31

Richard stand am Rand eines schmalen Felsbandes und blickte hinunter auf die zerrissenen grauen Wolkenfetzen unter ihm. Hier draußen, unter freiem Himmel, trug die kühle, feuchte Luft, die seinen Körper umspülte, den Duft von Balsamtannen, Moos, von feuchtem Laub und satter fetter Erde heran. Er sog die wohlriechenden heimatlichen Erinnerungsdüfte tief in seine Lungen. Das Gestein, größtenteils rissiger und zu leicht gewölbten Blöcken verwitterter Granit, ähnelte sehr dem in seiner Heimat, den Wäldern Kernlands. Die Berge selbst waren hier jedoch beträchtlich höher. Unmittelbar hinter seinem Rücken erhob sich ein schwindelerregender Hang.

Westlich vor ihm, jedoch deutlich tiefer, erstreckte sich ein schier endloses Gebiet aus zerklüftetem Boden und geschwungenen, unter einem Teppich aus dichten Wäldern verborgenen Hügeln. Da er wußte, wonach er Ausschau halten mußte, konnte er sowohl rechts wie links gerade ebenjenen Geländestreifen ohne jeden Baumbewuchs ausmachen, wo einst die Grenze verlaufen war. Weiter westlich erhoben sich die niedrigeren Berge, die, größtenteils kahl, an das Wüstengebiet grenzten. Das Wüstengebiet selbst sowie der Ort mit Namen »Säulen der Schöpfung« waren von hier aus nicht mehr zu erkennen. Er war froh, daß es endlich weit hinter ihm lag.

Am Himmel waren keine schwarz gezeichneten Riesenkrähen zu sehen – zumindest im Augenblick nicht. Die riesigen Vögel wußten höchstwahrscheinlich, daß Richard, Kahlan, Cara, Jennsen, Tom und Owen in westlicher Richtung weitergezogen waren.

Wenn dieser Nicholas sie tatsächlich mit den Augen der fünf Riesenkrähen beobachtet hatte, dann wußte er auch, daß sie in westlicher Richtung weitergezogen waren. Nur konnte er jetzt da sie seinen Blicken entzogen waren, nicht einfach davon ausgehen, daß sie dieselbe Richtung beibehalten würden. Falls es Richard gelang, dort abzutauchen, wo die Vögel nach ihm suchten, und nicht an der vermuteten Stelle wieder aufzutauchen, würde ihm das gewiß zu denken geben. Möglicherweise dämmerte ihm dann allmählich, daß sie die Richtung gewechselt und diesen Moment vorübergehender Verwirrung zur Flucht genutzt hatten.

Obschon es keineswegs sicher war, daß dieser Nicholas sich auf diese Weise hinters Licht führen ließe, war Richard fest entschlossen, es zu versuchen.

Richard suchte den dicht bewaldeten Anstieg mit den Augen ab, um sich die geographischen Gegebenheiten einzuprägen, bevor er sich wieder zurück unter das dichte Laubdach begab, wo die anderen warteten. Die Wolkenfetzen unterhalb von ihm waren nichts anderes als die zerrissenen Ableger der aufgewühlten, dunklen Wolkendecke über ihnen. Die Bergflanke verschwand in steilem Winkel unter dieser regennassen, geschlossenen Bewölkung.

Noch einmal ließ Richard den Blick prüfend über das Felsgestein, den Hang und die Bäume schweifen, bis er gefunden hatte, was er suchte. Er betrachtete den steilen Hang ein letztes Mal, ehe er auch den Himmel mit den Augen absuchte, um sich zu vergewissern, daß die Luft rein war. Da er weder Riesenkrähen noch sonst irgendwelche Vögel sah, machte er sich auf den Rückweg zu der Stelle, wo die anderen warteten. Daß er diese Tiere nicht sah, bedeutete natürlich nicht, daß sie ihn nicht beobachteten; sie konnten, ohne daß er sie dort vermutlich überhaupt bemerkte, zu Dutzenden in den Bäumen hocken. Aber da er sich im Augenblick noch dort befand, wo sie ihn vermuteten, bereitete ihm das keine allzu große Sorge.

