Wütend stürzte einer der Sprecher vor, krallte seine Hand in Richards Hemd und versuchte ihn hinauszudrängen. »Ihr seid an allem schuld! Ihr, ein Barbar! Ein Unerleuchteter! Ihr habt diese lasterhaften Gedanken in unser Volk getragen!« Er bemühte sich nach Kräften, Richard durchzurütteln. »Ihr habt unser Volk zur Gewalt verführt!«
Richard packte sein Handgelenk, verdrehte ihm den Arm und zwang ihn dadurch auf die Knie. Der Mann stieß einen Schmerzensschrei aus. Ohne den Griff zu lockern, beugte Richard sich zu ihm hinunter.
»Wir haben unser Leben aufs Spiel gesetzt, um deinem Volk zu helfen. Dein Volk ist mitnichten erleuchtet, sondern besteht aus ganz gewöhnlichen Menschen, die sich durch nichts von anderen unterscheiden. Und jetzt werdet ihr euch anhören, was wir zu sagen haben, denn heute nacht entscheidet sich deine und die Zukunft deines Volkes.«
Richard entließ ihn mit einem Stoß aus seinem Griff, ehe er zur Tür ging und seinen Kopf hinausstreckte. »Cara, geht zu Tom und bittet ihn, Euch zu helfen, die übrigen Männer herzuholen. Ich denke, es ist besser, wenn alle dabei sind.«
Während Cara sich auf den Weg machte, befahl er den Sprechern, bis vor die Wand zurückzutreten.
»Dazu habt Ihr kein Recht«, protestierte einer.
»Ihr seid die Vertreter des Volkes von Bandakar, seine Anführer«, erklärte Richard ihnen. »Der Augenblick ist gekommen, Führerschaft zu zeigen.«
Dann trafen die ersten Männer ein, und es dauerte nicht lange, bis die schweigende Versammlung vollständig war. Kahlan bemerkte einige unbekannte Gesichter, die sich ebenfalls hierher verirrt hatten, aber da sie das Wesen dieser Leute kannte, und Cara sie offenbar hereingelassen hatte, ging sie davon aus, daß sie keine Gefahr darstellten.
Richard deutete auf die Versammlung, die die Sprecher in gespanntem Schweigen betrachtete. »Diese Männer aus der Ortschaft Witherton haben der Wahrheit ins Gesicht geblickt und erkannt, was ihrem Volk derzeit widerfährt; und sie sind nicht länger bereit, diese brutalen Übergriffe hinzunehmen. Sie sind es leid, Opfer zu sein, und wollen als freie Menschen leben.«
Einer der Sprecher, ein Mann mit langem, sich stark verjüngendem Kinn, tat Richards Äußerung mit einem verächtlichen Schnauben ab.
»Die Idee der Freiheit ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn sie dient den Menschen nur als Rechtfertigung für ihren Eigensinn. Jeder der auch nur über einen Funken Verstand verfügt und sich dem Wohlergehen einer erleuchteten Menschheit verschrieben hat, wird diese widersinnige Freiheitsidee als das verwerfen, was sie ist – selbstsüchtig.«
Ein anderer Sprecher, die Augen bestürzt aufgerissen, deutete mit ausgestrecktem Arm auf Richard. »Jetzt weiß ich, wer Ihr seid. Ihr seid der von dem in den Prophezeiungen die Rede ist. Der, von dem es in der Prophezeiung heißt er werde uns vernichten!«
Das allgemeine Getuschel trug den Vorwurf bis in die hinterste Reihe.
Richard sah sich nach seinen hinter ihm angetretenen Männern um, ehe er sich wieder herumwandte und den Sprechern einen vernichtenden Blick zuwarf. »Ich bin Richard Rahl, und ja, ihr habt Recht, ich bin derjenige, der euch vor langer Zeit in einer Prophezeiung genannt wurde. ›Euer Zerstörer wird kommen, und er wird euch erlösen.‹ Ihr habt Recht: In dieser Prophezeiung ist von mir die Rede. Und es handelt sich um das verheißungsvolle Versprechen einer besseren Zukunft. Einigen wenigen aus eurem Volk habe ich geholfen, die Wahrheit zu erkennen, und ihr Leben in unwissender Finsternis dadurch beendet. Nun müssen auch die übrigen entscheiden, ob sie weiter im Dunkeln ausharren wollen oder ob sie hinaustreten wollen in das Licht der Erkenntnis, die ich euch gebracht habe.
