30

Nyda maß sie mit kühlem Blick, während sie schweigend zur Seite trat, um einer weiteren Person, die ihr folgte, Platz zu machen. Als Erstes erschien ein langes, mit braunem Hosenstoff umhülltes Bein über der Schwelle, gefolgt von einem gebeugten Oberkörper, der sich nur mit Mühe durch die Öffnung zwängen konnte. Erst als sich der dazugehörige Mann zu seiner vollen Größe aufrichtete, erkannte Ann überrascht, um wen es sich handelte.

»Ann!« Nathan breitete die Arme aus, als erwartete er, freudig umarmt zu werden. »Wie geht es dir? Nyda hat mir deine Nachricht überbracht. Du wirst doch hoffentlich gut behandelt?«

Ann blieb standhaft und musterte das strahlende Gesicht mit offenkundigem Mißbehagen. »Ich lebe noch, was ich aber wohl kaum dir zu verdanken habe, Nathan.«

Natürlich erinnerte sie sich nur zu gut an Nathans stattliche Körpermaße und an seine kräftigen Schultern, trotzdem erschien er ihr jetzt, da der Scheitel seiner dichten, langen grauen Haare beinahe die Meißelspuren an der steinernen Decke berührte, noch größer. Die winzige Zelle ließ seine Schultern, die sie nahezu vollständig füllten, noch breiter wirken. Er trug die hohen Stiefel über seiner Hose, dazu ein weißes Rüschenhemd unter einer offenen Weste. An seiner rechten Schulter war ein eleganter Überwurf aus grünem Samt befestigt. Das Schwert in der eleganten Scheide an seiner Hüfte schimmerte matt im Lichtschein der Laterne.

Sein Gesicht, sein ebenmäßiges Gesicht, so ausdrucksvoll und einzigartig, gab ihrem Herzen neuen Auftrieb.

Nathan bedachte sie mit einem strahlenden Lächeln, wie dies nur ein Rahl vermochte, ein Lächeln, in dem sich Freude, Begierde und Macht zu einer einzigartigen Mischung verbanden. Sah er nicht aus, als hätte er das dringende Bedürfnis, eine junge Frau in seine kräftigen Arme zu ziehen und sie gegen ihre Erlaubnis zu küssen?

Er erfaßte ihr derzeitiges Quartier mit einer beiläufigen Handbewegung. »Aber hier drinnen bist du sicher, meine Liebe. Niemand kann dir ein Leid antun, solange du in unserer Obhut weilst, niemand vermag dich zu behelligen. Du bekommst hervorragende Verpflegung – gelegentlich sogar ein Gläschen Wein. Was könntest du mehr verlangen?«

Die geballten Fäuste neben ihrem Körper, ging sie mit einem Ungestüm auf ihn los, das die Mord-Sith, obschon sie sich nicht von der Stelle rührte, sofort zu ihrem Strafer greifen ließ. Nathan wich keinen Zoll zurück und bewahrte sich sein Lächeln, ohne seine Augen von ihr abzuwenden.

»Was ich mehr verlangen könnte?«, zeterte Ann. »Was ich mehr verlangen könnte? Ich will hier raus. Das ist es, was ich verlange!«

Nathans schmallippiges, vielsagendes Lächeln traf sie bis ins Mark. »Tatsächlich?«, erwiderte er; es war ein stummer Vorwurf zusammengefaßt in einem einzigen Wort.

Ann stand in der steingewordenen Stille des Verlieses und starrte zu ihm hoch, unfähig, auch nur ein einziges Argument vorzubringen, das nicht sofort auf sie zurückgefallen wäre.

Sie warf einen wütenden Seitenblick auf die Mord-Sith. »Was habt Ihr ihm ausgerichtet?«

»Nyda richtete mir aus, daß du mich zu sehen wünschst«, antwortete Nathan an ihrer Stelle. Er breitete die Arme aus. »Und da bin ich, wie verlangt. In welcher Angelegenheit möchtest du mich sprechen, meine Liebe?«

»Behandle mich nicht von oben herab, Nathan. Du weißt sehr wohl, weswegen ich dich sprechen möchte. Du weißt, weshalb ich hier in D’Hara bin – und warum ich in den Palast des Volkes gekommen bin.«

Nathan verschränkte die Hände hinter seinem Rücken. Der Zweck seines Lächelns hatte sich erschöpft.