Denn in Kürze würde er etwas für sie völlig Unerwartetes tun.

Er kletterte über die rutschige Böschung aus Moos, Laub und nassen Wurzeln wieder nach oben. Die einzige Chance, im Falle eines Ausrutschers einen mehrere tausend Fuß tiefen Absturz ins blanke Nichts zu verhindern, bestand darin, sich an dem schmalen Felsvorsprung festzuhalten, auf dem er eben noch gestanden hatte. Der Gedanke an einen Absturz ließ ihn die Wurzeln fester packen, bewog ihn, jede Kerbe im Fels, in die er seinen Stiefel setzte, noch sorgfältiger zu prüfen, ehe er ihr sein Gewicht anvertraute.

Als er den Oberrand der steilen Böschung erreicht hatte, tauchte er unter den überhängenden Zweigen des knorrigen Gebirgsahorns hindurch – das Unterholz jener Laubbäume, die sich Seite an Seite mit den hoch aufragenden Föhren über den Klippenrand lehnten, um das Sonnenlicht einzufangen.

Unter den niedrig hängenden Föhrenzweigen folgte Richard gebückt seiner eigenen Spur zurück durch die Blaubeerdickichte in den lichteren Teil des stillen Waldes; der Wind hatte die Fichtennadeln zu ausgedehnten weichen Matten verflochten, die seine Schritte dämpften.

Kahlan hörte ihn dennoch nahen und erhob sich. Sie war kaum auf den Beinen, als auch die anderen ihn bemerkten und ebenfalls aufstanden.

»Habt Ihr irgendwo Riesenkrähen gesehen, Lord Rahl?«, erkundigte sich Owen, sichtlich nervös wegen der Raubvögel.

»Nein«, antwortete ihm Richard, während er seinen Rucksack vom Boden aufnahm, ihn über die Schulter warf, seinen anderen Arm durch den zweiten Tragegurt schob und den Rucksack auf seinen Rücken zog. »Was aber nicht heißt, daß sie mich nicht gesehen haben.«

Er streifte seinen Bogen, zusammen mit einem Wasserschlauch, über seine linke Schulter.

»Na ja«, meinte Owen, »jedenfalls besteht noch eine gewisse Hoffnung, daß sie unseren Aufenthaltsort nicht kennen.«

Richard hielt in seiner Bewegung inne und warf ihm einen Blick zu. »Hoffnung ist keine Strategie.«

Während die übrigen darangingen, nach der kurzen Verschnaufpause ihre Sachen zusammenzusammeln, Ausrüstungsgegenstände in ihre Gürtel zu haken und Rucksäcke zu schultern, nahm Richard Cara beim Arm und zog sie aus dem schützenden Dickicht aus kleinen Bäumen heraus.

»Könnt Ihr den Hang dort drüben erkennen?«, fragte er und zog sie zu sich heran, damit sie sehen konnte, wohin er zeigte. »Mit dem Streifen offenen Geländes unmittelbar vor der jungen Eiche mit dem abgebrochenen, herabhängenden Ast?«

Cara nickte. »Kurz hinter dem Geländeanstieg, wo der kleine Wasserlauf über den glatten, grünlich verfärbten Fels rinnt?«

»Genau die Stelle meine ich. Ich möchte, daß Ihr diesem Streifen hangaufwärts folgt, Euch dann rechts haltet und durch den Spalt nach oben klettert – dort neben dem Riß im Gestein – und feststellt, ob ihr einen Pfad auskundschaften könnt, der bis auf den nächsthöheren Felsvorsprung oberhalb der Bäume dort führt.«

Cara nickte wieder. »Wo werdet Ihr sein?«

»Ich werde die anderen bis zur ersten Lichtung am Hang führen. Dort warten wir. Wenn Ihr einen Weg über den Vorsprung gefunden habt, kommt Ihr anschließend dorthin zurück und gebt uns Bescheid.«

Cara wuchtete ihren Rucksack schwungvoll auf den Rücken und packte den kräftigen Stecken, den Richard ihr geschnitten hatte.

