21

Die Stelle, an der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten – unmittelbar vor einem steilen, felsigen Geländeanstieg mit einem kleinen Föhrenwäldchen und etwas dornigem Gestrüpp zur einen Seite hin –, war längst nicht so geschützt und gut zu verteidigen, wie es allen lieb gewesen wäre, aber Cara hatte Kahlan insgeheim anvertraut, sie befürchte, Richard werde, wenn sie nicht haltmachten, die Nacht nicht überleben.

Die mit leiser Stimme geäußerte Warnung hatte sofort Kahlans Puls beschleunigt, ihr den kalten Schweiß auf die Stirn getrieben und sie an den Rand einer Panik gebracht.

Natürlich hatte sie geahnt, daß die holprige Fahrt im Wagen, so behutsam sie sich im Dunkeln einen Weg durch das offene Gelände gebahnt hatten, Richard das Atmen wahrscheinlich erschweren würde. Keine zwei Stunden nach ihrem Aufbruch und nach Caras Warnung hatten sie bereits wieder haltmachen müssen. Zur großen Erleichterung aller war Richards Atmung sofort nach dem Anhalten wieder gleichmäßiger geworden und hatte danach sogar etwas weniger angestrengt geklungen.

Es wurde höchste Zeit, daß sie zu einer Straße gelangten, damit die Fahrt für Richard weniger beschwerlich wurde und sie schneller vorankamen. Vielleicht ginge es ja schneller, wenn er sich die Nacht über ausgeruht hatte.

Sich immerfort einzureden, daß sie ihn ans Ziel bringen würden und mit dieser Reise nicht einer leeren Hoffnung nachjagten, die lediglich dazu diente, den Augenblick der Wahrheit hinauszuzögern, war ein steter Kampf.

Das letzte Mal, als Kahlan diese Hilflosigkeit verspürt und geglaubt hatte, Richards Lebensenergie entgleite ihm, hatte wenigstens noch eine konkrete Hoffnung auf Rettung bestanden. Damals hatte sie nicht wissen können, daß sie mit dem Ergreifen dieser einen Chance eine wahre Flut von Ereignissen auslösen würde, mit denen letztendlich die Vernichtung der Magie begann.

Sie selbst hatte damals den Entschluß gefällt, diese Chance zu ergreifen, folglich war sie auch verantwortlich für das, was jetzt geschah. Hätte sie damals gewußt, was sie jetzt wußte, hätte sie ebenso entschieden und Richard das Leben gerettet, doch das änderte nichts an ihrer Verantwortung für die Folgen.

Sie war die Mutter Konfessor und als diese verantwortlich für das Leben aller, die magische Kräfte besaßen – die Geschöpfe der Magie. Statt dessen war nun nicht mehr auszuschließen, daß sie zur Ursache ihres Untergangs wurde.

Augenblicklich war Kahlan mit dem Schwert in der Hand auf den Beinen, als sie Caras gepfiffenen Vogelruf hörte, mit dem sie ihre Rückkehr ankündigte. Den Vogelruf hatte Richard ihr beigebracht.

Kahlan schob den Verschluß an der Laterne ganz zurück, um mehr Licht zu haben, und sah Tom, eine Hand auf dem Silbergriff des Messers in seinem Gürtel, sich von einem nahen Felsen erheben, wo er gesessen hatte, um das Lager sowie den Mann, den Kahlan mit ihrer Kraft berührt hatte, zu bewachen. Der lag noch immer regungslos am Boden zu Toms Füßen, wo Kahlan ihm befohlen hatte, liegen zu bleiben.

In diesem Moment trat Cara aus der Dunkelheit; wie Kahlan vermutet hatte, stieß sie einen Mann vor sich her. Die Stirn gerunzelt, überlegte sie angestrengt, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte. Dann erkannte sie ihn wieder und schloß kurz genervt die Augen – es war der junge Mann, dem sie vor etwa einer Woche begegnet waren, Owen.

»Ich hab versucht, Euch schon früher zu erreichen!«, rief er sogleich, als er Kahlan erblickte. »Ich hab’s versucht, ich schwöre.«

Cara hielt ihn bei den Schultern seiner dünnen Jacke gepackt und führte ihn näher heran, bis sie ihn mit einem Ruck zwang, genau vor Kahlan stehen zu bleiben.