»Nyda«, wandte er sich an seine Begleiterin, »würdet Ihr uns einen Augenblick allein lassen, seid so gut.«

Die Mord-Sith maß Ann mit einem flüchtigen Blick; mehr war nicht nötig. Sie war für Nathan keine Gefahr. Er war ein Zauberer – zweifellos hatte er ihr gegenüber durchblicken lassen, er sei der größte Zauberer aller Zeiten – und befand sich im Stammsitz der Familie Rahl. Er brauchte diese alte Hexenmeisterin nicht zu fürchten – jedenfalls nicht mehr.

Nyda warf Nathan einen Wenn-Ihr-mich-braucht-ich-warte-draußen-Blick zu, ehe sie ihren makellosen Körper mit geschmeidiger Grazie durch die Türöffnung schlängelte – mühelos wie eine Katze, die durch eine Hecke schlüpft.

Nathan, die Hände noch immer hinter seinem durchgedrückten Rücken verschränkt, stand in der Zellenmitte und wartete darauf, daß Ann zu sprechen begann.

Statt dessen trat Ann zu ihrem Bündel und ließ sich auf der Steinbank nieder, die ihr gleichzeitig als Bett, Tisch und Stuhl diente. Sie schlug die Klappe zurück, langte hinein und suchte, bis ihre Finger gegen das kalte Metall des gesuchten Gegenstandes stießen. Ann zog ihn heraus und beugte sich darüber, so daß ihr Schatten ihn verdeckte.

Schließlich drehte sie sich herum. »Ich habe dir etwas mitgebracht, Nathan.«

Sie hielt ihm einen Rada’Han hin, den sie ihm hatte umlegen wollen. Wie sie dieses Kunststück hatte schaffen wollen, war ihr in diesem Moment nicht mehr klar, doch daß es ihr mit der nötigen Entschlossenheit gelungen wäre, stand für sie außer Frage. Sie war Annalina Aldurren, die Prälatin der Schwestern des Lichts – oder es zumindest einst gewesen. Kurz vor ihrem und Nathans vorgetäuschten Tod hatte sie dieses Amt Verna übertragen.

»Du möchtest, daß ich mir eigenhändig diesen Halsring umlege?«, fragte Nathan mit ruhiger Stimme. »Erwartest du das wirklich?«

Ann schüttelte den Kopf. »Nein, Nathan, ich möchte ihn dir zum Geschenk machen. Ich habe lange nachgedacht, während ich hier unten saß – unter anderem darüber, daß ich mein Gefängnis wahrscheinlich nie wieder verlassen werde.«

»Welch ein Zufall«, sagte Nathan. »Auf denselben Gedanken habe damals auch ich viel Zeit verwendet.«

»Ja«, meinte Ann und nickte. »Vermutlich.« Sie reichte ihm den Rada’Han. »Hier, nimm ihn. Ich will nie wieder eins von diesen Dingern sehen. Auch wenn ich damals überzeugt war, das einzig Richtige zu tun, war mir jede einzelne Minute davon zutiefst verhaßt, Nathan, vor allem, weil ich es dir antun mußte. Mittlerweile bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß mein Leben ein einziger Irrtum war. Es tut mir leid, daß ich dich jemals wie einen Gefangenen hinter diesen Schilden weggesperrt habe. Könnte ich mein Leben noch einmal von vorn beginnen, ich würde manches anders machen. Ich erwarte keine Nachsicht; schließlich habe ich sie dir auch nicht gewährt.«

»Nein«, sagte Nathan, »das hast du allerdings nicht.«

Seine himmelblauen Augen schienen bis auf den Grund ihrer Seele zu dringen; es war so eine Eigenart von ihm. Richard hatte denselben durchdringenden Blick der Rahls geerbt. »Es tut dir also leid, daß du mich mein Leben lang wie einen Gefangenen gehalten hast. Weißt du auch, warum das falsch war, Ann? Ist dir die Ironie dessen überhaupt bewußt?«

Sie hörte sich, beinahe gegen ihren Willen, sagen: »Welche Ironie?«

»Nun«, meinte er achselzuckend, »wofür kämpfen wir denn überhaupt?«

»Du weißt sehr wohl, wofür wir kämpfen, Nathan.«

»Ja, das stimmt. Aber weißt du es auch? Dann verrate mir doch bitte, was es ist, das wir unter Aufbietung all unserer Kraft beschützen, bewahren und am Leben zu erhalten versuchen?«

