Als Kahlan vor ihn hintrat, starrte er aus tränenüberströmten, flehenden Augen zu ihr hoch. Er hatte ja inzwischen eine ganze Weile allein und in Unkenntnis ihrer Wünsche ausharren müssen und befand sich demzufolge in einem Zustand fortgeschrittenen Elends.
»Du wirst uns begleiten«, befahl ihm Kahlan mit Eiseskälte in der Stimme. »Du wirst vor dem Wagen hergehen, wo wir dich im Auge behalten können. Du wirst die Anordnungen aller meiner Begleiter ebenso befolgen wie meine eigenen und sämtliche an dich gerichteten Fragen wahrheitsgemäß beantworten.«
Er warf sich unter Tränen bäuchlings auf den Boden, küßte ihr die Füße und bedankte sich überschwenglich, daß sie endlich über ihn gebot. Wie er so kriechend, mit der Kerbe im Ohr, vor ihr am Boden lag, erinnerte er sie an nichts so sehr wie an ein Schwein.
Die Hände zornig zu Fäusten geballt, fuhr Kahlan ihn an: »Schluß damit!«
Erschrocken über den zornigen Ton ihrer Stimme, ja geradezu entsetzt, daß sie mit ihm unzufrieden war ließ er augenblicklich von ihr ab und verharrte in unterwürfiger Haltung regungslos zu ihren Füßen, die Augen aus Angst, ihr Mißfallen zu erregen, weit aufgerissen.
»Du trägst keine Uniform«, sprach Richard ihn an. »Demnach seid ihr gar keine Soldaten?«
»Soldaten sind wir schon, aber keine regulären Truppen«, stammelte er aufgeregt, eifrig bemüht, die Frage zu beantworten und damit Kahlans Anordnungen Folge zu leisten. »Wir gehören zu einer Spezialeinheit der Imperialen Ordnung.«
»Einer Spezialeinheit? Und worin besteht eure spezielle Aufgabe?«
Unschlüssig sah er nervös hoch zu Kahlan, doch da sie ihm bereits zu verstehen gegeben hatte, daß er jeder Aufforderung nachzukommen hatte, fuhr er, sich ihrer Absicht endlich gewiß, hastig fort.
»Wir sind Angehörige einer Spezialeinheit innerhalb der Armee; unsere Aufgabe ist die Gefangennahme von Feinden der Imperialen Ordnung. Wir wurden einem Test unterzogen, um zu gewährleisten, daß wir für diese Aufgabe geeignet und ergeben genug sind, um die Missionen, auf die man uns schickt, zu erfüllen ...«
»Langsamer«, unterbrach ihn Richard. »Du redest zu schnell.«
»Wir tragen keine Uniformen, um unseren Verwendungszweck geheim zu halten«, fuhr er fort. »Normalerweise werden wir in Städten eingesetzt, wo wir Rädelsführer aufspüren. Wir mischen uns unter die Leute und tun so, als ob wir dazugehörten. Kommen wir einem Komplott auf die Spur, beteiligen wir uns daran, bis wir die Namen aller Beteiligten in Erfahrung gebracht haben. Dann nehmen wir die Betreffenden fest und überstellen sie, damit sie verhört werden können.«
Richard betrachtete den Mann lange, ohne sich die geringste Regung anmerken zu lassen. Er war selbst bereits der Imperialen Ordnung in die Hände gefallen und ›verhört‹ worden. Kahlan konnte nur ahnen, was in diesem Augenblick in ihm vorging.
