck des Warnzeichens herausgefunden zu haben. Des Weiteren müssen wir ihr unseren derzeitigen Aufenthaltsort mitteilen.«

Er erwähnte nicht, daß sie herkommen und ihm helfen mußte, sollte er es aufgrund seiner lebensbedrohlichen Probleme mit der Gabe nicht bis zu ihr schaffen.

»Ferner muß sie darüber unterrichtet werden«, fuhr er fort, »daß wir ihre Warnung betreffs der Bemühungen Jagangs, die Schwestern der Finsternis Menschen in Waffen verwandeln zu lassen, nur teilweise lesen konnten, weil ihr Brief bei dem Kampf im Lager ein Opfer der Flammen geworden ist.«

»Na ja«, meinte Kahlan, »angesichts der anderen Probleme, die wir haben, müssen wir uns mit diesem Problem wenigstens nicht sofort befassen.«

»Zumindest das spricht im Augenblick für uns«, pflichtete Richard ihr bei. Er deutete mit einer Handbewegung auf den Mann, der sie beobachtete und darauf wartete, daß Kahlan ihm endlich einen Befehl erteilte. »Wir werden ihn zu Victor und Nicci schicken, damit sie umfassend unterrichtet sind.«

»Und was dann?«, fragte Cara.

»Ich möchte, daß Kahlan ihm befiehlt, er soll, sobald dieser Teil seines Befehls ausgeführt ist, nach Norden gehen, dort die Armee der Imperialen Ordnung aufsuchen, sich als einen der ihren ausgeben, um auf diese Weise in die unmittelbare Umgebung Kaiser Jagangs zu gelangen, und ihn töten.«

Kahlan wußte, wie unwahrscheinlich das Gelingen eines solchen Planes war; nach den erstaunten Mienen der anderen zu urteilen, sahen sie dies ähnlich.

»Jagang ist von mehreren Ringen aus Leibwächtern umgeben, die ihn genau davor beschützen sollen«, gab Jennsen zu bedenken. »Er ist stets von besonders ausgebildeten Wachen umringt. Gewöhnliche Soldaten läßt man nicht einmal in seine Nähe.«

»Nun ja«, lenkte Richard ein. »Höchstwahrscheinlich wird er getötet, ehe er bis zu Jagang vordringen kann. Aber das unstillbare Verlangen, Kahlans Befehl auszuführen, wird ihn nicht ruhen lassen; er wird nur noch diesen einen Gedanken kennen. Ich gehe also davon aus, daß er nichts unversucht lassen wird. Das Wissen, daß jeder seiner Männer ein gedungener Meuchler sein könnte, soll Jagang kostbare Stunden seines Schlafes rauben. Ich will, daß ihn der Gedanke quält, niemals zu wissen, wer ihm nach dem Leben trachtet. Ich will, daß er keine Minute mehr ruhig schläft, daß er von Alpträumen heimgesucht wird, weil er nicht weiß, was ihn als Nächstes erwartet, und welcher seiner Männer nur auf eine günstige Gelegenheit lauert.«

Kahlan nickte zustimmend. Richard musterte die wild entschlossenen Mienen, die gespannt darauf warteten, daß er fortfuhr.

»Und nun das Wichtigste. Es ist von entscheidender Bedeutung, daß wir zur Burg der Zauberer gelangen und Zedd warnen. Jagang ist uns in allem stets einen Schritt voraus – er plant und handelt schon seit geraumer Zeit, ohne daß wir auch nur geahnt hätten, was er im Schilde führt. Wir wissen nicht einmal, wie bald diese nicht mit der Gabe gesegneten Männer in den Norden geschickt werden sollen. Mit anderen Worten, wir haben keine Zeit zu verlieren.«

»Lord Rahl«, erinnerte ihn Cara, »Ihr müßt zuvor, ehe es zu spät ist, noch das Gegengift beschaffen. Ihr könnt nicht einfach zur Burg der Zauberer aufbrechen ... Oh, nein, Augenblick mal – Ihr werdet mich nicht noch einmal in diese Burg schicken. Ich werde Euch in einer Zeit wie dieser, da Ihr nahezu hilflos seid, auf keinen Fall allein lassen. Das höre ich mir gar nicht erst an; ich gehe auf keinen Fall.«

Richard legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich habe nicht die Absicht, Euch dorthin zu schicken, Cara, trotzdem vielen Dank für Euer Angebot.«

Cara verschränkte trotzig die Arme und warf ihm einen zornigen Blick zu.

»Den Wagen können wir nach Bandakar nicht mitnehmen, es gibt keine Straße ...«

»Lord Rahl«, fiel Tom ihm ins Wort, »jetzt, da Eure Magie versagt, werdet ihr allen Stahl benötigen, den Ihr aufbieten könnt.« Er klang kaum weniger entschieden als zuvor Cara.

Richard lächelte. »Ich weiß, Tom, und ich bin ganz Eurer Meinung. Ich hatte eigentlich auch eher an Friedrich gedacht.« An diesen wandte er sich nun. »Ihr könnt den Wagen nehmen. Ein alleinreisender, älterer Mann wird weniger Aufmerksamkeit erregen als jeder andere von uns. Niemand wird sich von Euch bedroht fühlen. Mit dem Wagen, und ohne befürchten zu müssen, von der Imperialen Ordnung aufgegriffen und in die Armee gesteckt zu werden, werdet Ihr rasch vorankommen. Würdet Ihr das tun, Friedrich?«

Friedrich kratzte sich seine Bartstoppeln, schließlich ging ein Lächeln über sein wettergegerbtes Gesicht. »Schätze, so werde ich auf meine alten Tage doch noch zu einer Art Grenzposten berufen.«

Richard erwiderte sein Lächeln. »Die Grenze ist gefallen, Friedrich. Als Lord Rahl ernenne ich Euch hiermit zum Grenzposten und bitte Euch, umgehend vor jedweder Gefahr zu warnen, die aus dem Grenzgebiet droht.«

Friedrichs Lächeln erlosch, als er sich in militärischem Gruß und zum feierlichen Gelöbnis mit der Faust aufs Herz schlug.

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