Indem ich eurem Volk diese Erkenntnis gebracht habe, habe ich es erlöst. Ich habe ihm gezeigt, daß es sich aus eigener Kraft emporschwingen und erreichen kann, was immer es sich wünscht. Ich habe den Menschen geholfen, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Beschließt ihr jetzt, so weiterzuleben wie bisher, und sucht ihr weiter Aussöhnung mit dem Bösen, so werdet ihr dies um den Preis eures Seelenheils tun.«
Unvermittelt kehrte Richard den Sprechern den Rücken zu, schloß kurz die Augen und rieb mit den Fingerspitzen darüber. Kahlan sah seinem Gesichtsausdruck sofort an, daß er fürchterliche Schmerzen hatte.
Owen trat vor. »Ehrenwerte Sprecher, der Zeitpunkt ist gekommen, den Weisen anzuhören. Wenn nach eurer Ansicht nicht einmal diese Krise uns dazu berechtigt, was dann? Unsere Zukunft, unser aller Leben, steht auf dem Spiel.
Bringt den Weisen her. Wir werden uns anhören, was er zu sagen hat, und dann entscheiden, ob er tatsächliche weise ist und unsere Loyalität verdient.«
In diesem Moment traten einige Männer aus dem Hinterzimmer, mit rotem Tuch drapierte Stangen sowie mit Kerben versehene Bretter und Planken in den Händen, und gingen daran, vor der Tür des Hinterzimmers ein einfaches Podium mit vier Stangen an den Ecken sowie schweren roten Vorhängen als Blickschutz zu errichten. Als die Konstruktion schließlich stand, plazierten sie ein großes Sitzkissen auf das Podium und schlossen die Vorhänge. Zwei Tische mit einigen Kerzen darauf wurden hereingetragen und zu beiden Seiten des mit Vorhängen verhangenen, zeremoniellen Sitzes der Weisheit abgesetzt. Im Handumdrehen hatten die Sprecher eine schlichte, aber Ehrfurcht gebietende Umgebung geschaffen.
Kahlan kannte mehrere Personen in den Midlands, die magische Kräfte besaßen und in derselben Eigenschaft dienten wie vermutlich dieser Weise. Gewöhnlich hatten sie Gehilfen, wie eben diese Sprecher. Im Übrigen war sie klug genug, diese einfachen Schamanen und ihre Verbindungen zur Welt der Seelen nicht zu unterschätzen. Nicht wenige von ihnen verfügten über sehr reale Verbindungen zum Totenreich und vor allem über eine sehr reale Macht über ihr Volk.
Nur konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie ein Volk bar aller magischen Kräfte einen solchen Mittler zu den Seelen besitzen konnte. Falls aber doch, und der Betreffende stellte sich gegen sie, wären womöglich all ihre Mühen umsonst gewesen.
Die Sprecher nahmen zu beiden Seiten des Podiums Aufstellung und öffneten die Vorhänge gerade weit genug, daß man in das dunkle Innere blicken konnte.
Dort auf dem Kissen saß mit übereinander geschlagenen Beinen ein, so schien es, kleiner, in ein weißes Gewand gehüllter Junge, die Hände wie zum Gebet im Schoß gefaltet. Er schien acht oder allerhöchstens zehn Jahre alt zu sein. Um seinen Kopf hatte man ein schwarzes Tuch gewickelt, um seine Augen zu bedecken.
»Es ist ein kleiner Junge«, stellte Richard erstaunt fest.
Die Störung bewog einen der Sprecher, Richard einen mörderischen Blick zuzuwerfen. »Nur ein Kind ist unverdorben genug, um zu wahrer Weisheit zu gelangen.« Beifälliges Nicken allenthalben im Kellersaal.
Richard warf Kahlan einen heimlichen Seitenblick zu.
