45

Richard stand da und starrte auf die Stelle, wo das Warnzeichen an der Statue zerschellt war. Kahlan ging zu ihm hin und flüsterte ihm ins Ohr: »Du hast dich getäuscht, und es muß etwas ganz anderes bedeuten? Wovon redest du überhaupt?«

»Von der Übersetzung«, antwortete er in einem Tonfall, als wäre er selbst von seiner plötzlichen Erkenntnis überrascht. Er stand vollkommen reglos, das Gesicht der Statue Kaja-Rangs zugewandt. »Erinnerst du dich, wie ich sagte, die Formulierung sei eigenartig?«

Kahlan warf einen kurzen Blick auf die Statue, ehe sie wieder zu Richard sah. »Ja.«

»Aber das stimmt gar nicht, ich hatte mich lediglich vertan. Ich habe etwas hineinzulesen versucht, was ich dort vermutete – daß die Bewohner jenseits der Grenze keine Magie erkennen können –, statt einfach nur zu sehen, was ich vor mir habe. Was ich vorhin sagte, steht dort gar nicht ...«

Als er den Satz unbeendet ließ, faßte Kahlan ihn beim Arm. »Was soll das heißen?«

Richard wies auf die Statue. »Mir ist klar geworden, daß ich die Reihenfolge der Wörter vertauscht habe und deshalb solche Schwierigkeiten mit dem Satz hatte. Ich sagte ja vorhin bereits, ich sei mir bei der Übersetzung nicht ganz sicher. Meine Zweifel waren berechtigt. Dort steht nicht etwa: ›Hütet Euch, die Sperre zu dem jenseits liegenden Reich zu durchbrechen ... denn dahinter liegt das Böse: diejenigen, die blind sind.‹«

Kahlan zupfte erneut an seinem Arm und zwang ihn, sie anzusehen. »Und was steht nun dort?«

Seine grauen Augen begegneten kurz ihrem Blick, ehe sie zu den Augen der Statue Kaja-Rangs zurückkehrten, die auf die Säulen der Schöpfung gerichtet waren, sein allerletztes Mittel, die Welt vor diesen Menschen zu beschützen. Statt ihr zu antworten, setzte er sich in Bewegung.

Die Männer machten ihm Platz, als er entschlossenen Schritts auf die Statue zuhielt. Kahlan blieb ihm dicht auf den Fersen, unmittelbar gefolgt von Cara. Jennsen ergriff Bettys Strick und zog sie hinter sich her. Tom blieb, wo er war, um die Männer aufmerksam, aber unauffällig im Blick zu behalten.

Als er bei der Statue war, befreite Richard den Sockel von seiner feinen Schneeschicht, bis die auf Hoch-D’Haran gemeißelten Worte darunter wieder zum Vorschein kamen. Kahlan beobachtete, wie seine Augen über die Worte hinwegwanderten, während er sie leise bei sich las. Seine Bewegungen verrieten eine gewisse Erregtheit, die ihr sagte, daß er auf einen entscheidenden Punkt aus war.

Zudem fiel ihr auf, daß seine Kopfschmerzen, zumindest im Augenblick, nachgelassen hatten. Warum sie von Zeit zu Zeit abklangen, war ihr nicht recht klar, trotzdem vermerkte sie mit Erleichterung, daß seine Bewegungen wieder kraftvoller geworden waren. Gestützt auf seine Arme, die Hände weit auseinander auf dem Stein, sah er von der Inschrift auf. Ohne die Kopfschmerzen waren seine Augen von geradezu sprühender Klarheit.

»Der Text war stellenweise recht verwirrend«, sagte er. »Doch jetzt wird mir einiges klar. Hier steht: ›Hütet Euch, die Sperre zu dem jenseits liegenden Land zu durchbrechen, denn dahinter leben diejenigen, die unfähig sind, das Böse zu erkennen.‹«

Kahlan runzelte nachdenklich die Stirn. »... diejenigen, die unfähig sind, das Böse zu erkennen.«

Mit seinem bandagierten Arm deutete Richard auf die Figur, die über ihnen in den Himmel ragte. »Das war es, was Kaja-Rang am meisten fürchtete – nicht Menschen, die keine Magie erkennen konnten, sondern solche, die unfähig waren, das Böse zu erkennen. Das war seine Warnung an die Welt.« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter auf die hinter ihnen stehenden Männer. »Diese Inschrift bezieht sich auf sie.«

Kahlan war verblüfft – und auch ein wenig verwirrt. »Glaubst du nun, daß diese Leute Magie nicht wahrnehmen können und deswegen auch blind gegen das Böse sind?«, fragte sie, »oder daß sie auf Grund ihrer Andersartigkeit einfach unfähig sind, das Böse zu erkennen – etwa so, wie sie auch nicht begreifen, daß wahrnehmbare Magie nichts mit Aberglauben zu tun hat?«

»So in etwa könnte es Kaja-Rang gesehen haben«, erwiderte Richard. »Aber ich nicht.«

»Bist du dir vollkommen sicher?«, fragte Jennsen.