»Wovon redest du überhaupt?«, fragte Kahlan.

Als Owen Jennsen hinter Kahlans Schulter stehen sah, hielt er, den Mund weit offen, einen kurzen Moment inne, ehe er antwortete.

»Ich schwöre, ich hatte vor, Euch schon früher aufzusuchen«, wandte er sich, offenkundig den Tränen nahe, an Kahlan. »Ich war in Eurem alten Lager.« Er raffte seine dünne Jacke vor der Brust zusammen und fing am ganzen Körper an zu zittern. »Da sah ich ... was Ihr dort ... zurückgelassen habt. Beim Gütigen Schöpfer, wie konntet Ihr nur so grausam sein?«

Kahlan fand, Owen sah aus, als könnte er sich jeden Moment übergeben. Er schlug sich die Hand vor den Mund und schloß, noch immer zitternd, die Augen.

»Falls du die Toten meinst«, erwiderte Kahlan, »diese Leute haben versucht, uns gefangen zu nehmen und umzubringen. Wir haben sie nicht aus ihren Schaukelstühlen am Kamin gerissen und hier, in diese Wüste, verschleppt, um sie niederzumetzeln. Sie haben uns angegriffen, und wir haben nichts weiter getan, als uns zu verteidigen.«

»Aber wie konntet Ihr ...« Owen stand vor ihr, außerstande, sein Zittern zu unterdrücken. Verzweifelt schloß er die Augen. »Nichts ist wirklich. Nichts ist wirklich.« Wieder und wieder murmelte er die Worte vor sich hin. so als seien sie eine Beschwörungsformel, geeignet, alles Übel von ihm fernzuhalten.

Rabiat zerrte Cara ihn ein kleines Stück nach hinten und setzte ihn auf einen Felsvorsprung. Die Augen wie beim Meditieren geschlossen, murmelte er unaufhörlich bei sich dieselben Worte, wahrend Cara eine Position links neben Kahlan bezog.

»Sag uns, was du hier zu suchen hast«, befahl sie ihm mit einem leisen Knurren. Auch wenn sie es nicht ausdrücklich erwähnte, war die stumme Drohung nicht zu überhören.

»Und zwar ein bißchen plötzlich«, setzte Kahlan hinzu. »Wir haben bereits Ärger genug, dich können wir nicht auch noch gebrauchen.«

Owen öffnete die Augen. »Ich kam in Euer Lager, um es Euch zu erzählen, aber ... all die Leichen ...«

»Wir wissen, was dort passiert ist. Jetzt erzähl uns endlich, weshalb du hergekommen bist.« Kahlan war mit ihrer Geduld am Ende. »Ich frage dich nicht noch einmal.«

»Lord Rahl«, jammerte Owen und ließ endlich seinen Tränen freien Lauf.

»Lord Rahl ... was«, drängte Kahlan ihn mit zusammengebissenen Zähnen.

»Lord Rahl wurde vergiftet«, sprudelte er schließlich unter Tränen hervor.

Eine Gänsehaut kroch kribbelnd Kahlans Beine hoch. »Woher in aller Welt willst du das wissen?«

Owen erhob sich, die Hände nervös in die Vorderseite seiner dünnen Jacke gekrallt. »Ich weiß es«, stieß er hervor »weil ich selbst ihn vergiftet habe.«

Konnte das sein? War es möglich, daß gar nicht die schwindende Kraft seiner Gabe Richard umzubringen drohte, sondern ein Gift? Sollten sie sich etwa alle getäuscht haben? War dieser Mann, der Richard vergiftet hatte, an allem schuld? Schon die ganze Zeit hatte sie gewußt, daß irgend etwas an ihm seltsam war. Auch Richard hatte ihn in gewisser Weise als beunruhigend empfunden und gespürt, daß mit ihm etwas nicht stimmte.

Irgendwie hatte dieser Fremde, der nun am ganzen Leibe zitternd vor ihnen stand, Richard vergiftet; auf keinen Fall würde sie zulassen, daß er entkam oder sich mit irgendeiner Lüge aus der Affäre zog.

Sie würde sich sein Geständnis holen.

Ihre Hand bewegte sich auf ihn zu – ihre Kraft war wiederhergestellt und bereit; sie konnte sie deutlich in ihrem Zentrum spüren.