»Ich wußte gar nicht, daß Mord-Sith Pfade anlegen können«, meinte Tom.

»Können sie auch nicht«, erwiderte Cara. »Aber ich, Cara, kann es. Lord Rahl hat es mir beigebracht.«

Richard sah ihr hinterher, als sie zwischen den Bäumen verschwand. Ihre Bewegungen waren grazil und sparsam, so daß sie im weglosen Wald kaum Spuren hinterließ und ihre Kräfte schonte. Das war nicht immer so gewesen, doch sie hatte ihre Lektionen gut gelernt, wie Richard mit Freude vermerkte.

Plötzlich ergriff Owen das Wort; er wirkte aufgeregt. »Aber Lord Rahl, diesen Weg können wir nicht gehen.« Er deutete mit einer fahrigen Handbewegung über seine Schulter. »Der Pfad verläuft dort entlang; es ist der einzige Weg über den Paß. Dort liegt der Abstieg und damit, jetzt, da die Grenze nicht mehr existiert, auch der Weg zurück bergauf. Leicht ist es nicht, aber es ist der einzige Weg.«

»Es ist der einzige dir bekannte Weg. Sein ausgetretener Zustand läßt vermuten, daß auch Nicholas keinen anderen kennt. Offenbar ist es der Pfad, über den die Truppen der Imperialen Ordnung nach Bandakar ein- und ausmarschieren. Wenn wir diesen Pfad benutzen, werden uns die Riesenkrähen gewiß beobachten. Lassen wir uns dort aber nicht blicken, dürfte Nicholas uns aus den Augen verlieren. Und von jetzt an möchte ich, daß es dabei bleibt. Ich bin es leid, für seine Raubvögel ein leichtes Ziel abzugeben.«

Wo der weitere Verlauf des Pfades einigermaßen deutlich zu erkennen war – und sie der natürlichen Form der Landschaft folgen konnten –, überließ Richard Kahlan bergauf durch den Wald die Führung. War sie im Zweifel, sah sie sich nach Richard um, der ihr mit einem Blick oder Nicken die gewünschte Richtung vorgab oder ihr in einigen wenigen Fällen auch mit knappen Anweisungen weiterhalf.

Den örtlichen Gegebenheiten nach war Richard einigermaßen sicher, daß es einen alten Pfad über den Gebirgspaß gab. Dieser Paß, der von weitem wie eine Kerbe in der unüberwindbaren Wand des Gebirges aussah, war in Wirklichkeit nicht bloß ein kleiner Einschnitt, sondern ein breites Tal, das mäandernd zwischen den Bergen immer höher stieg. Richard war überzeugt; daß der von den Einwohnern Bandakars zur Verbannung mißliebiger Personen benutzte Pfad durch das Grenzgebiet nicht der einzige Weg über diesen Paß war. Dies mochte der Fall gewesen sein, solange die Grenze Bestand gehabt hatte, doch existierte diese ja jetzt nicht mehr.

Seine bisherigen Beobachtungen ließen vermuten, daß es einst noch einen anderen Weg gegeben hatte, in früheren Zeiten die Hauptverbindung von und nach Bandakar. Da und dort waren Vertiefungen zu erkennen, die er für Überreste jener alten, lange aufgegebenen Route hielt.

»Früher oder später werden die Riesenkrähen uns finden, meinst du nicht?«, fragte Jennsen. »Oder glaubst du etwa, wenn wir an der Stelle, wo sie uns erwarten, nicht wieder auftauchen, werden sie Ruhe geben, ehe sie uns gefunden haben? Du hast doch selbst gesagt, daß sie aus der Luft riesige Entfernungen überblicken und uns aufstöbern können.«

»Schon möglich. Aber solange wir unseren Verstand gebrauchen und in Deckung bleiben, dürften wir im Wald schwerlich auszumachen sein. Im offenen Gelände konnten sie uns schon aus einer Entfernung von vielen Meilen erkennen, hier dagegen dürfte ihnen das sehr viel schwerer fallen, es sei denn, sie befinden sich in unmittelbarer Nähe und wir sind unvorsichtig.