»Die Gabe der Magie des Schöpfers, was sonst? Für ihren Fortbestand in der Welt kämpfen wir. Wir kämpfen für das Überleben derer, die mit ihr geboren wurden, und daß sie lernen, dieses Talent in vollem Umfang auszuschöpfen. Wir kämpfen, damit jeder Einzelne von ihnen dieses Talent besitzen und es lobpreisen kann.«

»Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, findest du nicht auch? Du fürchtest das, wofür es sich angeblich zu kämpfen lohnt. Die Imperiale Ordnung vertritt den Standpunkt, es diene keinesfalls dem Wohl der Menschheit, wenn die mit der Gabe Gesegneten Magie besitzen, weshalb ihnen dieses einzigartige Talent genommen werden müsse. Sie behauptet, dieses Talent verteile sich nicht gleichmäßig auf alle Menschen, demzufolge sei es gefährlich, wenn nur einige wenige es besitzen – weshalb man sich von dem Glauben verabschieden müsse, der Mensch könne sein Leben selbst gestalten. Alle mit Magie Geborenen müßten daher aus dieser Welt verstoßen werden, damit sie für die, die dieses Talent nicht besitzen, zu einem besseren Ort werde.

Und doch war ebendies einer der Leitsätze deines ganzen Tuns, war diese unsinnige Überzeugung die Grundlage deines Vorgehens. Wegen dieses Talentes hast du mich weggesperrt. Du hast, was ich kann, nicht aber andere können, als mein verbrecherisches Erbe betrachtet, das man nicht auf die Menschheit loslassen dürfe.

Und doch hast du dich dafür eingesetzt, dieses Etwas, das du bei mir fürchtest – mein einzigartiges Talent –, in anderen zu erhalten. Du kämpfst dafür, daß jeder mit Magie Geborene das unveräußerliche Recht auf ein selbstbestimmtes Leben hat und er sein Talent nach besten Kräften nutzen darf ... und doch hast du mich eingesperrt, um mir ebendieses Recht vorzuenthalten.«

»Nur weil ich möchte, daß die Wölfe des Schöpfers ihrer Bestimmung gemäß ungehindert auf die Jagd gehen können, muß ich mich doch nicht gleich fressen lassen.«

Nathan beugte sich vor. »Ich bin aber kein Wolf, sondern ein Mensch. Du hast über mich gerichtet, mich überführt und zu lebenslanger Haft in deinem Verlies verurteilt – dafür, daß ich der bin, als der ich geboren wurde, und etwas tun könnte, was dir Angst macht – wohlgemerkt: allein, weil ich die Fähigkeit dazu besaß. Dann hast du deine innere Zerrissenheit dadurch auszugleichen versucht, daß du mein Gefängnis – um dich von deiner Güte zu überzeugen – luxuriös ausstaffiertest, dabei aber gleichzeitig die ganze Zeit so getan, als seist du überzeugt, wir müßten dafür kämpfen, daß zukünftige Generationen ihr Leben selbst bestimmen können.

Die luxuriöse Ausstattung meines Gefängnisses diente also nur dazu, dich selbst über die wahre Natur dessen hinwegzutäuschen, was du vertratst. Sieh dich um, Ann.« Mit einer ausladenden Handbewegung deutete er auf die steinernen Mauern. »Das hast du all jenen zugedacht, die deiner Meinung nach kein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben haben. Dein Entschluß, gefaßt aufgrund einer Fähigkeit anderer, die dir nicht paßt, gleicht dem der Imperialen Ordnung. Er besagt, daß Menschen, die über ein größeres Potential verfügen, zum Wohle der weniger Bemittelten geopfert werden müssen. Wie hübsch du dein Verlies auch dekorieren magst, von innen sieht es stets so aus wie hier.«

Ann versuchte ihre Gedanken zu ordnen und ihre Stimme wiederzufinden, ehe sie antwortete. »Ich hatte geglaubt, ich sei zu einer ähnlichen Erkenntnis gelangt, als ich ganz allein hier unten saß, aber jetzt muß ich feststellen, daß das so nicht stimmt. All die Jahre, die ich dich eingesperrt hatte, war mir unwohl zumute, trotzdem habe ich mich nie gefragt, was meine eigentlichen Gründe waren.