Einer der Sprecher ließ sich vor der Plattform auf die Knie nieder und verneigte sein kahles Haupt. »Weiser, wir sehen uns gezwungen, dich um Unterweisung zu ersuchen, denn einige aus unserem Volk möchten einen Krieg beginnen.«
»Krieg ist niemals eine Lösung«, antwortete der Weise mit frömmelnder Stimme.
»Vielleicht möchtest du seine Gründe hören.«
»Es gibt keinen stichhaltigen Grund für das Kämpfen. Krieg kann niemals eine Lösung sein. Krieg ist das Eingeständnis des eigenen Scheiterns.«
Verlegen wichen die Anwesenden ein Stück zurück; offenbar erfüllte es sie mit Unbehagen, den Weisen mit solch geistlosen Fragen zu bedrängen, Fragen, die er offenbar keine Mühe hatte, mit seiner kindlichen Weisheit, die ihre eigene Lasterhaftigkeit augenblicklich offenbar werden ließ, zu klären.
»Sehr weise. Du hast uns Weisheit in ihrer wahren, schlichten Vollkommenheit gezeigt. Alle Menschen täten gut daran, diese Wahrheit zu achten.« Der Sprecher neigte abermals sein Haupt. »Wir haben es diesen Leute nahezubringen versucht ...«
»Wieso trägst du eigentlich eine Augenbinde?«, fiel Richard dem vor der Plattform knienden Sprecher unvermittelt ins Wort.
»Ich höre Zorn in deiner Stimme«, antwortete der Weise. »Du wirst nichts erreichen, ehe du nicht deinen Haß ablegst. Wenn du mit deinem Herzen suchst, wirst du in jedem das Gute finden.«
Richard drängte Owen vorzutreten. Dann langte er nach hinten, in die Gruppe der Männer, packte mit zwei Fingern Anson am Hemd und zog ihn ebenfalls nach vorn. Zu dritt traten sie bis vor die Plattform des Weisen. Richard war der einzige, der seine aufrechte Haltung beibehalten hatte. Er zwang den auf den Knien liegenden Sprecher mit dem Fuß, Platz zu machen.
»Ich fragte, warum du eine Augenbinde trägst«, wiederholte Richard.
»Man muß das Wissen leugnen, um für den Glauben Raum zu schaffen. Nur durch Glauben gelangt man zur reinen Wahrheit«, verkündete der Weise. »Man muß erst glauben, wenn man lernen und erkennen können will.«
»Wer etwas glaubt, ohne zu sehen, was wirklich ist«, erklärte Richard, »beweist damit nicht seine Klugheit, sondern lediglich seine selbst auferlegte Blindheit. Wenn man etwas lernen und begreifen will, muß man die Augen aufmachen.«
Die Männer rings um Kahlan schienen unangenehm berührt, daß Richard auf diese Art mit dem Weisen sprach.
»Beende den Haß, sonst erntest du stets nur neuen Haß.«
»Wir sprachen gerade über Wissen. Nach Haß habe ich dich nicht gefragt.«
Der Weise legte seine Hände wie im Gebet vor seinem Körper aneinander und senkte leicht das Haupt. »Wir sind von Weisheit umgeben, doch unsere Augen blenden uns, unser Gehör macht uns taub, unser Verstand denkt und hinterläßt uns unwissend. Unsere Sinne können uns bestenfalls täuschen; die äußere Welt vermag uns über das wahre Wesen der Dinge nichts mitzuteilen. Um eins zu werden mit der wahren Bedeutung des Lebens, mußt du den Blick erst blind nach innen richten und die Wahrheit erkennen.«
Richard verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich besitze Augen, deshalb kann ich nichts sehen. Ich habe Ohren, und deshalb bin ich taub. Und ich besitze einen Verstand, weswegen ich unfähig bin, Wissen zu erlangen.«
»Der erste Schritt zur Weisheit ist, zu akzeptieren, daß unsere Unzulänglichkeit es uns unmöglich macht, die Wirklichkeit in ihrem Wesen zu erkennen; aus diesem Grund kann nichts wahr sein, was wir zu wissen glauben.«
»Um zu überleben, müssen wir essen. Wie soll man der Fährte eines Hirsches im Wald folgen, um sich Nahrung zu beschaffen? Etwa, indem man sich ein Tuch vor die Augen bindet? Sich Wachs in die Ohren stopft? Indem man es im Schlaf versucht, damit sich der Verstand nicht mit unnötigem Nachdenken an der zu bewältigenden Aufgabe beteiligt?«
»Wir essen kein Fleisch. Es ist falsch, Tiere zu verletzen, nur um sich Nahrung zu beschaffen. Tiere haben das gleiche Recht auf Leben wie wir.«
»Ihr eßt also nur Pflanzen, Eier, Käse und Ähnliches mehr?«
»Selbstverständlich.«
»Und wie stellt ihr Käse her?«
Nur das Husten eines der Versammelten im Hintergrund des Raumes unterbrach das betretene Schweigen.