»Überstellt ihr nur Personen, von denen ihr wißt, daß sie an einem Komplott beteiligt sind?«, fragte Richard, »oder liefert ihr jeden aus, der in den vagen Verdacht gerät, sowie dessen gesamten Bekanntenkreis?«
»Wenn wir jemanden des Komplotts verdächtigen – also wenn die betreffenden Personen unter sich bleiben, nur im eigenen Umfeld verkehren und ihren Mitbürgern nicht bereitwillig Auskunft über ihren Alltag geben –, dann überstellen wir sie zum Verhör, damit festgestellt werden kann, was sie verheimlichen.« Er benetzte seine Lippen und schien es gar nicht erwarten zu können, ihnen seine Methoden bis in alle Einzelheiten zu schildern. »Wir sprechen mit ihren Arbeitskollegen und Nachbarn, um so an die Namen aller ihrer Freunde sowie sonstiger Personen zu gelangen, mit denen sie Umgang haben – und natürlich auch mit allen Familienangehörigen. Für gewöhnlich nehmen wir auch einige Personen aus diesem Kreis fest und überstellen sie ebenfalls zum Verhör. Werden diese Personen dann befragt, gestehen sie ihre Verbrechen gegenüber der Imperialen Ordnung gewöhnlich sofort, womit der Beweis als erbracht gilt, daß unser Anfangsverdacht begründet war.«
Einen Moment lang glaubte Kahlan, Richard würde sein Schwert ziehen und den Mann auf der Stelle enthaupten, schließlich wußte er aus eigener Erfahrung, was mit Menschen geschah, die auf diese Weise eingeliefert wurden, und in welch ausweglose Lage sie dadurch gerieten.
In den meisten Fällen lieferten die unter Folter erzielten Geständnisse die Namen aller, die sich aus irgendeinem Grund verdächtig gemacht hatten, weswegen der Beruf des Folterers zu einem überaus arbeitsreichen Gewerbe geworden war. Die Bewohner der Alten Welt lebten in ständiger Angst an einen der zahlreichen Orte verschleppt zu werden, wo Menschen Verhören unterzogen wurden.
Nur in den seltensten Fällen hatten sich die Verschleppten tatsächlich eines Komplotts gegen die Imperiale Ordnung schuldig gemacht; die meisten waren viel zu sehr damit beschäftigt, ihren kargen Lebensunterhalt zu verdienen und ihre Familien durchzubringen, als daß ihnen Zeit geblieben wäre für ein Komplott zum Sturz der Imperialen Ordnung. Gleichwohl wurde allerorten über die Verbesserung der Lebensumstände diskutiert.
Andere hingegen träumten nicht von einem besseren Leben; ihr höchstes Ziel war es, der Imperialen Ordnung die Namen derer zu verraten, die schlecht über sie sprachen, die Lebensmittel oder gar kleine Geldbeträge horteten, und die auf ein besseres Leben hofften. Das verbreitete Denunzieren ›unzuverlässiger Mitbürger‹ wiederum verhinderte, daß jemand mit dem Finger auf diese Informanten zeigte. So wurde das Denunziantentum schließlich zum Maßstab der Frömmigkeit.
Richard unterließ es, sein Schwert zu ziehen, und wechselte statt dessen das Thema. »Wie viele wart ihr heute Abend?«
»Mich eingeschlossen achtundzwanzig«, antwortete der Mann ohne das geringste Zögern.
»Seid ihr während des Überfalls alle in einer Gruppe zusammengeblieben?«
Er nickte, eilfertig darauf bedacht, ihren Plan bis ins Detail zu verraten und damit Kahlans Gunst zu erlangen. »Wir wollten sichergehen, daß Ihr und ... und ...« Sein Blick schweifte zu Kahlan, als er sich der Unvereinbarkeit seiner beiden Absichten bewußt wurde: ein vollständiges Geständnis abzulegen und die Mutter Konfessor zufrieden zu stellen.