Du hast Recht, Nathan. Ich war überzeugt, du besäßest das Potential, großes Unheil anzurichten. Ich hätte dir helfen sollen zu erkennen, was richtig ist, damit du vernünftig hättest handeln können, statt immer nur das Schlimmste von dir zu erwarten und dich einzusperren. Das tut mir leid, Nathan.«

Er stemmte die Hände in die Hüften. »Ist es dir wirklich ernst damit, Ann?«

Sie nickte, unfähig, ihm ins Gesicht zu sehen, während ihr die Tränen in die Augen traten. Von anderen hatte sie stets Ehrlichkeit verlangt, nur zu sich selbst war sie nie aufrichtig gewesen. »Ja, Nathan, es ist mir bitterernst.«

Kaum war ihr Geständnis heraus, schlich sie zu ihrer Bank und ließ sich kraftlos darauf niedersinken. »Ich danke dir, daß du gekommen bist, Nathan. Ich werde dich nicht noch einmal nach hier unten bemühen. Ich werde meine Strafe klaglos akzeptieren. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich jetzt gern allein sein, um zu beten und über die Schuld nachzudenken, die ich auf mein Gewissen geladen habe.«

»Dafür ist später noch Zeit. Jetzt beweg deinen Hintern, steh auf und pack deine Sachen zusammen. Es gibt Dinge, um die wir uns kümmern müssen, und zwar sofort.«

Ann sah verständnislos zu ihm hoch. »Wie?«

»Wir haben Wichtiges zu erledigen. Komm schon, Frau, wir vergeuden nur unsere Zeit. Wir müssen sofort los. Wir stehen in diesem Kampf auf derselben Seite, Ann. Dann sollten wir auch dementsprechend handeln und gemeinsam für die Wahrung unserer Ziele kämpfen.« Er beugte sich über sie. »Es sei denn, du hast beschlossen, dich zur Ruhe zu setzen und für den Rest deines Lebens hier herumzuhocken. Wenn nicht, sollten wir jetzt aufbrechen. Es gibt Ärger.«

Ann ließ sich von der Steinbank gleiten. »Ärger? Was denn für Ärger?«

»Ärger mit einer Prophezeiung.«

»Mit welcher Prophezeiung?«

Die Fäuste in die Hüften gestemmt, bedachte Nathan sie mit einem düsteren Blick. »Darüber darf ich dir nichts sagen. Prophezeiungen sind den Eingeweihten vorbehalten.«

Ann schürzte beleidigt die Lippen, bereit, ihm wegen dieser Frechheit gehörig den Kopf zu waschen, als sie plötzlich ein Lächeln um seine Mundwinkel spielen sah. Es steckte sie augenblicklich an.

»Was ist passiert?«, fragte sie im Tonfall von Freunden, die beschlossen hatten, daß vergangene Reibereien ausgeräumt und die Dinge wieder im Lot waren.

»Du wirst es nicht glauben, wenn ich es dir sage, Ann«, klagte Nathan. »Es ist schon wieder dieser Junge.«

»Richard?«

»Kennst du einen anderen Jungen, der ständig in Schwierigkeiten gerät, in die sich nur Richard bringen kann?«

»Nun, ich betrachte Richard nicht mehr unbedingt als Jungen.«

Nathan stieß einen Seufzer aus. »Vermutlich hast du Recht, aber in meinem Alter fallt es nicht ganz leicht, einen so jungen Burschen als Mann zu sehen.«

»Aber das ist er«, versicherte Ann.

»Ja, ich schätze, das stimmt wohl.« Nathan schmunzelte. »Zudem ist er ein Rahl.«

»Und in welche Schwierigkeiten hat er sich diesmal gebracht?«

Nathans gute Laune verflog im nu. »Er hat den Boden der Prophezeiung verlassen.«

»Was redest du da? Was hat er getan?«

»Ich sage dir, Ann, der Junge hat den Boden der Prophezeiung einfach verlassen und innerhalb der Prophezeiung ein Gebiet betreten, in dem besagte Prophezeiung nicht existiert.«

Ann sah die ernste Sorge auf Nathans Gesicht, doch was er da redete, ergab keinen Sinn; nicht zuletzt deswegen fürchteten sich die Menschen oft vor ihm. Wenn er über Dinge sprach, die außer ihm niemand begriff, gab er den Menschen bisweilen das Gefühl, irgendein völlig unverständliches Zeug daherzureden. Zuweilen vermochte nur ein anderer Prophet in vollem Umfang wirklich nachzuvollziehen, was er erkannt hatte. Mit seinen Augen, den Augen eines Propheten, konnte er Dinge erkennen, die anderen verschlossen blieben.