»Ich bin der Weise. Diese Art der Arbeit gehört nicht zu meinen Pflichten. Den Käse, den wir essen, machen andere.«
»Verstehe. Du weißt nicht, wie man den Käse für dein Abendessen macht, weil es dir niemand beigebracht hat. Einfach perfekt. Du sitzt also hier mit einer Binde um den Kopf und im Besitz eines reinen, nicht mit lästigem Wissen über dieses Thema befrachteten Verstandes. Wie also stellt man Käse her? Fliegt einem dieses Wissen einfach zu? Wird dir die Methode zur Käseherstellung durch blinde, göttliche Selbstschau zuteil?«
»Die Wirklichkeit erschließt sich nicht durch Ausprobieren ...«
»Eins würde mich interessieren: Angenommen du trägst eine Augenbinde, damit du nichts sehen kannst, du stopfst dir Wachs in die Ohren, um nichts zu hören, und streifst dicke Handschuhe über, so daß du nicht einmal etwas ertasten kannst, wie willst du dann etwas so Einfaches wie das Herausrupfen eines Rettichs bewerkstelligen, um dir etwas zu essen zu beschaffen? Oder besser noch, laß das Wachs in deinen Ohren weg, ebenso die Handschuhe. Behalte nur die Augenbinde um, und zeig mir wie du einen Rettich für deine Mahlzeit erntest. Ich führe dich sogar bis zur Tür, aber von da an bist du auf dich selbst gestellt. Komm schon, los. Versuch es.«
Der Weise benetzte seine Lippen. »Nun, ich ...«
»Wenn du dich selbst deines Sehvermögens beraubst, deines Gehörs und deines Tastsinns ... wie willst du dann Nahrung für deinen Lebensunterhalt anpflanzen, wie willst du auch nur Beeren oder Nüsse suchen? Wenn nichts wirklich ist, wie lange wird es wohl dauern, bis du, in Erwartung einer inneren Stimme der Wahrheit, die dich ernähren soll, verhungert wärest?
Beantworte mir meine Fragen, ›Weiser‹. Verrate mir, was dir dein blind nach innen gerichteter Blick bislang über das Herstellen von Käse enthüllt hat. Raus mit der Sprache, wir würden es gern hören.«
»Aber... die Frage ist nicht fair.«
»Ach nein? Eine Frage nach dem Sinn des eigenen Tuns ist nicht fair? Das Leben erfordert, daß alle Lebewesen, um zu überleben, mit Erfolg bestimmte Ziele verfolgen. Ein Vogel, der es nicht schafft, einen Wurm zu fangen, stirbt. Das ist eine fundamentale Regel, die ebenso für Menschen gilt.«
»Mach deinem Haß ein Ende.«
»Eine Augenbinde trägst du ja bereits. Warum verstopfst du dir nicht auch noch die Ohren und summst eine Melodie vor dich hin, um nicht von irgendwelchen Gedanken behelligt zu werden?« Richard beugte sich weiter vor und senkte bedrohlich die Stimme. »Und dann möchte ich dich bitten, in deinem Zustand grenzenloser Weisheit zu erraten, was ich gleich mit dir machen werde.«
Der Junge stieß einen erschrockenen Schrei aus und krabbelte ein Stück nach hinten.