Er gehörte ihr.

Völlig unvermittelt warf Cara sich zwischen die beiden und versperrte Kahlan die Sicht auf den Fremden. Kahlan versuchte, sie zur Seite zu schieben, doch die Mord-Sith war darauf vorbereitet und behauptete tapfer ihre Stellung. Cara packte Kahlan bei den Schultern und schob sie gewaltsam drei Schritte weit zurück.

»Nicht, Mutter Konfessor. Das solltet Ihr nicht tun.«

Kahlan war noch immer ganz auf Owen fixiert, auch wenn ihr die Sicht auf ihn genommen war. »Geht mir aus dem Weg.«

»Nein. So wartet doch.«

»Hinweg!« Kahlan versuchte erneut Cara zur Seite zu stoßen, doch die stand mit gespreizten Beinen da und ließ sich keinen Zoll bewegen. »Cara!«

»Nein. Hört mir zu.«

»Aus dem Weg, Cara!«

»Nein. So hört doch endlich zu!«

Kahlan schäumte vor Wut. »Was erlaubt Ihr Euch!«

»Hört Euch doch erst einmal an, was er zu sagen hat. Er wird einen Grund gehabt haben herzukommen. Wenn er fertig ist, könnt Ihr, wenn Ihr wollt, Eure Kraft immer noch gebrauchen, oder mir erlauben, ihn zum Schreien zu bringen, bis sich der Mond die Ohren zuhält, aber zuvor müssen wir uns anhören, was er zu sagen hat.«

»Ich werde schon sehr bald wissen, was er zu sagen hat, und es wird die Wahrheit sein. Denn wenn ich ihn berühre, wird er ein umfassendes Geständnis ablegen.«

»Und wenn Lord Rahl deswegen stirbt? Sein Leben steht auf dem Spiel. Das müssen wir zuallererst bedenken.«

»Das tue ich ja. Weshalb, glaubt Ihr, tue ich das wohl?«

Cara zog Kahlan zu sich heran, um ihr leise etwas zuzuflüstern. »Und was, wenn Eure Kraft den Mann aus irgendeinem Grund, den wir bislang nicht einmal kennen, tötet? Erinnert Ihr Euch noch, welche Folgen es hatte, als wir das letzte Mal nicht ganz im Bilde waren – damals, als Marlin Pickard behauptete, er habe die Absicht, Richard zu töten? Damals schien alles ganz einfach, genauso wie jetzt.

Was, wenn jemand ganz bewußt darauf abzielt, daß Ihr diesen Mann berührt, und das Ganze nichts weiter ist als ein Trick und er selbst eine Art Köder? Ihr würdet Euch exakt so verhalten, wie dieser Jemand es geplant hat, und das wäre alles andere als ein simpler Schnitzer, der sich leicht wieder ausbügeln ließe. Ist Lord Rahl erst einmal tot, können wir ihn nicht wieder lebendig machen.«

Cara hatte Tränen in ihren leidenschaftlichen blauen Augen, ihre kräftigen Finger gruben sich in Kahlans Schultern. »Was kann es schaden, ihn erst anzuhören, ehe Ihr ihn berührt? Anschließend könnt Ihr ihn meinetwegen berühren, falls Ihr es dann noch für nötig haltet – aber hört ihn zuvor wenigstens an. Ich flehe Euch an, als Schwester des Strafers, Mutter Konfessor, wartet noch – aus Rücksicht auf Lord Rahls Leben.«

Mehr als alles andere war es Caras Abneigung gegen jede Art von Gewaltanwendung, die Kahlan innehalten ließ, denn normalerweise war sie nur zu bereit, Richard unter Anwendung körperlicher Gewalt zu beschützen.

Im trüben Licht der Laterne versuchte Kahlan zu ergründen, was sich hinter Caras leidenschaftlichem Appell verbarg. Trotz ihrer Einwände war Kahlan unsicher, ob sie es sich erlauben konnte, das Risiko einzugehen und zu zögern.

Sie sah Cara wieder in die Augen. »Also gut. Hören wir uns meinetwegen an, was er zu sagen hat.« Sie strich Cara mit dem Daumen eine Träne aus dem Gesicht, eine Träne der Angst um Richard, eine Träne der Angst, ihn zu verlieren. »Danke«, fügte sie leise hinzu.