Sie aber hatte ihr Leben lang mit Prophezeiungen gearbeitet, weswegen sie vermutlich besser als jeder andere seine Gedankengänge, das, was sich ihm offenbarte, nachvollziehen konnte – zumindest bis zu einem gewissen Grad.

»Wie kannst du Kenntnis von einer Prophezeiung haben, Nathan, wenn diese gar nicht existiert? Das begreife ich nicht, erklär es mir.«

»Hier, im Palast des Volkes, gibt es Bibliotheken voller kostbarer Bücher mit Prophezeiungen, die einzusehen ich noch nie Gelegenheit hatte. Ich hatte zwar Grund, die Existenz dieser Prophezeiungen zu vermuten, war mir aber nie wirklich sicher, noch wußte ich, was sie besagten. Seit ich hier bin, beschäftige ich mich mit ihnen; dabei bin ich auf Verbindungen zu anderen bekannten Prophezeiungen gestoßen, die uns einst in den Kellergewölben des Palasts der Propheten zur Verfügung standen. Die Prophezeiungen hier füllen einige ausschlaggebende Lücken in den uns bereits bekannten Prophezeiungen.

Das Wichtigste jedoch ist, ich habe einen völlig neuen, mir bisher völlig unbekannten Zweig von Prophezeiungen entdeckt, der erklärt, warum ich gegenüber gewissen Geschehnissen blind gewesen bin. Beim Studium der Gabelungen und Umkehrungen auf diesem Zweig fand ich heraus, daß Richard eine Reihe von Verbindungen benutzt hat, die einem bestimmten Verlauf der Prophezeiungen folgen; einem Verlauf, der in die Vergessenheit führt – in etwas, das, soweit ich es beurteilen kann, gar nicht existiert.«

Nathan, eine Hand auf der Hüfte, während er mit der anderen unsichtbare Linien in die Luft zeichnete, lief beim Sprechen in der winzigen Zelle auf und ab. »Diese neue Verbindung verweist auf Dinge, die ich noch nie zuvor gesehen habe, auf Zweige, von deren Existenz ich zwar stets überzeugt war, die jedoch irgendwie zu fehlen schienen. Diese Zweige entsprechen außergewöhnlich gefährlichen Prophezeiungen, die man hier insgeheim aufbewahrt hatte. Jetzt weiß ich auch, warum. Selbst ich hätte sie, wäre ich vor Jahren auf sie gestoßen, durchaus fehldeuten können. Diese Zweige verweisen auf gewisse Leerräume; da es aber Leerräume sind, entzieht sich ihr Wesen unserer Erkenntnis. Ein solcher Widerspruch ist unauflösbar, weshalb es ihn nicht geben dürfte.

Nun hat Richard sich in den Bereich dieser Leerräume begeben, wo die Prophezeiungen ihn nicht erkennen können; dort können sie weder ihm noch, was schlimmer ist uns helfen. Aber nicht nur das: Es ist, als ob sein Aufenthaltsort und das, was er dort tut, gar nicht existierten.

Richard hat sich auf etwas eingelassen, das die Möglichkeit eines Endes der gesamten uns bekannten Welt in sich birgt.«

Ann wußte, Nathan würde bei einem Problem dieses Ausmaßes niemals übertreiben. Obschon ihr nach wie vor vollkommen schleierhaft war, wovon er eigentlich redete, ließ ihr die kurze Zusammenfassung den kalten Schweiß ausbrechen.