Er brach in Tränen aus und flehte sie händeringend an. »Vergebt mir, Herrin!«
War seine Stimme der Inbegriff emotionaler Aufgewühltheit, so war die ihre das genaue Gegenteil. »Beantworte die Frage!«
Er stellte sein hemmungsloses Geschluchze ein, um zu sprechen, wie man es ihm befohlen hatte, doch noch immer liefen ihm die Tränen in Strömen über das Gesicht. »Wir blieben zusammen, um unsere Kräfte zu bündeln und dadurch sicherzustellen, den Lord Rahl und, und ... Euch, Mutter Konfessor, gefangen nehmen zu können. Wir teilen uns nur bei der Festnahme größerer Gruppen auf; die eine Hälfte bleibt dann zunächst noch im Hintergrund, um etwaige Fluchtversuche zu unterbinden. Aber da ich Euch beide festnehmen wollte und es hieß, Ihr wärt zusammen, habe ich meinen Leuten erklärt, daß wir nur so eine Chance hätten. Ich wollte auf jeden Fall verhindern, daß Ihr Euch einer Festnahme widersetzen könnt, und befahl, mit allen zur Verfügung stehenden Männern anzugreifen. Einige sollten zuvor noch den Reittieren die Kehle durchschneiden, um jeden Fluchtversuch von vornherein zu vereiteln.«
Seine Miene hellte auf. »Ich hätte nie gedacht, daß wir scheitern könnten.«
»Wer hat euch geschickt?«, fragte Kahlan.
Er rutschte auf den Knien nach vorn, streckte eine Hand vor und versuchte zaghaft, ihr Bein zu berühren. Kahlan verharrte vollkommen regungslos, doch ihr frostiger Blick zeigte ihm unmißverständlich, daß jede Berührung ihr äußerstes Mißfallen erregen würde. Die Hand zuckte zurück.
»Nicholas«, gestand er schließlich.
Kahlan runzelte erstaunt die Stirn. Sie hatte erwartet, er würde Jagang als Auftraggeber nennen.
Sie mußte mit der Möglichkeit rechnen, daß der Traumwandler sie durch die Augen dieses Mannes beobachtete; es wäre nicht das erste Mal, daß Jagang Meuchler entsandt hätte, nachdem er in ihren Verstand eingedrungen war. Eine Person, deren Verstand er kontrollierte, unterlag seiner Willkür und Beeinflussung; nicht einmal Cara hatte dann noch Gewalt über sie – und Kahlan ebenso wenig.
»Du lügst. Jagang hat dich geschickt.«
Er verfiel augenblicklich in erbärmliches Jammern. »Aber nein, Herrin! Ich hatte noch nie etwas mit Seiner Exzellenz zu tun! Die Armee ist riesig und über das ganze Land verteilt. Meine Befehle erhalte ich von den Offizieren meiner Unterabteilung. Ich bezweifele, daß die, von denen sie ihre Befehle entgegennehmen, oder deren Vorgesetzte, oder auch nur deren übergeordnete Kommandanten, der Aufmerksamkeit Seiner Exzellenz würdig sind. Seine Exzellenz weilt derzeit hoch oben im Norden, um den gesetzlosen Barbaren dort die Heilsbotschaft des Ordens zu bringen; vermutlich weiß er nicht einmal von unserer Existenz.
Wir gehören lediglich einer bescheidenen Truppe von Soldaten an, die über das nötige Durchsetzungsvermögen verfügt, um von der Imperialen Ordnung gesuchte Personen aufzugreifen – damit sie entweder verhört oder zum Schweigen gebracht werden können. Wir stammen ausnahmslos aus diesem Teil des Reiches und wurden für diese Arbeit rekrutiert, weil wir hier leben. Ich bin der Aufmerksamkeit Seiner Exzellenz gewiß nicht würdig.«
»Aber Jagang hat dich – deinen Verstand – in deinen Träumen heimgesucht.«
»Herrin?« Er schien bestürzt weil er nachfragen mußte, statt ihre Frage augenblicklich zu beantworten. »Ich verstehe nicht.«
Kahlan maß ihn mit durchdringendem Blick. »Jagang ist in deinen Verstand eingedrungen. Er hat zu dir gesprochen.«
Er wirkte ehrlich verwirrt, als er den Kopf schüttelte. »Nein, Herrin. Ich bin Seiner Exzellenz nie begegnet. Er ist mir auch noch nie im Traum erschienen – ich weiß überhaupt nichts über ihn, außer, daß Altur’Rang die Ehre hat, seine Heimatstadt zu sein.