Cara nickte kurz, dann ließ sie von ihr ab, drehte sich um, verschränkte die Arme vor der Brust und heftete ihren durchdringenden Blick auf Owen.

»Du tätest gut daran, dafür zu sorgen, daß ich es nicht bereue, sie zurückgehalten zu haben.«

Owen ließ den Blick über die Gesichter der Umstehenden schweifen. Friedrich, Tom, Jennsen, Cara und Kahlan, sogar der unweit am Boden liegende Kerl, den Kahlan bereits berührt hatte, starrten ihn abwartend an.

»Zunächst einmal, wie willst du Richard überhaupt vergiftet haben?«, fragte Kahlan.

Owen benetzte seine Lippen; er hatte spürbar Angst, mit der Wahrheit herauszurücken, obwohl er offenbar aus eben diesem Grund zurückgekommen war. Schließlich senkte er den Blick und starrte auf den Boden.

»Als ich die Staubfahne des Wagens sah und wußte, ich war ganz in Eurer Nähe, hab ich den letzten Rest meines Wassers fortgeschüttet; es sollte so aussehen, als wäre es mir ausgegangen. Nachdem Lord Rahl mich gefunden hatte, bat ich ihn um einen Schluck zu trinken. Als er mir daraufhin seinen Wasserschlauch reichte, gab ich unmittelbar vor dem Zurückgeben das Gift hinein. Ursprünglich hatte ich vor, Euch beide zu vergiften, den Lord Rahl und auch Euch, Mutter Konfessor aber Ihr hattet Euer eigenes Wasser und lehntet ab, als er Euch von seinem anbot. Aber das spielt vermutlich keine Rolle; es wird wohl auch so funktionieren.«

Kahlan konnte sich keinen Reim auf sein Geständnis machen. »Du hattest also vor, uns beide umzubringen, konntest dann aber nur Richard vergiften.«

»Umzubringen ...?« Die Vorstellung ließ Owen erschrocken aufsehen. Er schüttelte entschieden den Kopf. »Aber nein, ganz und gar nicht, Mutter Konfessor. Ich hatte schon vorher versucht, Euch zu erreichen, aber dann kamen mir diese Männer zuvor und überfielen Euer Lager. Ich mußte doch Lord Rahl das Gegenmittel bringen.«

»Verstehe. Du wolltest ihn retten – nachdem du ihn vergiftet hattest!«

Owen schien ihr gar nicht zuzuhören. »Und Ihr wart einfach fort – weitergezogen; ich wußte doch nicht in welche Richtung Ihr weitergereist wart. Es war schwierig, in der Dunkelheit Euren Wagenspuren zu folgen, aber ich hatte keine andere Wahl. Ich mußte laufen, um Euch einzuholen – noch dazu in ständiger Angst vor den Riesenkrähen. Aber ich wußte nur eins: Bis heute Abend mußte ich Euch eingeholt haben. Länger durfte ich auf keinen Fall warten. Ich hatte Angst, aber ich mußte unbedingt zu Euch.«

Die ganze Geschichte ergab in Kahlans Augen keinen Sinn.

»Du gehörst also zu den Zeitgenossen, die ein Feuer anzünden, Alarm schlagen und anschließend beim Löschen helfen – und das alles nur, um als Held dazustehen.«

Verwirrt schüttelte Owen den Kopf. »Nein, nein, nichts dergleichen. Ganz und gar nicht – ich schwöre es. Ich habe das nur äußerst ungern getan, wirklich. Äußerst ungern.«

»Wieso hast du ihn dann überhaupt vergiftet?«

Verzweifelt verknitterte Owen seine dünne Jacke mit beiden Händen, während ihm die Tränen über die Wangen liefen. »Wir müssen ihm das Gegenmittel geben, Mutter Konfessor, jetzt gleich, sonst stirbt er. Die Zeit ist schon sehr knapp.« Er faltete die Hände wie zum Gebet und richtete den Blick gen Himmel. »Gütiger Schöpfer, bitte gib, daß es noch nicht zu spät ist, bitte.« Er streckte die Hand nach Kahlan aus, wie um sie in sein inständiges Gebet einzuschließen und sie von seiner Aufrichtigkeit zu überzeugen, doch ihr Gesichtsausdruck ließ ihn seine Hand wieder zurückziehen. »Wir dürfen nicht länger warten, Mutter Konfessor. Ich schwöre, ich habe versucht, Euch früher zu erreichen. Wenn Ihr nicht augenblicklich dafür sorgt, daß er seine Medizin einnimmt, bedeutet das sein Ende. Dann ist alles verloren – und alles wäre umsonst gewesen!«