Wenn wir an der Stelle, wo der bekannte Pfad Bandakar erreicht, nicht auftauchen, haben sie ein riesiges Areal abzusuchen – und das, ohne zu wissen, in welcher Richtung sie uns suchen sollen –, was ihnen die Aufgabe, uns zu finden, zusätzlich erschwert.«

Jennsen ließ sich das durch den Kopf gehen, als sie in einen kleinen Birkenhain gelangten, wo Betty einen Baum auf der falschen Seite passierte, so daß Jennsen stehen bleiben mußte, um den Strick wieder zu entwirren. Alle zogen die Köpfe ein, als eine plötzliche Bö einen alles durchnässenden Schauer über ihnen niedergehen ließ.

»Und was willst du tun«, fragte Jennsen mit einer Stimme, kaum lauter als ein Flüstern, als sie ihn wieder eingeholt hatte, »wenn wir dort angekommen sind?«

»Ich werde mir das Gegenmittel beschaffen, damit ich nicht sterbe.«

»Das weiß ich doch.« Jennsen strich sich eine regennasse Haarlocke aus dem Gesicht. »Was ich meinte, ist, was wirst du hinsichtlich Owens Volk unternehmen?«

Jeder Atemzug erzeugte tief unten in seinen Lungen einen leichten, aber dennoch schmerzhaften Stich. »Im Moment vermag ich noch nicht einzuschätzen, was ich überhaupt tun kann.«

Jennsen ging eine Weile schweigend weiter. »Aber du wirst doch versuchen, ihnen zu helfen, oder?«

Richard warf seiner Schwester einen Seitenblick zu. »Jennsen, diese Leute drohen damit, mich umzubringen; und sie haben bewiesen, daß sie es ernst meinen.«

Verlegen zog sie die Schultern hoch. »Ich weiß, aber sie sind doch in einer verzweifelten Lage.« Mit einem kurzen Blick nach vorn vergewisserte sie sich, daß Owen nicht mithörte. »Sie haben sich nicht anders zu behelfen gewußt. Sie sind nicht wie du; sie haben noch nie gegen jemanden gekämpft.«

Richard holte tief Luft; der dadurch verursachte Schmerz schien ihm die Brust zusammenzuschnüren. »Du hast auch noch nie gegen jemanden gekämpft. Als du dachtest, ich wolle dich töten, so wie unser Vater, und glaubtest, ich sei für den Tod unserer Mutter verantwortlich, wie hast du dich da verhalten? Ich meine nicht ob du dich mir gegenüber korrekt verhalten hast, sondern wie hast du auf das Geschehen, so wie es sich in deinen Augen darstellte, reagiert?«

»Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß ich dich, wenn ich weiterleben wollte, töten mußte, bevor du mich umbringst.«

»Genau. Du hast nicht einfach irgend jemanden vergiftet und ihm gesagt, er soll es für dich tun, da er andernfalls sterben werde. Du fandest dein Leben lebenswert also hast du dir gesagt, daß niemand das Recht hat, es dir zu nehmen.

Wenn man bereit ist, sein höchstes Gut, sein Leben, das einzige, das einem je vergönnt sein wird, unterwürfig dem erstbesten dahergelaufenen Schurken zu opfern, der aus einer Laune heraus beschließt, es einem wegzunehmen, dann ist man rettungslos verloren. Vielleicht wäre man für einen Tag zu retten, doch schon am nächsten würde der nächste auftauchen, vor dem man sich bereitwillig in den Staub wirft. Man würde das Leben seines Meuchlers über das eigene stellen.

Wenn man einem Fremden das Recht einräumt, über das eigene Leben, den eigenen Tod zu entscheiden, ist man längst zu einem willenlosen Sklaven verkommen, der nur noch darauf wartet, sich abschlachten zu lassen.«

Eine Weile lief sie schweigend neben ihm her und dachte über seine Worte nach. Richard bemerkte, daß sie sich durch den Wald bewegte, wie er es Cara beigebracht hatte. Offenbar fühlte sie sich im Wald fast so heimisch wie er.