Energisch schob Kahlan sich zwischen Richard und Anson hindurch und stieg auf das Podium, ließ sich dort nieder, legte einen Arm um den verängstigten Jungen und zog ihn zu sich heran, um ihn wieder zu beruhigen. Der Junge schmiegte sich in ihre schützenden Arme.
»Du machst dem Jungen Angst, Richard. Sieh ihn dir doch an; er zittert am ganzen Leib.«
Richard zog dem Jungen die Augenbinde vom Kopf, der darauf, in seiner Verwirrung und Bestürzung, verängstigt zu ihm hochlinste.
»Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das sich freiwillig in die Fänge eines Raubtieres begibt. Nur der Mensch, vorausgesetzt, er war fortwährend solch unsinnigen Lehren ausgesetzt wie du, ist imstande, gegen die Werte zu verstoßen, die dem Erhalt des eigenen Lebens dienen. Trotzdem hast du dich instinktiv richtig verhalten, indem du bei meiner Frau Schutz gesucht hast.«
»Hab ich das?«
»Ja. Dein gewohntes Verhalten konnte dich nicht schützen, also hast du darauf spekuliert, daß sie es für dich tut. Hätte ich tatsächlich die Absicht gehabt, dir etwas anzutun, hätte sie mich gewaltsam daran zu hindern versucht.«
Der Junge blickte in Kahlans freundlich lächelndes Gesicht. »Das hättest du getan?«
»Ja, das hätte ich. Ich glaube nämlich auch an die Würde des Lebens.«
Er starrte sie ungläubig an.
Kahlan schüttelte bedächtig den Kopf. »Nur hätte dir deine instinktive Suche nach Schutz nichts genutzt, wenn du ihn statt dessen bei Leuten gesucht hättest, die nach den irrigen Lehren leben, die du andauernd nachplapperst. Diese Lehren verdammen Selbstverteidigung als eine Form des Hasses. Dein Volk wird mit Hilfe seiner eigenen Überzeugungen abgeschlachtet.«
Er machte ein niedergeschlagenes Gesicht. »Aber das will ich doch nicht.«
Kahlan lächelte. »Wir genauso wenig. Deswegen sind wir hergekommen, und deswegen mußte Richard dir zeigen, daß man die Wirklichkeit durchaus erfassen kann und dies einem hilft zu überleben.«
»Danke«, sagte er an Richard gewandt.
Ein Lächeln auf den Lippen, glättete Richard ihm sein blondes Haar. »Tut mir leid, daß ich dir Angst machen mußte, um dir zu zeigen, daß du ziemlichen Unsinn von dir gegeben hast. Ich mußte dir beweisen, wie wenig hilfreich die dir eingetrichterten Lehren sind – sie sind unbrauchbar, weil es ihnen an Klarsicht und Vernunft fehlt. Du scheinst mir ein Junge zu sein, der Freude am Leben hat. Ich war in deinem Alter genauso und bin es noch heute. Das Leben ist großartig, genieße es, schau dich mit den Augen, die dir gegeben wurden, um und erfasse es in seiner ganzen Herrlichkeit.«
»So hat mit mir noch niemand über das Leben gesprochen. Ich kriege ja kaum was zu sehen. Ich muß immer daheim bleiben.«
Richard wandte sich wieder zu den Männern herum. »Das ist es, was man eurem Volk als Quelle der Weisheit vorgegaukelt hat – es mußte sinnlose Sprüche nachplappernden Kindern lauschen. Ihr besitzt einen Verstand, um damit zu denken und die Welt zu begreifen. Diese selbstauferlegte Blindheit ist ein schlimmer Verrat an euch selbst.«
Die Männer in der ersten Reihe, soweit Kahlan sie von ihrem Platz aus sehen konnte, senkten beschämt den Kopf.
»Lord Rahl hat Recht«, sagte Anson und wandte sich wieder zu den Männern herum. »Bis zum heutigen Tag hatte ich das nie wirklich bezweifelt oder darüber nachgedacht, wie dumm es in Wahrheit ist.«
Einer der Sprecher, der mit dem spitzen Kinn, beugte sich plötzlich vor und riß Anson das Messer aus dem Gürtel.