Möchtet Ihr, daß ich ihn für Euch töte, Herrin? Bitte, wenn dies Euer Wunsch ist, so erlaubt mir, ihn zu töten.«
Er konnte unmöglich wissen, wie absurd dieser Gedanke war; in seinem unbändigen Verlangen, sie zufrieden zu stellen, wäre er jedoch überglücklich gewesen, es auf ihren Befehl hin zu versuchen. Während Richard ihn im Auge behielt, kehrte Kahlan ihm den Rücken zu und beugte sich leise flüsternd vor, damit der Kerl nicht mithören konnte. »Ich weiß nicht, ob die vom Traumwandler Heimgesuchten sich seiner Anwesenheit stets bewußt sein müssen, aber ich vermute es. Bislang traf dies auf alle zu, denen ich begegnet bin.«
»Könnte er sich nicht unbemerkt in den Verstand eines Menschen einschleichen, nur um uns zu beobachten?«
»Möglich wäre es vermutlich schon«, antwortete sie. »Aber überleg doch, wie viele Millionen von Menschen in der Alten Welt leben – woher will er wissen, in welchen Verstand er sich einschleichen muß, um eine bestimmte Person zu beobachten? Traumwandler oder nicht – er ist nur ein einzelner Mann.«
»Besitzt du die Gabe?«, wandte sich Richard wieder an den Schergen.
»Nein.«
Richard raunte ihr mit leiser Stimme ins Ohr: »Nun, von Nicci weiß ich, daß Jagang sich nur selten mit den nicht mit der Gabe Gesegneten abgibt – angeblich, weil er Schwierigkeiten hat, in ihren Verstand einzudringen. Also bedient er sich einfach der mit der Gabe Gesegneten in seiner Gewalt und benutzt sie, um die nicht mit der Gabe Gesegneten zu kontrollieren. Schließlich muß er sich bereits um all die Schwestern in seiner Gefangenschaft kümmern. Er muß sie fortwährend kontrollieren und ihnen vorschreiben, was sie zu tun haben; unter anderem – wie wir in Niccis Brief ansatzweise lesen konnten –, um sie dazu zu bringen, Menschen in Waffen zu verwandeln. Außerdem ist er der Oberbefehlshaber der Streitkräfte und in dieser Funktion verantwortlich für deren Strategie. Mit anderen Worten, er hat alle Hände voll zu tun, weshalb er sich gewöhnlich auf den Verstand der mit der Gabe Gesegneten beschränkt.«
»Aber eben nicht ausschließlich. Wenn er muß oder ihm auch nur danach zumute ist, kann er durchaus in den Verstand eines nicht mit der Gabe Gesegneten eindringen. Wenn wir klug wären«, schloß Kahlan leise, »würden wir diesen Burschen auf der Stelle töten.«
Richard hatte den Mann, während sie miteinander sprachen, keinen Moment aus den Augen gelassen. Sie wußte, er würde nicht zögern, ihr beizupflichten, wäre er nicht überzeugt, der Kerl könnte ihnen noch von Nutzen sein.