»Richard.« Jennsen schluckte. »Ich möchte nicht, daß diesen Menschen noch mehr Leid zugefügt wird. Sie haben schon genug gelitten.«

»Erzähl das Kahlan, nachdem ich an dem Gift krepiert bin.« »Sieh den Tatsachen ins Gesicht, Richard. Es war meine Schuld, daß die Grenze gefallen ist. Deswegen galt das Warnzeichen mir – weil ich das Versagen der Sperre verschuldet habe. Das wirst du doch nicht ernsthaft bestreiten wollen, oder?«

»Nein, trotzdem müssen wir noch eine Menge in Erfahrung bringen, ehe wir wissen, was hier vor sich geht.«

»Ich habe die Chimären befreit«, sagte sie. »Es wird wenig hilfreich sein, die Augen vor dieser Tatsache zu verschließen.«

Kahlan hatte sich einer uralten Magie bedient, um ihm das Leben zu retten, und die Chimären befreit, um ihn wieder gesund zu machen. Sie hatte damals unter unvorstellbarem Zeitdruck gestanden: hätte sie auch nur einen Moment gezögert, wäre er wenige Augenblicke später gestorben.

Zudem hatte sie keine Ahnung gehabt, daß die Chimären die Welt mit Zerstörung überziehen würden; sie hatte nicht gewußt, daß sie dreitausend Jahre zuvor mit Hilfe von Kräften aus der Unterwelt als Waffe zur Vernichtung aller Magie erschaffen worden waren. Man hatte ihr lediglich eröffnet, wenn sie Richards Leben retten wolle, müsse sie sich ihrer bedienen.

Richard kannte das Gefühl, die Ursache bestimmter Ereignisse zu kennen, ohne daß einem irgend jemand Glauben schenkte, und wußte, daß sie jetzt die gleiche niederschmetternde Erfahrung machte.

»Du hast Recht, wir können uns nicht davor verstecken – vorausgesetzt, es stimmt tatsächlich. Aber bislang wissen wir das eben nicht. Zumal die Chimären wieder in die Unterwelt verbannt worden sind.«

»Und was ist mit Zedds Äußerungen über den Beginn der vernichtenden Flut der Magie, die längst eingesetzt hat und die angeblich nicht einmal durch eine Verbannung der Chimären aufgehalten werden kann? Für ein solches Ereignis gibt es keinerlei Erfahrungen, aufgrund derer sich irgendwelche Vorhersagen treffen ließen.«

Richard konnte ihr nicht mit einer Antwort dienen, zumal er ihr gegenüber ohnehin im Nachteil war, da er nicht ihre magische Ausbildung besaß. Doch da trat Cara durch einen dichten Hain aus jungen Balsamtannen auf die Lichtung und bewahrte ihn davor, spekulieren zu müssen. Sie nahm ihren Rucksack von den Schultern und ließ sich Richard gegenüber auf einem Felsen nieder.

»Ihr hattet Recht. Es gibt dort oben tatsächlich einen Durchgang; hinter dem Felsband meinte ich sogar eine Fortsetzung des Weges erkennen zu können.«

Richard erhob sich. »Dann laßt uns aufbrechen. Der Himmel wird zusehends dunkler. Ich denke, wir sollten uns einen Lagerplatz für die Nacht suchen.«

»Unterhalb des Felsbandes habe ich eine passende Stelle gesehen, Lord Rahl. Dort könnte es trocken genug sein, um zu übernachten.«

»Gut.« Er warf sich ihren Rucksack über. »Ich werde ihn Euch eine Weile abnehmen, damit Ihr Euch ein wenig ausruhen könnt.«

Cara bedankte sich mit einem Nicken und schloß sich an, als sie sich zwischen den dicht stehenden Bäumen hindurchzwängten und bereits nach wenigen Schritten den steilen Anstieg beginnen mußten; das freiliegende Felsgestein und die Wurzeln boten ausreichend halt für Hände und Füße.