»Ja.«

Ehe Kahlan ihn auffordern konnte, sich näher zu erklären, wandte sich Richard zu den Männern um. »Hier steht, in Stein gemeißelt, Kaja-Rangs Warnung an die Welt. Sie bezieht sich auf Menschen, die unfähig sind, das Böse zu erkennen. Eure Vorfahren wurden aus der neuen Welt verbannt, weil sie von der Gabe völlig unbeleckt waren; doch dieser Mann, der mächtige Zauberer Kaja-Rang, fürchtete sie aus einem ganz anderen Grund: wegen ihrer Ideen. Er fürchtete sie, weil sie sich weigerten, das Böse zu erkennen. Das war es, was eure Vorfahren für die Menschen in der Alten Welt so gefährlich machte.«

»Wie ist das möglich?«, fragte jemand.

»Als bunt zusammengewürfelter Haufen, verbannt an einen fremden Ort, in die Alte Welt, müssen eure Vorfahren in ihrer Verzweiflung ein starkes Gemeinschaftsgefühl entwickelt haben. Die Vorstellung, ausgestoßen oder verbannt zu werden, war für sie so beängstigend, daß sie es vermieden, einen der ihren auszustoßen. Daraus entwickelte sich im Laufe der Zeit die feste Überzeugung, niemand dürfe, unter welchen Umstanden auch immer verdammt werden. Aus diesem Grund lehnten sie den Begriff des Bösen ab – da sie sonst gezwungen gewesen wären, andere zu verurteilen. Und jemanden für böse zu erklären hatte bedeutet, daß sie plötzlich vor dem Problem gestanden hätten, den Betreffenden aus ihrer Gemeinschaft auszuschließen.

Diese Wirklichkeitsflucht führte schließlich zu einer fantastisch anmutenden Rechtfertigung ihres Vorgehens: Sie beschlossen, daß nichts wirklich sei und niemand das wahre Wesen der Wirklichkeit erkennen könne. So brauchten sie sich auch nicht einzugestehen, daß jemand böse war. Es war allemal besser, die Existenz des Bösen zu leugnen, als den Übeltäter aus den eigenen Reihen entfernen zu müssen. Besser, man sah über das Problem hinweg, ignorierte es und hoffte darauf, es werde sich von selbst erledigen.

Hätten sie die Existenz des Bösen anerkannt, wäre die Entfernung des Übeltäters das einzig angemessene Verfahren gewesen; folglich mußten sie als Verbannte denken, sie wären verbannt worden, weil sie böse waren. Ihre Lösung des Dilemmas bestand in der Ablehnung des Begriffs des Bösen überhaupt. Um diesen Grundgedanken entwickelte sich ein ganzes Glaubensgebäude.

Kaja-Rang mag einen Zusammenhang gesehen haben zwischen ihrer völligen Unbeflecktheit von der Gabe und ihrer Unfähigkeit, Magie wahrzunehmen, was er aber fürchtete, war, daß sie mit ihren Vorstellungen andere infizieren könnten. Denken erfordert Mühe; diese Leute jedoch hatten einen Glauben zu bieten, der von den Menschen keinerlei Überlegung, sondern lediglich das Nachbeten weihevoll klingender Phrasen verlangte.

Kaja-Rang erkannte diesen Glauben als das, was er war: eine freiwillige Hingabe an den Tod statt an das Leben. Der Rückschritt von wahrer Erleuchtung zur Illusion von Erkenntnis erzeugte ein heilloses Durcheinander, wurde zu einer Bedrohung für die gesamte Alte Welt und beschwor das Gespenst eines Rückfalls in die Unwissenheit herauf.«

Richard tippte mit dem Finger auf den oberen Rand der Felsleiste. »Hier oben, rings um den Sockel, gibt es eine weitere Inschrift, die diesen Schluß zuläßt und andeutet, wie man des Problems schließlich Herr wurde: Kaja-Rang ließ sämtliche Anhänger dieses Glaubens – nicht nur alle von der Gabe völlig Unbefleckten, die bereits aus der Neuen Welt verbannt worden waren, sondern auch die fanatischen Eiferer, die ihrer wahnhaften Ideologie erlegen waren – zusammentreiben und schickte sie samt und sonders ins Exil. Die Menschen in der Alten Welt fühlten sich diesem großartigen Mann so sehr zu Dank verpflichtet, daß sie ihm zu Ehren dieses Monument errichteten – als Dank für alles, was er getan hatte, um sie vor einem Glauben zu beschützen; der, davon waren sie überzeugt, eines Tages ihr ganzes Gemeinwesen gefährdet hätte. Und diese Gefahr war keineswegs von der Hand zu weisen.