»Ich brauche es nur zu befehlen«, erinnerte sie ihn, »und er fällt auf der Stelle tot um.«
Er sah ihr einen Moment lang in die Augen, ehe er sich wieder dem Mann zuwandte und stirnrunzelnd nachhakte: »Du hast gesagt, ein Mann namens Nicholas hätte dich geschickt. Wer ist dieser Nicholas?«
»Nicholas ist ein furchterregender Zauberer in Diensten der Imperialen Ordnung.«
»Du bist ihm also begegnet. Hat er dir diesen Befehl erteilt?«
»Nein. Für einen Mann seines Ranges sind wir zu unbedeutend, um sich mit uns abzugeben. Er hat uns den Befehl über einen Mittelsmann zukommen lassen.«
»Woher wußtest du, wo wir zu finden sind?«
»Der Befehl bezog sich auf das ungefähre Gebiet. Es hieß darin, wir sollten nach Euch Ausschau halten, sobald Ihr am Ostrand des Wüstengebiets nach Norden abgeschwenkt wart, und Euch bei Sichtung sofort gefangen nehmen.«
»Und woher kannte dieser Nicholas unseren Aufenthaltsort?«
Er blinzelte, so als müßte er in seinem Gehirn erst nach der Antwort suchen. »Ich weiß es nicht, das wurde uns nicht mitgeteilt. Wir bekamen nur Order das Gebiet zu durchkämmen und Euch im Falle der Entdeckung beide zu überstellen – und zwar lebend. Der Kommandant, der den Befehl an uns weitergab, schärfte mir noch ein, wir müßten auf jeden Fall erfolgreich sein, da der Schleifer sonst sehr ungehalten wäre.«
»Wer wäre ungehalten? ... der Schleifer?«
»Nicholas, der Schleifer – so lautet sein Name. Manche nennen ihn einfach nur ›den Schleifer‹.«
Kahlan wandte sich mit fragender Miene zu ihm herum. »Den was?«
Der Anblick ihrer gerunzelten Stirn ließ ihn erneut erzittern. »Den Schleifer, Herrin.«
»Was soll das bedeuten, der Schleifer?«
Er fing erneut an zu wimmern und faltete die Hände, um sie verzweifelt um Vergebung anzuflehen. »Ich weiß es nicht, Herrin. Wirklich nicht. Ihr habt gefragt, wer mich geschickt hat, und das ist eben sein Name: Nicholas. Manche nennen ihn den ›Schleifer‹.«
»Wo befindet er sich zurzeit?«, fragte Richard.
»Das weiß ich nicht«, brachte er unter Tränen hervor. »Ich erhielt meine Befehle von meinem Vorgesetzten, der mir erklärte, die Befehle habe ein Ordensbruder wiederum seinem Kommandanten überbracht.«
Richard holte tief Luft und fuhr sich mit der Hand über den Nacken. »Was weißt du sonst noch über diesen Nicholas – außer daß er ein Zauberer ist und ›der Schleifer‹ genannt wird?«
»Nichts, außer, daß selbst mein Kommandant ihn fürchtet.«
»Wieso das? Was geschieht, wenn man sein Mißfallen erregt?«, warf Kahlan ein.
»Wer sein Mißfallen erregt, wird von ihm persönlich gepfählt.«
Angesichts des Gestanks von Blut und verbranntem Fleisch, gepaart mit den unsäglichen Dingen, die sie gezwungen war, sich anzuhören, hatte Kahlan größte Mühe zu verhindern, daß sie sich übergab. Sie wußte nicht, wie lange ihr Magen noch standhalten würde, wenn sie noch länger an diesem Ort verweilten, um sich die Geschichten anzuhören, die dieser Kerl ihnen auftischte.
Sachte faßte sie Richards Unterarm. »Bitte, Richard«, bat sie ihn leise, »das bringt uns doch nicht weiter. Laß uns diesen Ort endlich verlassen, bitte. Wir können das Verhör doch später fortsetzen.«
»Du wirst vor dem Wagen herlaufen«, entschied Richard augenblicklich. »Ich möchte nicht, daß sie gezwungen ist, dir in die Augen zu sehen.«
Der Mann entfernte sich sofort unter heftigem Nicken.