Tom versuchte Jennsen zu helfen, indem er ihr ab und zu Betty anreichte, obwohl die Ziege im Klettern über felsigen Grund sehr viel geschickter war als sie. Richard vermutete, daß es ihm dabei eher um Jennsens denn um Bettys Seelenfrieden zu tun war. Schließlich erklärte ihm Jennsen, Betty komme bestens allein zurecht.

Kurz nachdem der Regen einsetzte, fanden sie den niedrigen Spalt unter einem vorspringenden Felssims, wie Cara es angekündigt hatte. Eine richtige Höhle war es nicht, eher ein Hohlraum unter einer Felsplatte, die weiter oben aus dem Hang herausgebrochen und herabgestürzt war. Am Boden liegende Felsbrocken stützten sie, so daß darunter ein ausreichend großer Hohlraum entstanden war. Als geräumig konnte man ihn nicht gerade bezeichnen, aber nach Richards Meinung würden sie für eine Nacht alle darunter Platz finden.

Der Boden war schmutzig und mit altem Laub und Waldstreu aus Rinde, Moos und unzähligen Kerbtieren übersät. Tom und Richard fegten ihn kurzerhand mit ein paar abgeschnittenen Zweigen aus, ehe sie ihn mit einer Schicht aus Immergrün auslegten, um zu verhindern, daß sie von hereinlaufendem Wasser durchnäßt wurden.

Als der Regen stärker wurde, hasteten sie mit eingezogenen Köpfen unter die Felsplatte, um sich einen Platz zu suchen. Da man sich nicht aufrichten konnte, wirkte die Höhle nicht eben bequem, aber wenigstens war sie einigermaßen trocken.

Jetzt, nachdem sie den üblichen Pfad verlassen hatten, wagte Richard nicht – aus Angst, der Rauch könnte von den Riesenkrähen gesehen werden –, ein Feuer zu entzünden. Sie nahmen ein kaltes Mahl aus Fleisch, Fladenresten und Trockenfrüchten zu sich. Der den ganzen Tag währende Aufstieg hatte sie alle erschöpft, weswegen kaum gesprochen wurde.

Während sich die Dunkelheit allmählich über die Wälder legte, schauten sie zu, wie der Regen draußen vor ihrem gemütlichen Unterschlupf niederging, und lauschten – alle in Gedanken bei dem eigenartigen Land vor ihnen, das dreitausend Jahre lang von der Außenwelt abgeschnitten gewesen war – auf das leise Rauschen. Auch Truppen der Imperialen Ordnung würden dort sein.

Während Richard dasaß, zur Höhle hinaus in den dunklen Regen schaute und auf die gelegentlichen Tierlaute in der Ferne lauschte, schmiegte Kahlan sich eng an ihn und legte ihm den Kopf in den Schoß. Betty verkroch sich in den hintersten Winkel des Unterschlupfs und legte sich neben Jennsen.

Das beruhigende Gefühl seiner Hand auf ihrer Schulter ließ Kahlan Minuten später einschlafen. Richard dagegen, so sehr ihn der beschwerlichen Tagesmarsch auch erschöpft hatte, war nicht schläfrig.

Er hatte Kopfschmerzen, und das Gift tief in seinem Körper machte jeden Atemzug zur mühevollen Qual. Er fragte sich, was ihn wohl zuerst niederwerfen würde: die Kraft seiner Gabe, der er die Kopfschmerzen zu verdanken hatte, oder Owens Gift.

Außerdem fragte er sich, wie er die Forderung Owens und seiner Leute nach Befreiung ihres Reiches erfüllen sollte, um an das Gegenmittel zu kommen. Zu fünft waren sie wohl kaum die Armee, die nötig wäre, um die Imperiale Ordnung aus Bandakar zu vertreiben.

Wenn ihm das aber nicht gelang, wenn er sich das Gegenmittel nicht beschaffen konnte, würde sein Leben unabwendbar zur Neige gehen. Gut möglich, daß dies seine letzte Reise war.

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