Selbst im Tod wacht Kaja-Rang noch über diese Grenze, und nun hat er mir, aus der Welt der Toten, eine Warnung zukommen lassen, daß die Sperre durchbrochen worden ist.«

Richard wartete in der spannungsgeladenen Stille, bis die Augen aller Männer wieder auf ihn gerichtet waren, ehe er seinen Vortrag mit ruhiger Stimme beendete.

»Kaja-Rang hat eure Vorfahren nicht nur deswegen verbannt, weil sie keine Magie wahrzunehmen vermochten, sondern auch und vor allem, weil sie unfähig waren, das Böse zu erkennen.«

Die Männer, nervös und zutiefst beunruhigt, sahen sich nach ihren Gefährten um. »Aber was Ihr das Böse nennt ist nichts weiter als Ausdruck einer inneren Qual«, wandte einer ein; es klang jedoch eher nach einer Ausflucht, denn nach einem echten Argument.

»Er hat recht«, klärte ein anderer Richard auf. »Jemanden für böse zu erklären, das ist doch nichts als Voreingenommenheit. Man setzt jemanden herab, der sich ohnehin bereits wegen einer Sache grämt. Solchen Menschen muß man mit Offenheit begegnen und sie lehren, ihre Furcht vor den Mitmenschen abzulegen, dann werden sie bestimmt nicht auf den Abweg der Gewalt geraten.«

Richard ließ den Blick über die ihm entgegenblickenden Gesichter schweifen. Er deutete hinauf zur Statue.

»Kaja-Rang fürchtete euch, weil ihr für jeden eine Gefahr darstellt – und zwar nicht deswegen, weil ihr nicht mit der Gabe gesegnet seid, sondern weil ihr mit euren Lehren dem Bösen Vorschub leistet. Dadurch, durch euer Bestreben, stets freundlich, uneigennützig und unvoreingenommen zu bleiben, gebt ihr dem Bösen eine Macht, die es sonst niemals besäße. Mit eurer Weigerung, das Böse zu erkennen, öffnet ihr ihm Tür und Tor. Ihr laßt zu, daß es existiert, und gebt ihm Macht über euch. Ihr, als Volk, habt den Tod mit offenen Armen willkommen geheißen und es versäumt, ihm eine Abfuhr zu erteilen. Euer Reich ist dem Schatten des Bösen hilflos ausgeliefert.«

Nach einem Augenblick bedrückten Schweigens ergriff schließlich einer der Älteren das Wort. »Dieser Glaube an das Böse, wie Ihr es nennt, ist eine sehr intolerante Haltung und eine zu vereinfachende Sichtweise, denn letztendlich bedeutet er nichts anderes als eine unaufrichtige Verdammung Eurer Mitmenschen. Keiner, nicht einmal Ihr, darf sich erlauben, einen anderen Menschen zu verurteilen.«

Kahlan wußte, daß Richard zwar über ein großes Maß an Geduld verfügte, seine Langmut dagegen wenig ausgeprägt war. Er hatte diesen Männern gegenüber große Geduld bewiesen; doch jetzt sah sie, daß er mit seiner Nachsicht am Ende war. Fast erwartete sie, er werde sein Schwert ziehen.

Er trat mitten unter die Männer, einzelne im Vorübergehen mit seinem Raubtierblick zur Seite scheuchend. »Ihr dünkt euch selbst erleuchtet, glaubt, über Gewaltanwendung erhaben zu sein. Das seid ihr nicht; ihr seid nichts weiter als Sklaven, die auf ihren Gebieter warten, willige Opfer in Erwartung ihres Schlächters. Jetzt ist es so weit, sie sind gekommen.«

Richard schnappte sich den kleinen Beutel und blieb vor dem Mann stehen, der als letzter gesprochen hatte. »Öffne deine Hand.« Der Mann streckte zögerlich seine geöffnete Hand, die Innenfläche nach oben, vor.

Richard langte in den Beutel und legte ihm einen winzigen Finger, dessen Fleisch runzelig und mit getrocknetem Blut bedeckt war, in die Hand.