»Und was können wir dagegen tun?«

Nathan warf in einer verzweifelten Geste die Arme in die Luft. »Wir werden diese Leerräume ebenfalls aufsuchen und ihn dort wieder herausholen müssen. Wir müssen ihn in die real existierende Welt zurückholen.«

»Soll heißen, in die laut Prophezeiungen real existierende Welt.«

Die tiefen Furchen auf Nathans Stirn kehrten zurück. »Das sagte ich doch gerade, oder? Wir müssen ihn irgendwie auf den Strang der Prophezeiung zurückbringen, und zwar dort, wo von ihm die Rede ist.«

Ann räusperte sich. »Und wenn uns das nicht gelingt?«

Nathan griff sich erst die Laterne, dann ihr Bündel. »Dann ist er nicht mehr länger Teil der entwicklungsfähigen Linien der Prophezeiungen, was wiederum hieße, er würde nie wieder mit den Dingen dieser Welt zu tun bekommen.«

»Soll das heißen, er wird sterben, wenn es uns nicht gelingt, ihn von dort, wo immer das sein mag, zurückzuholen?«

Nathan musterte sie mit wirrem Blick. »Rede ich eigentlich gegen die Wand? Natürlich würde er sterben! Wenn der Junge den Pfad der Prophezeiungen verläßt wenn er sämtliche Verbindungen zu jenen Prophezeiungen kappt, in denen von ihm die Rede ist, macht er alle Linien der Prophezeiungen ungültig, auf denen er existiert. Damit würden sie zu falschen oder unechten Prophezeiungen, und die Prophezeiungen, in denen von ihm die Rede ist, würden nicht mehr in Erfüllung gehen. In allen anderen Verbindungen ist kein Verweis auf ihn enthalten – weil er auf diesen Linien zuvor stirbt.«

»Und was geschieht auf den Verbindungen, die keinen Verweis auf ihn enthalten?«

Nathan ergriff ihre Hand und zog sie zur Tür hin. »Auf diesen Verbindungen würde sich ein Schatten über alle Menschen legen: auf alle lebenden, jedenfalls. Was folgt, wäre ein sehr lange währendes und sehr düsteres Zeitalter.«

»Augenblick«, sagte Ann und zwang ihn, stehen zu bleiben.

Sie kehrte noch einmal zur Steinbank zurück und plazierte den Rada’Han genau in die Mitte. »Ich habe nicht die Macht, ihn zu vernichten. Deshalb gehört er vielleicht besser hinter Schloß und Riegel.«

Nathan gab ihr nickend Recht. »Wir werden alle Türen verschließen und den Wachen Befehl geben, daß er für alle Zeiten hier, hinter den Schilden, weggesperrt bleiben soll.«

Ann drohte ihm mit erhobenem Zeigefinger. »Und komm bloß nicht auf den Gedanken, ich würde dir irgendwelche Unbotmäßigkeiten durchgehen lassen, nur weil du keinen Halsring trägst.«

Nathans amüsierte Miene kehrte zurück, er unterließ es aber, ihr spontan beizupflichten. Ehe er durch die Tür trat, wandte er sich noch einmal zu ihr herum.

»Übrigens, hast du über das Reisebuch mit Verna Verbindung aufgenommen?«

»Ja, ab und zu. Sie ist zur Zeit bei der Armee und hat mit der Sicherung der nach D’Hara hineinführenden Pässe alle Hände voll zu tun. Jagang hat mit seiner Belagerung begonnen.«

»Nun ja, nach allem, was ich von den militärischen Befehlshabern hier im Palast in Erfahrung bringen konnte, sind die Pässe hervorragend gesichert und dürften noch eine Weile halten. Du mußt ihr aber trotzdem eine Nachricht zukommen lassen. Sag ihr, wenn ein unbewaffneter Wagen sich ihren Linien nähert, soll sie ihn durchlassen.«

Ann machte ein verwundertes Gesicht. »Was soll das heißen?«

»Prophezeiungen sind den Eingeweihten vorbehalten. Richte es ihr einfach aus.«

»Also gut«, preßte Ann ein wenig atemlos hervor als Nathan sie durch die schmale Türöffnung zog. »Aber ich sollte ihr besser nicht verraten, daß der Hinweis von dir stammt, denn sonst wird sie ihn vermutlich ignorieren. Sie halt dich nämlich für ein bißchen vertrottelt, mußt du wissen.«

»Sie hatte eben noch keine Gelegenheit, mich näher kennen zu lernen, das ist alles.« Er sah sich um. »Schließlich war ich jahrelang zu Unrecht eingesperrt.«

Ann hatte am liebsten entgegnet, daß Verna ihn nur zu gut kannte, besann sich aber eines Besseren. Als Nathan sich zur äußeren Tür herumdrehen wollte, hielt sie ihn am Ärmel zurück.