Mit einem wütenden Aufschrei stieß der Sprecher unvermittelt zu und durchbohrte Ansons Arm, ehe dieser reagieren konnte, mit dem Messer. Kahlan hörte, wie die Klinge einen Knochen traf. Getrieben von blindwütigem Haß, zog der Sprecher die Hand mit der jetzt blutverschmierten Klinge zurück und stach erneut auf Anson ein. Anson. das Gesicht entsetzt verzogen, sank in sich zusammen.
Die Lichtpunkte vom Widerschein der Kerzen auf dem blank polierten, rasiermesserscharfen Stahl verschwammen zu glänzenden Streifen, als Richards Schwert an Kahlan vorübersauste. Das unverwechselbare Klirren des Stahls hallte noch nach, als es bereits in vernichtendem Schwung auf die Bedrohung zuhielt. Getrieben von Richards gewaltiger Körperkraft, sirrte die Schwertspitze durch die Luft. Der Arm des Sprechers hatte soeben den Scheitelpunkt seiner ausholenden Bewegung erreicht, als sie zu ihrem todbringenden Abwärtsschwung ansetzte. Richards Klinge grub sich seitlich in den Hals des Sprechers, durchschnitt Fleisch und Knochen und trennte Kopf, Schulter sowie den Messerarm in einer einzigen, fließenden Bewegung ab.
Sofort schwenkte Richard die blutbesudelte Klinge herum und richtete sie gegen die anderen Sprecher, von denen womöglich ebenfalls Gefahr drohte. Kahlan verbarg das Gesicht des Jungen an ihrer Schulter und hielt ihm die Augen zu.
Einige der Manner stürzten herbei und umringten Anson. Kahlan wußte nicht, wie schwer seine Verletzung war – oder ob er überhaupt noch lebte.
Unweit davon lagen der blutige Kopf und Arm des toten Sprechers vor einem mit Kerzen übersäten Tisch; seine Hand hielt das Messer immer noch in starrem Griff umklammert. Das Ergebnis des unvermittelten Gemetzels, das Blut, das sich für alle sichtbar auf dem Boden ausbreitete, bot einen schauderhaften Anblick. Alles schwieg entsetzt und starrte.
»Das erste Blut, geflossen durch die Hand eines eurer Großen Sprecher«, wandte sich Richard mit ruhiger Stimme an die Gruppe angstvoll verzagter Sprecher, »gehörte nicht etwa denen, die hergekommen sind, um euer Volk zu morden, sondern einem Mann, der euch kein Haar gekrümmt hat – einem Mann aus euren eigenen Reihen, der lediglich aufgestanden ist und euch erklärt hat, er wolle frei sein von der Unterdrückung der Tyrannei, frei sein, um für sich selbst zu denken.«
Kahlan erhob sich und sah, daß sich mittlerweile sehr viel mehr Menschen im Raum befanden als zuvor. Als Cara sich einen Weg durch die schweigende Menge bis zu ihr bahnte, nahm sie sie am Arm beiseite und beugte sich zu ihr.
»Wer sind all diese Menschen?«
»Die Bewohner der Stadt. Melder haben ihnen die Nachricht überbracht, daß die Stadt Witherton befreit worden ist. Sie hörten, daß unsere Leute hergekommen seien, um den Weisen aufzusuchen, und wollten Zeuge sein, was geschieht. Auf den Treppen und Fluren oben wimmelt es nur so von ihnen. Was hier unten gesagt wurde, hat sich längst bis nach oben herumgesprochen.«
Die Sorge, nahe genug bei Richard und Kahlan zu sein, um sie zu beschützen, war Cara deutlich anzusehen. Kahlan war überzeugt, daß Richards Worte auf viele Anwesende nachhaltigen Eindruck gemacht hatten, nur vermochte sie im Augenblick nicht einzuschätzen, wie sie sich verhalten würden.
Die Großen Sprecher schien alle Überzeugung verlassen zu haben, vor allem aber wollten sie nicht mit dem einen aus ihren Reihen in Verbindung gebracht werden, der eine so schreckliche Tat begangen hatte. Schließlich löste sich einer aus der Gruppe seiner Mitstreiter und begab sich auf den einsamen Weg hinüber zu dem Jungen, der, noch immer in Kahlans schützendem Arm, neben der mit Vorhängen verhüllten Plattform stand.