Es bereitete ihm ganz offenkundig Unbehagen, daß der winzige Finger in seiner Handfläche lag, doch nach einem Blick in Richards vernichtende, zornig funkelnde Augen verzichtete er darauf, zu protestieren und sich der blutigen Trophäe wieder zu entledigen.

Richard setzte seinen Weg durch ihre Reihen fort, wählte scheinbar zufällig Männer aus, die er die Hand öffnen hieß. Die Ausgewählten, bemerkte Kahlan, waren ausnahmslos Männer, die Bedenken gegen seine Hilfsvorschläge geäußert hatten. Er verteilte die abgeschnittenen Finger auf die geöffneten Hände, bis der Beutel leer war.

»Was ihr jetzt in Händen haltet, ist eine Folge des Bösen«, erklärte Richard. »Ihr alle wißt, daß dies die Wahrheit ist; ihr wißt, daß das Böse in eurem Land umgeht. Ihr alle wolltet, daß sich das ändert, wolltet das Böse los sein. Ihr wolltet leben, und ihr wolltet, daß eure Lieben leben können.

Und das alles in der Hoffnung, der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Ich habe euch einiges zu erklären versucht, damit ihr das Wesen des Kampfes begreift, dem wir alle uns gegenübersehen.«

Richard rückte den Waffengurt über seiner Schulter zurecht.

»Doch nun bin ich mit meinen Erklärungen am Ende. Ihr wolltet, daß man mich in euer Land holt; dieses Ziel habt ihr erreicht. Nun müßt ihr entscheiden, ob ihr zu Ende bringen wollt, was ihr als richtig erkannt habt. Wenn ihr beschließt, mir im Kampf beizustehen«, wählte Richard seine Worte mit Bedacht, »wird man von euch verlangen, daß ihr Soldaten der Imperialen Ordnung, böse Männer, tötet. Vielleicht habt ihr irgendwann einmal geglaubt, das Töten mache mir Spaß, aber seid versichert, ihr irrt euch. Es ist mir verhaßt; ich tue es nur, um Leben zu verteidigen. Ich würde niemals erwarten, daß ihr Gefallen daran findet. Man tut es, weil man es tun muß, aber gewiß nicht, um es zu genießen. Von euch erwarte ich, daß ihr Gefallen am Leben findet und alles Erforderliche tut, um es zu bewahren.«

Richard nahm einen der etwas abseits liegenden Gegenstände zur Hand, die sie angefertigt hatten, während sie darauf gewartet hatten, daß Tom und Owen die Männer zum Paß heraufführten. Er unterschied sich kaum von einem kräftigen, dicken Stock und war tatsächlich aus einem Stück Eichenholz gemacht. Der besseren Griffigkeit wegen am unteren Ende abgerundet, verjüngte er sich in der Mitte und war am anderen Ende angespitzt.

»Ihr besitzt keine Waffen; deshalb haben wir, während wir auf eure Ankunft warteten, einige hergestellt.« Mit einer ungeduldigen Handbewegung forderte er Tom auf vorzutreten. »Die Soldaten der Imperialen Ordnung werden sie nicht als Waffen erkennen, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Wenn man euch danach fragt, erklärt ihr, sie dienten dazu, Löcher zum Einpflanzen der Setzlinge ins Erdreich zu bohren.«

Mit seiner Linken packte Richard Toms Hemd an der Schulter, um ihn festzuhalten, dann demonstrierte er den Gebrauch der Waffe, indem er vorführte, wie man sie unmittelbar unter dem Brustkorb des Gegners nach oben stieß, um ihn zu durchbohren. Einige Männer verzogen angewidert das Gesicht.

»Am einfachsten stößt man sie von unten nach oben unter dem Brustkorb in die Weichteile«, erklärte Richard ihnen. »Gleich nach dem Stoß hebelt ihr sie seitwärts, damit sie an der schmalen Stelle bricht. Auf diese Weise ist es unmöglich, sie wieder herauszuziehen. Mit einem solchen Stab in den Eingeweiden wird euch niemand, selbst wenn er sich noch auf den Beinen halten kann, hinterherrennen oder in einen Kampf verwickeln können, was euch ein schnelles Entkommen erheblich erleichtern dürfte.«

Jemand hob fragend seine Hand. »Aber so ein Stück Holz ist feucht und bricht nicht ohne weiteres. Die Fasern werden sich einfach biegen, so daß das Griffende dranbleibt.«

Richard warf ihm die Waffe zu. Nachdem dieser sie aufgefangen hatte, forderte er ihn auf: »Sieh dir den Mittelteil an, wo sich das Holz verjüngt. Du wirst bemerken, daß es aus genau diesem Grund über einem Feuer getrocknet wurde. Und jetzt betrachte das spitze Ende. Es ist in vier Teile gespalten, deren Spitzen, wie bei einem Blütenkelch, leicht nach außen gebogen sind, so daß sie sich beim Eindringen in einen Gegner höchstwahrscheinlich weiten und dadurch erheblich größeren Schaden anrichten werden. Ein Stoß mit dieser Waffe ist, als steche man viermal auf einen Gegner ein.