»Ich glaube eigentlich nicht, daß Jagang in seinem Verstand steckt«, sagte Kahlan, »aber was ist, wenn ich mich irre?«
»Ich denke, wir sollten ihn erst einmal am Leben lassen. Vor dem Wagen hat Tom ihn sicher im Blick. Und falls wir uns getäuscht haben sollten, nun, Tom ist mit seinem Messer ziemlich flink.« Richard stieß einen verhaltenen Seufzer aus. »Aber ein wichtiger Punkt hat sich bereits geklärt.«
»Der wäre?«
Er legte ihr die Hand ins Kreuz und schob sie vor sich her. »Brechen wir erst einmal auf dann erzähle ich es dir.«
Kahlan sah den Wagen ein Stück entfernt in der Dunkelheit warten. Tom folgte dem Gefangenen mit dem Blick, als er sich vor die großen, kräftigen Zugpferde begab und dort wartend stehen blieb. Jennsen und Cara hatten es sich auf der Ladefläche bequem gemacht, und Friedrich saß neben Tom oben auf dem Bock.
»Wie viele sind es?«, rief Richard Cara zu, als sie sich dem Wagen näherten.
»Achtundzwanzig, mit den vier oben in den Hügeln, die Torn erledigt hat, sowie dem einen hier.«
»Dann haben wir sie also alle erwischt«, stellte Richard erleichtert fest.
Kahlan spürte, wie seine Hand von ihrem Rücken glitt und sah ihn wankend stehen bleiben. Sie wußte nicht weshalb er nicht weiterging, und hielt ebenfalls an. Richard sank auf ein Knie hinunter. Sofort war Kahlan bei ihm, ging in die Hocke und legte ihm einen Arm um die Schultern, um ihn zu stützen. Die Augen vor Schmerzen fest geschlossen, eine Hand auf den Unterleib gepresst krümmte er sich gequält.
Cara setzte sofort über die Seitenwand des Wagens hinweg und lief zu ihnen hinüber.
Trotz ihrer ungeheuren Erschöpfung war Kahlan mit einem Schlag hellwach. »Wir müssen augenblicklich zu den Sliph«, befand sie, gleichermaßen an Cara wie an Richard gewandt. »Wir müssen unbedingt zu Zedd. Wir brauchen dringend eine Erklärung – und Hilfe. Zedd wird uns gewiß helfen können.«
Das Atmen bereitete Richard mittlerweile große Mühe, bis er schließlich überhaupt kein Wort mehr hervorbrachte, weil ein Schmerzanfall ihn zwang, die Luft anzuhalten. Kahlan wußte weder aus noch ein und fühlte sich vollkommen hilflos.
»Lord Rahl«, redete die vor ihm kniende Cara auf ihn ein, »Ihr habt gelernt, den Schmerz zu beherrschen. Genau das müßt Ihr jetzt tun.« Mit ihrer Hand griff sie in sein Haar und bog seinen Kopf in den Nacken, damit sie ihm in die Augen sehen konnte. »Denkt nach«, fuhr sie ihn an. »Versucht Euch zu erinnern. Weist den Schmerz in seine Schranken. So macht schon!«
Richard klammerte sich mit beiden Händen an ihren Unterarm, als wollte er ihr für ihre Worte danken. »Geht nicht«, brachte er schließlich unter großen Mühen an Kahlan gewandt hervor. »Wir können nicht durch die Sliph reisen.«
»Aber wir müssen«, beharrte sie. »Es ist der schnellste Weg.«
»Und was ist, wenn ich in die Sliph hinabsteige, das Quecksilber in meine Lungen atme – und meine Magie versagt?«
Kahlan war der Verzweiflung nahe. »Aber wir müssen durch die Sliph reisen, wenn wir ... schnell zu Nicci gelangen wollen.« Das Wörtchen »rechtzeitig« hatte sie bewußt vermieden.
»Und wenn irgend etwas schief geht, sterbe ich.« Keuchend versuchte er trotz der ungeheuren Schmerzen wieder zu Atem zu kommen. »Ohne Magie bedeutet es den Tod, wenn man die Sliph einatmet. Das Schwert versagt mir bereits seinen Dienst.« Er würgte, hustete, schnappte keuchend nach Luft. »Wenn meine Gabe die Ursache der Kopfschmerzen ist und sie auch das Versagen meiner Magie bewirkt, bin ich nach dem ersten Atemzug in der Sliph tot. Und die Möglichkeit, es vorher auszuprobieren, gibt es nicht.«
Eine eiskalte Woge von Angst schoß durch ihre Adern. Ein Besuch bei Zedd war Richards letzte Hoffnung. Ohne seine Hilfe waren die durch die Gabe verursachten Kopfschmerzen sein sicherer Tod.