»Es tut mir leid«, wandte er sich im Tonfall aufrichtigen Bedauerns an den Jungen. Dann wandte er sich herum zu der Menge, die sie beobachtete. »Es tut mir leid. Ich möchte nicht länger Sprecher sein. Die Prophezeiung hat sich erfüllt; unsere Erlösung steht unmittelbar bevor. Ich denke, wir täten gut daran, uns anzuhören, was diese Leute zu sagen haben. Ich für meinen Teil möchte nicht länger mit der Angst leben, daß die Soldaten der Imperialen Ordnung uns alle töten könnten.«
Es gab keine Jubelrufe oder etwas in der Art, statt dessen schweigendes Einvernehmen. Alle, die Kahlan von ihrem Platz aus sehen konnte, nickten in der, so schien es, hoffnungsvollen Erwartung, ihr heimlicher Wunsch, von der brutalen Tyrannei der Imperialen Ordnung befreit zu werden, möge nicht doch ein sündiger, verbotener Gedanke sein, sondern in Wahrheit genau das Richtige.
Richard ließ sich neben Owen auf die Knie sinken, während einige der anderen damit beschäftigt waren, Ansons Oberarm mit einem Stoffstreifen zu verbinden. Er hatte sich aufgesetzt; sein gesamter Arm war über und über mit Blut bedeckt, doch der Verband schien die Blutung zu stillen. Kahlan stieß einen erleichterten Seufzer aus, als sie sah, daß Anson lebte und offenkundig nicht ernsthaft verletzt war.
»Sieht aus, als müßte es genäht werden«, sagte Richard.
Einige der Männer pflichteten ihm bei. Ein Älterer bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge und trat vor.
»Dafür bin ich zuständig. Ich habe auch Kräuter, aus denen man einen Umschlag machen kann.«
»Danke«, sagte Anson, als seine Freunde ihm auf die Beine halfen. Er wirkte benommen und mußte von den anderen gestützt werden. Sobald er sicher auf den Beinen stand, wandte er sich herum zu Richard.
»Danke, Lord Rahl, daß Ihr meiner in der Andacht geäußerten Bitte nachgekommen seid. Ich hätte nie gedacht, daß ich der Erste sein würde, der sein Blut für das, was wir uns vorgenommen haben, hergeben muß – noch daß es jemand aus unserem Volk sein würde, der dieses Blut vergießt.«
Richard dankte ihm für seine Worte mit einem vorsichtigen Klaps auf seine unversehrte Schulter.
Owen drehte sich zu der versammelten Menge um. »Ich denke, unser Entschluß steht fest: Wir wollen versuchen, unsere Freiheit wiederzuerlangen.« Als alle zustimmend nickten, wandte er sich an Richard. »Wie können wir uns der Soldaten in Northwick entledigen?«
Richard wischte sein Schwert am Stoff des Hosenbeins des Sprechers ab, ehe er seinen Blick hob und in die Menge sah. »Weiß jemand, wie viele Soldaten sich derzeit in Northwick befinden?«
In seiner Stimme schwang keine Verärgerung mit. Kahlan hatte gesehen, daß von dem Augenblick an, da er sein Schwert gezogen hatte, von der dem Schwert der Wahrheit innewohnenden Magie in seinen Augen nichts zu sehen gewesen war. Nicht ein Funke des Zorns, keine Magie war dort gefährlich aufgeblitzt. Er hatte schlicht getan, was nötig war, um die Gefahr abzuwenden. Sein rascher Erfolg war eine Erleichterung, aber daß sich die Magie des Schwertes beim Ziehen der Waffe nicht gezeigt hatte, hatte etwas überaus Besorgniserregendes.
Eine Kraft, die ihm früher stets zur Seite gestanden hatte, hatte ihm nun offenbar endgültig ihren Dienst versagt. Das Versagen der Magie des Schwertes erfüllte Kahlan mit einem Gefühl eisiger Vorahnung.