Bricht man sie dann in seinem Körper ab, ist er augenblicklich kampfunfähig, da die langen Eichensplitter sich mit jeder Bewegung tiefer in seine empfindlichen Eingeweide bohren. Selbst wenn sie nicht auf ein lebenswichtiges Organ treffen und ihn auf der Stelle töten, wird er höchstwahrscheinlich noch am selben Tag eines qualvollen Todes und unter entsetzlichen Schreien sterben. Diese zu allem fähigen Männer sollen wissen, daß all die Schmerzen und das Leid, das sie anderen zufügen, letzten Endes auf sie zurückfallen. Diese Angst wird zum ersten Mal den Gedanken an Flucht in ihnen aufkeimen lassen; sie wird ihnen schlaflose Nächte bereiten und sie zermürben, so daß sie, wenn wir schließlich auf sie treffen, leichter zu töten sein werden.«

Richard nahm einen anderen Gegenstand zur Hand. »Dies ist eine kleine Armbrust.« Er hielt sie in die Höhe, damit die Männer sie sehen konnten, während er ihre Einzelteile erläuterte. »Wie ihr seht, wird die Sehne von diesem Sperrkegel zurückgehalten. In diese Kerbe hier wird ein kurzer kräftiger Bolzen eingelegt. Drückt man auf den Abzug hier, wird der Sperrkegel nach vorn geschoben, die Sehne schnellt vor und feuert den Bolzen ab. Es ist keine besonders präzise gearbeitete Waffe, außerdem habt ihr keine Erfahrung in ihrem Gebrauch, andererseits braucht man auf kurze Distanz auch kein besonders guter Schütze zu sein.

Ich habe damit begonnen, eine ganze Reihe dieser Armbrüste herzustellen, außerdem habe ich einen ganzen Berg Schäfte und andere Einzelteile anfertigen lassen. Mithilfe der Dinge, die ihr mitgebracht habt, können wir sie jetzt zusammenbauen. Sie sind ziemlich primitiv und dürften, ich sagte es bereits, auf größere Entfernung nicht viel taugen, aber sie sind handlich und lassen sich unter einem Umhang verbergen. Wie groß und kräftig der Gegner auch sein mag, hiermit kann selbst der Schmächtigste unter euch ihn töten. Aus nächster Nähe abgefeuert, vermag nicht einmal seine Kettenpanzerrüstung ihn gegen diese Waffe zu schützen. Ich kann euch versichern, ihre Wirkung ist überaus tödlich.«

Anschließend zeigte Richard ihnen Hartholzknüppel, die noch mit Nägeln versehen werden mußten; auch diese Waffen ließen sich leicht verstecken. Dann zeigte er ihnen eine einfache Schnur mit einem kleinen Holzgriff an beiden Enden, die man zum Erdrosseln eines Mannes von hinten – wenn es vor allem darum ging, unbemerkt zu bleiben – benutzte.

»Mit den ersten Soldaten, die wir überwältigen, werden uns weitere Waffen in die Hände fallen – Messer, Äxte, Keulen, Schwerter.«

»Aber Lord Rahl«, warf Owen, sichtlich außer sich vor Sorge, ein, »selbst wenn wir einwilligen sollten, uns euch anzuschließen, sind wir noch lange keine Kämpfer. Die Soldaten der Imperialen Ordnung sind brutale, in diesen Dingen erfahrene Rohlinge. Gegen solche Männer haben wir doch keine Chance.«

Die anderen pflichteten ihm besorgt bei, doch Richard schüttelte nur den Kopf und bat mit erhobenen Händen um Ruhe.

»Seht euch die Finger an, die ihr in Händen haltet, und dann fragt euch, welche Chance diese kleinen Mädchen gegen diese Männer hatten. Fragt euch, welche Chance eure Mütter, Schwestern, Ehefrauen oder Töchter hätten. Für diese Menschen – und für euch selbst – seid ihr die allerletzte Hoffnung.