»Was verschweigst du mir noch über diese Prophezeiung, die du entdeckt hast?«

Sie kannte Nathan gut genug, um seiner Nervosität anzusehen, daß er ihr etwas vorenthielt und er es womöglich für einen galanten Zug hielt, um ihr Kummer zu ersparen. Er sah ihr mit ernster Miene erst eine Weile in die Augen, ehe er antwortete.

»Auf dieser Gabelung der Prophezeiungen gibt es einen Schleifer.«

Ann legte die Stirn in Falten und verdrehte nachdenklich die Augen. »Ein Schleifer, ein Schleifer«, murmelte sie bei sich und versuchte, sich den Ausdruck in Erinnerung zu rufen. Irgendwie klang er vertraut. »Ein Schleifer ...« Sie schnippte mit den Fingern. »Ein Schleifer!« Sie riß die Augen auf. »Gütiger Schöpfer.«

»Ich bezweifle sehr, daß der Schöpfer seine Hände dabei im Spiel hatte.«

Ann winkte protestierend ab. »Das ist völlig ausgeschlossen. Diese neue Prophezeiung, die du entdeckt hast, muß irgendwie fehlerhaft sein. Schleifer wurden zu Zeiten des Großen Krieges geschaffen; es ist also vollkommen unmöglich, daß auf dieser Verbindung der Prophezeiung ein Schleifer existiert – begreifst du nicht? Ganz offensichtlich liegt hier eine Phasenverschiebung vor; die Prophezeiung ist längst abgelaufen.« Ann biß sich auf die Unterlippe, während ihre Gedanken rasten.

»Sie unterliegt keiner Phasenverschiebung. Meinst du, das war nicht auch mein erster Gedanke? Hältst du mich vielleicht auch für vertrottelt, für einen Amateur? Ich bin die gesamte Zeitbestimmung Hunderte von Malen durchgegangen. Ich habe sämtliche Tabellen und Berechnungen zu Rate gezogen, die ich je gelernt habe – einige habe ich sogar eigens für diesen Zweck entwickelt. Sie alle lieferten dieselbe Wurzel; alle Verbindungen waren in Ordnung. Die Prophezeiung ist phasengleich; ihre Chronologie und alle anderen Aspekte sind korrekt ausgerichtet.«

»Dann handelt es sich eben um eine unechte Verbindung«, beharrte Ann. »Schleifer waren damals mit Hilfe von Magie erschaffene Kreaturen: sie waren steril und unfähig, sich zu vermehren.«

»Laut Prophezeiung wurde er als Schleifer nicht geboren, sondern wiedergeboren.«

Eine Gänsehaut überlief Ann. Sie starrte ihn eine Weile unverwandt an, ehe sie ihre Stimme wiederfand. »Seit dreitausend Jahren sind außer Richard keine Zauberer mehr mit beiden Seiten der Gabe geboren worden. Es ist vollkommen ausgeschlossen, daß jemand ...«

Ann unterbrach sich. Er beobachtete sie und sah, wie ihr plötzlich ein Licht aufging, wie es gewesen sein mußte. »Gütiger Schöpfer«, entfuhr es ihr leise.

»Wie ich bereits sagte, dürfte der Schöpfer seine Hände dabei kaum im Spiel gehabt haben. Für seine Erschaffung waren die Schwestern der Finsternis verantwortlich.«

Ann war bis ins Mark erschüttert; es hatte ihr die Sprache verschlagen. Eine schlimmere Nachricht hätte man ihr nicht überbringen können.

Gegen einen Schleifer gab es keinen Schutz, keine Verteidigung.

Der Attacke eines Schleifers waren alle Seelen hilflos ausgeliefert.

Nyda wartete vor der zweiten Tür im Gang, das Gesicht wie immer grimmig, wenn auch längst nicht so grimmig wie das Anns. Bis auf den trüben Lichtschein der völlig regungslosen Flammen der wenigen Kerzen herrschte im Gang völlige Finsternis, kein Windhauch drang je bis in diese Tiefen des Palasts vor. Der einzige Farbtupfer vor dem dunklen Felsgestein, das den winzigen Lichtkegel fast gierig aufzusaugen schien, war das blutige Rot von Nydas Lederanzug.

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