Kahlan war unschlüssig, ob sie ihm trauen durfte; schließlich ergab es keinen Sinn, jemanden zu vergiften und ihn anschließend wieder zu retten. »Wo ist dieses Gegengift?«

»Hier.« Hastig zog Owen eine winzige Phiole aus der Innentasche seiner Jacke. »Hier ist es. Bitte, Mutter Konfessor.« Er hielt ihr das rechteckige Glasfläschchen hin. »Er muß es sofort einnehmen. Bitte, beeilt Euch, sonst stirbt er.«

»Oder aber dieses Mittel tötet ihn.«

»Wenn ich ihn hatte töten wollen, hätte ich es tun können, als ich das Gift heimlich in seinen Wasserschlauch füllte. Ich hätte eine größere Menge nehmen oder noch einfacher, ich hätte gar nicht erst mit dem Gegenmittel herzukommen brauchen. Ich bin kein Mörder, ich schwöre es Euch – deswegen mußte ich ja überhaupt zu Euch.«

Owens wirres Gerede war nicht eben dazu angetan, seine Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Kahlan war von seinem Angebot nicht überzeugt; andererseits konnte Richard sein Leben verlieren, wenn sie die falsche Entscheidung traf.

»Ich finde, wir sollten Richard das Gegengift geben«, sagte Jennsen leise.

»Wieder so ein Versuch mit ungewissem Ausgang?«, fragte Kahlan.

»Du sagest doch selbst, daß man manchmal keine andere Wahl hat, als prompt zu handeln; aber auch dann muß man es nach bestem Ermessen und unter Berücksichtigung aller Erkenntnisse und Erfahrungen tun. Vorhin, im Wagen, hörte ich Cara zu dir sagen, sie wisse nicht, ob Richard die Nacht überleben wird. Und jetzt behauptet Owen, ein Gegenmittel zu besitzen; ich finde, dies ist eine jener Situationen, in denen unverzügliches Handeln geboten ist.«

»Falls jemand meine Meinung hören will«, setzte Tom in vertraulichem Ton hinzu, »dann muß ich ihr Recht geben. Ich sehe wirklich keine andere Möglichkeit. Aber wenn Ihr einen anderen Weg wißt, Lord Rahl zu retten, dann wäre dies wohl der rechte Augenblick, damit herauszurücken.«

Doch abgesehen von dem Besuch bei Nicci hatte Kahlan keine Alternative parat, und diese Hoffnung schien sich mehr und mehr als nichtig zu erweisen.

»Mutter Konfessor«, warf Friedrich begütigend ein, »Ich finde auch, er hat Recht. Wenn Ihr ihm das Mittel gebt, dann in der Gewißheit, daß wir uns alle einig waren, es sei die bestmögliche Lösung.«

Mit anderen Worten: Niemand würde ihr einen Vorwurf machen, wenn Richard durch das Gegengift ums Leben käme.

»Wie viel sollen wir ihm einflößen?«, fragte Jennsen.

Owen eilte zu ihr hin. »Das ganze Fläschchen. Zwingt ihn, alles hinunterzuschlucken.« Er drückte Kahlan die Phiole in die Hand. »Beeilt Euch.«

»Du hast ihm großes Leid zugefügt«, erklärte Kahlan im Tonfall einer unverhohlen Drohung. »Dein Gift hat ihm ungeheure Schmerzen bereitet. Er hat Blut gespuckt und vor Schmerzen mehrmals das Bewußtsein verloren. Es wäre ein Irrtum zu glauben, er werde dir das je vergessen oder womöglich sogar dankbar sein, daß du zurückgekommen bist, um ihm das Leben zu retten.«

Dann entfernte sie den Korken mit den Zähnen und spuckte ihn aus. Vorsichtig, um ja keinen Tropfen des Gegenmittels zu verschütten, setzte sie Richard das Fläschchen an die Lippen und kippte es. Sie sah zu, wie die Flüssigkeit seine Lippen benetzte, neigte seinen Kopf weiter nach hinten, so daß sein Mund sich ein wenig weiter öffnete, und neigte das Fläschchen stärker. Behutsam träufelte sie ihm einige Tropfen der klaren Flüssigkeit in den Mund.