Sehr wahrscheinlich hättet ihr gegen diese Männer tatsächlich keine Chance. Ich habe jedoch nicht die Absicht, so gegen sie zu kämpfen, wie ihr euch das vorstellt. Das wäre glatter Selbstmord.« Richard zeigte mit dem Finger auf einen der Jüngeren. »Was ist unser Ziel? Weshalb habt ihr mich hergeholt?«

Der junge Bursche schien etwas verwirrt. »Um die Soldaten der Imperialen Ordnung loszuwerden?«

»Genau«, sagte Richard. »Das ist richtig. Ihr wollt diese Mörder loswerden; das letzte, was ihr wollt, ist gegen sie kämpfen.«

Der junge Bursche deutete mit einer Handbewegung auf die Waffen, die Richard ihnen vorgeführt hatte. »Aber diese Dinger ...«

»Diese Männer sind rücksichtslose Mörder; unsere Aufgabe ist es, sie zu vernichten. Kämpfe wollen wir nach Möglichkeit vermeiden. Wenn wir gegen sie kämpfen, riskieren wir, verletzt oder getötet zu werden. Ich will damit nicht sagen, daß wir nicht dazu gezwungen sein könnten, aber es ist nicht unser Ziel. Es wird Momente geben, da sie in begrenzter Zahl auftreten und wir gewiß sein können, sie zu überrumpeln, ehe es überhaupt zu einem richtigen Handgemenge kommt. Bedenkt bitte, diese Soldaten sind darauf eingestellt, daß von eurer Seite nicht der geringste Widerstand zu erwarten ist. Wir setzen darauf, sie zu töten, ehe sie überhaupt auf die Idee kommen, eine Waffe zu ziehen.

Aber wenn wir einer direkten Konfrontation aus dem Weg gehen können, um so besser. Unser Ziel ist es, sie zu töten – wenn möglich, jeden Einzelnen von ihnen. Wir werden sie im Schlaf töten, sobald sie in die andere Richtung schauen, beim Essen, beim Sprechen und beim Trinken und wenn sie sich kurz die Beine vertreten. Diese Männer sind böse. Unsere Aufgabe ist es, sie zu töten, nicht gegen sie zu kämpfen.«

Owen warf die Hände in die Luft. »Aber Lord Rahl, sobald wir die ersten von ihnen umgebracht haben, werden die anderen sich an den Menschen rächen, die sie in ihrer Gewalt haben.«

Richard betrachtete die Männer und wartete, bis er sicher sein konnte, daß er die ungeteilte Aufmerksamkeit aller hatte.

»Soeben seid ihr zu der Einsicht gelangt, daß diese Soldaten das Böse verkörpern. Aber ihr habt Recht: Wahrscheinlich werden sie, um euch zur Aufgabe zu zwingen, dazu übergehen, ihre Gefangenen zu töten. Aber das tun sie auch schon jetzt. Ließe man sie nach Belieben walten, würden diese Morde ein ungeheures Ausmaß annehmen. Je schneller wir sie töten, desto schneller ist es vorbei, desto schneller hat das Morden ein Ende. Unser Vorgehen wird einige Menschen das Leben kosten, allen anderen jedoch wird es die Freiheit bringen. Verharren wir aber in Untätigkeit, liefern wir sie auf Gnade und Ungnade dem Bösen aus. Ich sagte es bereits, mit dem Bösen kann man nicht verhandeln; das Böse gilt es auszumerzen.«

Jemand räusperte sich. »Lord Rahl, einige unserer Leute haben diesen Leuten Glauben geschenkt und sich auf die Seite dieser Ordenssoldaten geschlagen. Sie werden nicht einverstanden sein, daß wir diesen Soldaten ein Leid zufügen.«

Richard stieß einen bedrückten Seufzer aus. Er wandte sich einen Moment lang ab und richtete den starren Blick hinaus in das Dunkel, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder den Männern zuwandte. »Mein Leben lang habe ich Menschen, die ich gut kannte, töten müssen, weil sie für die Imperiale Ordnung Partei ergriffen hatten. Sie hatten den Beteuerungen der Imperialen Ordnung Glauben geschenkt und mich, da ich ein Feind des Ordens bin, zu töten versucht. Es ist grausam, einen Menschen, den man gut kennt, töten zu müssen, die Alternative aber halte ich für noch viel grausamer.«

»Die Alternative?«, fragte der andere.

»Ganz recht – von ihnen getötet zu werden. Denn das ist die Alternative: Man verliert den Kampf um seine Sache und damit sein Leben und das seiner Lieben.« Richards Gesicht wurde überaus ernst. »Es gilt: ihr Leben oder eures; ja womöglich sogar unser aller Leben. Auch wenn sich einige von euren Leuten auf die Seite des Bösen geschlagen haben, dürfen wir uns nicht davon abhalten lassen, das Böse zu vernichten.