Sie glaubte allerdings, den Grund für das Versagen der Magie des Schwertes zu kennen – an den Kopfschmerzen lag es jedenfalls nicht. Sie befürchtete, daß es dieselbe Ursache hatte, die auch für den Bruch des Siegels verantwortlich war. Das Warnzeichen war ein unmißverständlicher Hinweis darauf, daß sie die eigentliche Ursache war. In diesem Fall hatte sie auch noch so manches andere zu verantworten.
Wenn sie tatsächlich Recht hatte, wurde ihr schlagartig bewußt, dann stimmte auch, was Richard über die Sliph gesagt hatte: Eine Reise durch sie wäre sein sicherer Tod.
»Richard Rahl, statt meine besten Einfälle als undurchführbar abzulehnen, solltest du besser selbst den einen oder anderen Vorschlag machen.«
Mittlerweile wand er sich keuchend unter einer heftigen Schmerzattacke. Plötzlich sah Kahlan, daß er beim Husten Blut spuckte.
»Richard!«
Tom kam herbeigeeilt, einen bestürzten Ausdruck im Gesicht. Als er das Blut an Richards Kinn herunterrinnen sah, wurde er leichenblaß.
»Helft ihm auf den Wagen«, ordnete Kahlan an, um einen beherrschten Tonfall bemüht.
Cara legte seinen Arm über ihre Schulter. Tom schob ihm einen Arm um die Hüfte und half den beiden Frauen, ihn auf die Beine zu ziehen.
»Nicci«, stieß Richard hervor.
»Was?«
»Du wolltest doch wissen, ob ich eine Idee habe. Nicci.« Er stöhnte vor Schmerzen und hatte sichtlich Mühe, Luft zu holen. Als er hustete, erbrach er einen ganzen Schwall von Blut, das ihm in langen Fäden vom Kinn herabtroff.
Nicci war Hexenmeisterin und kein Zauberer, doch was Richard brauchte, war ein Zauberer. Selbst wenn sie gezwungen waren, den Landweg zu nehmen, konnten sie es bis zu ihr schaffen – vorausgesetzt, sie beeilten sich. »Aber Zedd könnte doch viel eher ...«
»Bis zu Zedd ist es zu weit«, stöhnte er. »Wir müssen zu Nicci. Sie weiß sich beider Seiten der Gabe zu bedienen.«
Das hatte Kahlan nicht bedacht. Womöglich konnte sie ihnen tatsächlich helfen.
Kahlan sah hoch zu Tom, der – nachdem sie Richard mit vereinten Kräften auf den Wagen gebettet hatten – bereits auf dem Bock saß. »Fahren wir und suchen uns einen Lagerplatz für die Nacht.«
Tom nickte und löste die Handbremse. Auf seine Aufforderung stemmten sich die Pferde mit ihrem ganzen Gewicht in die Kummete, und der Wagen setzte sich mit einem Ruck in Bewegung.
Betty hatte es sich leise meckernd neben dem zeitweilig bewußtlosen Richard bequem gemacht und ihren Kopf auf seine Schulter gelegt. Jennsen strich ihrer Ziege über den Kopf.
Kahlan sah, daß ihr Tränen über die Wangen liefen. »Tut mir leid, wegen Rusty.«
Betty hob den Kopf und gab ein klägliches Meckern von sich.
Jennsen nickte bloß. »Richard wird es schaffen«, sagte sie mit tränenerfüllter Stimme und ergriff Kahlans Hand. »Ich weiß es, ganz bestimmt.«