Nichts deutete darauf hin, daß der Inhalt des Fläschchens tatsächlich ein Gegenmittel war; die Flüssigkeit war vollkommen farblos und hatte ebenso gut Wasser sein können. Als Richard die Lippen ein paar Mal schmatzend öffnete und schloß und die Menge, die sie ihm eingeflößt hatte, hinunterschluckte, roch Kahlan an der kleinen Phiole. Die Flüssigkeit verströmte einen zarten Zimtgeruch.

Sie träufelte noch etwas mehr in Richards geöffneten Mund. Er hustete, schluckte es aber schließlich hinunter. Mit dem Finger wischte Kahlan einen Tropfen auf, der ihm übers Kinn gelaufen war, und beförderte ihn in den Mund zurück. Mit ängstlich pochendem Herzen schüttete sie ihm die restliche Flüssigkeit hinter die halb geöffneten Lippen. Das leere Fläschchen zwischen Daumen und Zeigefinger, drückte sie Richards Unterkiefer nach oben, legte seinen Kopf in den Nacken und zwang ihn so zu schlucken.

Sie seufzte erleichtert, als er das Mittel nach mehrfachem Schlucken vollständig zu sich genommen hatte.

»Habt Ihr ihm auch wirklich alles gegeben? Hat er das Fläschchen vollständig geleert?«, wollte Owen wissen.

Prompt war Caras Strafer zur Hand. Owen, in seiner übereifrigen Sorge um Richard, hielt inne, als Cara ihm den Strafer gegen die Schulter rammte.

Er torkelte einen Schritt zurück. »Entschuldigung.« Er rieb sich die Schulter, wo Caras Strafer ihn getroffen hatte. »Ich wollte doch nur nachsehen, wie es ihm geht. Ich hatte nichts Böses im Sinn. Mir ist sehr daran gelegen, daß er wieder gesund wird, das schwöre ich.«

Kahlan starrte ihn völlig entgeistert an. Caras Blick wanderte erst zu ihrem Strafer, dann wieder zurück zu ihm.

Der Strafer hatte bei ihm nicht funktioniert; seine Magie hatte ihm nichts anhaben können.

Selbst Jennsen starrte Owen unverhohlen an; offenbar war er vom gleichen Schlag wie sie – eine Säule der Schöpfung, von der Gabe völlig unbefleckt und immun gegen Magie.

Eigentlich hätte ihn der Strafer auf die Knie zwingen müssen.

»Richard hat das Gegenmittel vollständig getrunken; jetzt muß es erst einmal wirken. Ich denke, in der Zwischenzeit sollten wir sehen, daß wir ein wenig Schlaf bekommen.« Kahlan machte Cara ein Zeichen mit dem Kopf. »Würdet Ihr Euch um die Einteilung der Wachen kümmern? Ich bleibe bei Richard.«

Cara nickte. Sie warf Tom einen Blick zu, der sofort verstand.

»Owen«, sagte Tom, »warum kommst du nicht her zu mir und schläfst heute Nacht hier drüben, gleich neben diesem Burschen.«

Owen erbleichte, als er den Gesichtsausdruck des D’Haraners sah und ihm klar wurde, daß dies kein Angebot war, das er ablehnen konnte. »Also gut, einverstanden.« Er wandte sich wieder Kahlan zu. »Ich werde beten, daß er das Gegenmittel rechtzeitig bekommen hat. Ich werde für ihn beten.«

»Bete lieber für dich selbst«, erwiderte sie.

Nachdem sich alle entfernt hatten, legte Kahlan sich neben Richard auf den Boden. Jetzt, endlich mit ihm allein, konnte sie ihre Tränen der Sorge nicht länger zurückhalten. Trotz der warmen Nacht zitterte Richard vor Kälte; sie zog die Decke hoch und wickelte ihn darin ein, dann legte sie ihm eine Hand auf die Schulter und schmiegte sich – ungewiss, ob er beim Anbruch des neuen Tages noch bei ihr sein würde – ganz eng an ihn.

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