Das gehört ebenfalls zu den Dingen, die es bei eurer Entscheidung abzuwägen gilt: Nehmt ihr diesen Kampf auf, müßt ihr die Möglichkeit akzeptieren, Menschen, die ihr kennt, töten zu müssen.«

Seine Worte schienen ihre schockierende Wirkung auf die Männer verloren zu haben; vielmehr schienen sie jetzt mit feierlichem Ernst zu lauschen.

Kahlan sah eine Gruppe kleiner Vögel auf der Suche nach einem Schlafplatz für die Nacht vorüberhuschen. Himmel und der eisige Nebel verdunkelten sich zusehends. Sie suchte den Himmel mit den Augen ab, stets auf der Hut vor den schwarz gezeichneten Riesenkrähen, doch in Anbetracht des scheußlichen Wetters hier oben auf dem Paß war nicht anzunehmen, daß sie in der Nähe waren. So hatte der Nebel wenigstens ein Gutes.

Richard wirkte erschöpft. Sie spürte am eigenen Leib, wie schwer ihr das Atmen in der dünnen Höhenluft fiel, wie viel schwerer mußte es ihm fallen, zumal sie befürchtete, die dünne Luft könnte ihn wegen des Gifts zusätzlich schwächen. Sie mußten unbedingt auf eine geringere Höhe hinabsteigen.

»Ich habe alles getan, um euch die Augen für die Wahrheit zu öffnen«, rief Richard den Männern zu. »Jetzt liegt euer Schicksal in den Händen eines jeden Einzelnen von euch.«

Ruhig bat er Cara, Jennsen und Tom, ihre Sachen zusammenzusuchen, dann legte er Kahlan zärtlich eine Hand auf den Rücken, drehte sich wieder zu den Männern herum und deutete den Hang hinunter.

»Wir werden jetzt in unser Lager in den Wäldern dort zurückkehren. Entscheidet euch, was ihr tun wollt. Wer für uns ist, kommt hier herüber in den Schutz der Bäume, wo uns die Riesenkrähen, sobald das Wetter aufklart, nicht sehen können. Wir müssen mit der Herstellung der Waffen, die ihr tragen sollt, fertig werden.

Wer sich gegen uns entscheidet, ist von jetzt an ganz auf sich gestellt. Ich habe nicht die Absicht, lange in diesem Lager zu verweilen. Wenn ihr von der Imperialen Ordnung aufgegriffen werdet, wird man euch vermutlich foltern; und ich möchte nicht in der Nähe sein, wenn ihr euch die Lungen aus dem Leib kreischt und dabei den Standort unseres einstigen Lagerplatzes verratet.«

Die ratlos wirkenden Männer standen dicht gedrängt in einer Gruppe zusammen.

»Lord Rahl«, fragte Owen, »heißt das, wir müssen uns jetzt entscheiden?«

»Ich habe euch gesagt, was ich euch sagen kann. Wenn ihr euch für uns und für das Leben entscheidet, begleitet ihr uns hinunter in unser Lager. Entscheidet ihr euch gegen uns, wünsche ich euch Glück. Aber versucht nicht, uns zu folgen; in diesem Fall wäre ich gezwungen, euch zu töten. Ich war früher Waldführer, ich werde also wissen, ob uns jemand folgt.«

Einer der Männer, der erste, der Richard durch das Vorzeigen der beiden Steinchen seine Bereitschaft zur Preisgabe des Verstecks des Gegenmittels bekundet hatte, löste sich aus der Gruppe seiner Kameraden und trat vor.

»Lord Rahl, mein Name ist Anson.« Seine blauen Augen füllten sich mit Tränen. »Ich will, daß Ihr das wißt, daß Ihr wißt, wer ich bin. Ich heiße Anson.«

Richard nickte. »In Ordnung, Anson.«

»Ich möchte Euch danken, daß Ihr mir die Augen geöffnet habt. Manche der Gedanken, die Ihr soeben geäußert habt, sind mir keineswegs neu. Jetzt begreife ich, warum, und ich begreife die Blindheit, mit der ich geschlagen war. So will ich nicht weiterleben. Ich will nicht länger nach irgendwelchen sinnlosen Geboten leben, und ich möchte nicht, daß diese Ordensmänner mein Leben bestimmen.

Meine Eltern wurden ermordet. Ich habe den Leichnam meines Vaters an einem Pfahl hängen sehen. Er hatte nie einer Menschenseele etwas angetan; einen solch grausigen Tod hatte er nicht verdient. Meine Schwester wurde verschleppt. Ich weiß, was diese Männer mit ihr machen. Ich kann nachts kaum noch schlafen, wenn ich an das Grauen denke, das sie durchmacht.