Einige in der Menge berichteten, angeblich Hunderte von Ordenssoldaten gesehen zu haben. Einer sprach sogar von Tausenden, bis sich schließlich eine ältere Frau per Handzeichen zu Wort meldete. »Ganz so viele sind es vielleicht nicht, aber annähernd.«
»Woher nimmst du dein Wissen?«, fragte Richard die Alte.
»Ich gehöre zu den Leuten, die für die Zubereitung ihrer Mahlzeiten abkommandiert sind.«
»Soll das heißen, ihr kocht für die Soldaten?«
»Ja«, bestätigte die Alte. »Sie möchten es offenbar nicht so gerne selbst machen.«
»Wann müßt ihr die nächste Mahlzeit zubereiten?«
»In diesem Augenblick werden einige große Kessel für das morgendliche Essen vorbereitet. Die Vorbereitungen werden die ganze Nacht in Anspruch nehmen, wenn wir den Eintopf bis zum Abendessen morgen fertig haben wollen. Außerdem müssen wir die ganze Nacht durcharbeiten, um Gebäck, Eier und Hafergrütze für das Frühstück zuzubereiten.«
Richard nickte und nahm den Heiler, der soeben Ansons Verband fester anzog, am Arm beiseite. »Du hast gesagt, du besäßest einen kleinen Kräutervorrat. Kennst du dich mit diesen Dingen aus?«
Er zuckte mit den Achseln. »Nicht sehr gut, es reicht gerade, um ein paar einfache Arzneien herzustellen.«
Kahlans Hoffnung sank. Sie hatte gehofft, dieser Mann wüßte vielleicht, wie sich eine weitere Dosis des Gegenmittels herstellen ließe.
»Kannst du Maiglöckchen, Oleander, Eiben, Mönchskraut sowie einige Schierlinge beschaffen?«
Der Alte blinzelte ihn erstaunt an. »Na ja, das ist alles recht gewöhnlich, würde ich sagen, besonders im Waldgebiet gleich nördlich der Stadt.«
Richard wandte sich zu seinen Männern herum, die im Vordergrund der Menge standen. »Unser Ziel ist es, die Soldaten der Imperialen Ordnung zu vernichten; je weniger wir dabei kämpfen müssen, desto besser.
Noch vor Tagesanbruch müssen wir uns aus der Stadt schleichen und einige Dinge beschaffen, die wir dringend benötigen.« Er deutete mit der Hand auf die Alte, die erzählt hatte, sie koche für die Soldaten. »Du wirst uns die Stelle zeigen, wo ihr das morgige Abendessen zubereitet. Wir werden euch ein paar zusätzliche Zutaten bringen.
Die Zutaten, die wir unter den Eintopf für die Soldaten mischen, werden innerhalb weniger Stunden eine heftige Übelkeit auslösen. Wir werden den einzelnen Kesseln verschiedene Zutaten beimischen, so daß die Symptome jeweils unterschiedlich sind, was Verwirrung und Panik noch verstärken dürfte. Wenn es uns gelingt, eine ausreichend große Menge dieser Giftstoffe unter den Eintopf zu mengen, werden die meisten innerhalb weniger Stunden an Schwächeanfällen, Lähmungserscheinungen und Krämpfen sterben.
Spät abends dann schleichen wir ins Lager und erledigen alle, die entweder noch nicht tot sind oder vielleicht nichts gegessen haben. Bei entsprechend sorgfältiger Vorbereitung können wir Northwick kampflos von der Imperialen Ordnung befreien. Das Ganze wäre im Handumdrehen vorbei, ohne daß jemand von uns zu Schaden käme.«
Einen Augenblick lang herrschte im Raum völlige Stille; dann sah Kahlan, wie ein Lächeln über die ersten Gesichter in der Menge ging. Es war, als wäre ein Sonnenstrahl in ihr Leben gefallen.
»Das wird unser einstiges Leben von Grund auf auf den Kopf stellen«, rief jemand, doch aus seiner Stimme sprach nicht etwa Verbitterung, sondern vielmehr Erstaunen.
»Unsere Erlösung ist greifbar nahe«, schloß sich ein anderer aus der Menge an.