Ich will mich endlich wehren. Ich will diese bösartigen Männer töten. Sie haben den Tod verdient. Ich will sie zu Staub zermalmen, wie Ihr es ausgedrückt habt. Mein Entschluß steht fest: Ich schließe mich Euch an und werde für meine Freiheit kämpfen. Ich will in Freiheit leben, und ich will, daß meine Lieben in Freiheit leben können.«

Kahlan war nicht wenig erstaunt, diese Worte aus dem Mund eines dieser Männer zu hören, zumal er sich nicht einmal vorher mit seinen Kameraden beraten hatte. Während Ansons kleinem Vortrag hatte sie die Augen der anderen beobachtet. Gespannt hatten alle auf jedes seiner Worte gelauscht.

Richard legte ihm lächelnd die Hand auf die Schulter. »Willkommen in D’Hara, Anson. Willkommen in deiner neuen Heimat. Wir können deine Hilfe gut gebrauchen.« Er deutete zu Cara und Tom hinüber, die mit dem Einsammeln der Waffen beschäftigt waren, welche sie mitgebracht hatten, um sie den Männern vorzuführen. »Warum hilfst du den beiden nicht, die Sachen wieder in unser Lager hinunterzuschaffen?«

Anson willigte schmunzelnd ein. In seinem Eifer versuchte er, Cara ihre Last abzunehmen, doch die war nicht bereit, sie ihm zu überlassen, also sammelte er die restlichen Gegenstände vom Boden auf und folgte Tom den Hang hinunter.

Die anderen sahen ihm nach, wie er zusammen mit Cara, Tom und Jennsen den Abhang hinunterstieg. Schließlich entfernten sie sich ein Stück zur Seite, fort von der Statue, und beratschlagten mit leise tuschelnden Stimmen, wie sie sich verhalten wollten.

Ehe er sich anschickte, ebenfalls den Hang hinabzusteigen, warf Richard noch einen letzten Blick auf die Statue Kaja-Rangs. Etwas schien seine Aufmerksamkeit zu erregen.

»Was ist?«, fragte Kahlan.

Richard zeigte. »Die Inschrift dort, auf der Oberseite des Sockels, unmittelbar zu seinen Füßen.«

An dieser Stelle, das wußte Kahlan, hatte sich zuvor noch keine Inschrift befunden, außerdem stand sie noch zu weit entfernt, um in dem gesprenkelten Granit tatsächlich eine Schrift erkennen zu können. Sie sah sich kurz nach den anderen um, folgte dann aber doch Richard, als dieser zur Statue hinüberging. Die Männer standen immer noch etwas abseits, eifrig in ihre Debatte vertieft.

Jetzt konnte sie die Stelle auf der Sockeloberfläche erkennen, wo das Warnzeichen zerschellt war. Der Sand aus dem Innern der kleinen, Richard nachempfundenen Figur lag noch immer über die gesamte Oberfläche des Sockels verstreut.

Als sie näher kamen, wollte sie kaum glauben, was sich dort vor ihren Augen abzuzeichnen begann. Der Sand hatte offenbar das Gestein abgetragen, so daß darunter eine Schrift zum Vorschein gekommen war. Diese Worte hatten zuvor nicht dort gestanden, dessen war sie sich absolut sicher.

Kahlan war in einer ganzen Reihe von Sprachen bewandert, diese jedoch war ihr nicht geläufig. Allerdings erkannte sie sie wieder: Es war Hoch-D’Haran.

Sie schlang die Arme gegen den kalten Wind, der aufgekommen war, um ihren Körper. Die düsteren Wolken jagten rastlos dahin. Wirbelnde Schneeflocken trübten den Blick auf die Hänge in der Ferne. Dann riß die Wolkendecke für einen winzigen Augenblick auf und gab den Blick auf ein Tal jenseits des Passes frei, das sattes Grün und Wärme verhieß.

Und die Truppen der Imperialen Ordnung.

Kahlan, unmittelbar neben Richard, wünschte sich, er würde einen wärmenden Arm um sie legen. Sie sah zu, wie er auf die kaum zu entziffernden Lettern im Gestein starrte.

»Richard«, fragte sie leise, »was steht dort?«

Wie gelähmt fuhr er mit den Fingern langsam und sachte über die Schriftzeichen, während seine Lippen stumm die Worte auf Hoch-D’Haran formten.

»Das achte Gesetz der Magie«, übersetzte Richard mit kaum hörbarer Stimme. »Taiga Vassternich.«

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