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Mit Interesse beobachtete Nicholas, wie Lord Rahl sich nach seinem verzweifelt geflüsterten Gebet an die Gütigen Seelen wieder zu seinen Leuten zurück in das kleine Lager begab. Traurig, unendlich traurig, daß dieser Mann so bald schon sterben würde. Bald würde er mit seinen Gütigen Seelen vereint sein ... im Totenreich des Hüters.

Er genoß dieses Spiel in vollen Zügen. Dieser beklagenswerte Lord Rahl wirkte so verloren und so verwirrt. Er hätte dieses Spiel gerne, so unendlich gerne, noch eine Weile so weitergetrieben. doch Lord Rahl blieb nur noch so wenig Zeit. Wirklich traurig.

Freilich würde nach dem Tod Lord Rahls, wenn auch dieses letzte kleine Hindernis aus dem Weg geräumt wäre, der Spaß sogar noch zunehmen. Jagang hielt diesen armseligen Burschen für gewitzt und erfinderisch: Unterschätzt ihn nicht, hatte er ihn gewarnt. Jagang mochte dem großen Richard Rahl vielleicht nicht gewachsen sein, Nicholas der Schleifer war es allemal.

Das Entzücken über die hoffnungsfrohe Aussicht auf Lord Rahls baldigen Tod hob seine Stimmung. Das würde ein Spektakel werden; ein würdiges Finale im Spiel des Lebens. Jeden Moment würde der letzte Vorhang fallen. Nicholas liebte es, wenn Geschichten traurig endeten; er konnte es kaum erwarten, den letzten Akt aufgeführt zu sehen.

Hasse das Leben, lebe, um zu hassen.

Zumal ihn die gleiche Frage beschäftigte wie Lord Rahl: Was würde ihn wohl zuerst umbringen, das Gift oder seine Gabe? Mal schien die eine Möglichkeit wahrscheinlicher, dann wieder die andere. Eine Zeit lang sah es so aus, als würden die durch seine Gabe verursachten Kopfschmerzen ihn niederwerfen; dann wieder wurden die Schmerzen des Giftes so unerträglich; daß er gequält aufstöhnte. Es war eine faszinierende Frage, eine Frage, die, wie in jedem guten Stück, ihre Antwort erst ganz am Schluß finden würde.

Nicholas hoffte sehr, daß die Gabe diesen letzten Wettbewerb gewinnen möge. Gift war gut und schön, aber eine wie viel faszinierendere Schicksalswendung wäre es, wenn ein Zauberer von Lord Rahls Talent und Vermögen, ein Zauberer, wie es ihn seit einer Zeit, die lange unter dem Misthaufen menschlicher Erinnerung vergraben schien, nicht mehr gegeben hatte, seinem eigenen Erbe, seiner ureigenen und doch so eitlen Macht, erläge ... ein weiteres Opfer der nach zu großen Höhen strebenden Menschheit. Es wäre ein gleichermaßen faszinierendes wie angemessenes Ende.

Lange würde er nicht mehr darauf warten müssen.

O nein.

Nicht bereit, sich auch nur ein einziges ergötzliches Detail entgehen zu lassen, schaute Nicholas interessiert zu. Den Geist von Richard Rahls liebreizender Braut gewissermaßen neben sich, fühlte er sich nun, da er dem tragischen Ende dieses ach so großen Mannes beiwohnte, beinahe schon der Familie zugehörig.

Er fand es nur gerecht, daß die Mutter Konfessor Gelegenheit erhielt, das Schauspiel vom Abgang ihres Geliebten bis zum bitteren Ende mitzuverfolgen. Als Zuschauerin mit Nicholas vereint, litt sie unter dem Anblick seiner ungeheuren Qualen, als Richard wankend in das Lager zurückkehrte.

Nicholas kostete ihr Leid weidlich aus. Dabei hatte es noch nicht einmal richtig angefangen! Schon bald würde er lange Stunden mit ihr verbringen, um ihre wahre Leidensfähigkeit auszuloten.

Die Leute dort unten im Wald rings um das Lagerfeuer blickten erwartungsvoll auf, als ihr Gebieter in ihre Mitte zurückkehrte. »Ich habe mir etwas überlegt«, erklärte Lord Rahl soeben seinen Gefährten. »Ich weiß jetzt, wie wir die Festung angreifen können.«

Nicholas spitzte die Ohren. Was redete er da?

»Wir rücken vor, sobald es hell wird«, erklärte Lord Rahl. »Sobald die Sonne hinter den Bergen aufgeht, steigen wir an der Ostseite über die Palisaden. Die Posten dort werden von der Sonne geblendet sein, sobald sie in unsere Richtung schauen. Posten vermeiden es, dorthin zu schauen, wo das Sehen beschwerlich ist.«

»Gefällt mir gut«, rief einer der Männer.

»Demnach schleichen wir uns also eher an, statt offen angreifen«, fragte ein anderer.

»O nein, es wird zu einem Angriff kommen«, sagte Lord Rahl. »Einem Großangriff. Einem Angriff, bei dem ihnen Hören und Sehen vergehen wird.«

Wie war das? Was redete er da? Nicholas schaute angestrengt hin. Das war überaus seltsam. Erst will dieser Lord Rahl heimlich über die Palisaden steigen, und anschließend offen angreifen? Womit mag er nur erreichen wollen, daß ihnen Hören und Sehen vergeht? Nicholas war fasziniert.

Er ging ein wenig näher heran, damit ihm ja nur keines seiner kostbaren Worte entging.

»Der Angriff wird auch alle übrigen Männer einbeziehen«, erklärte Lord Rahl. »Beim ersten Tageslicht werdet ihr gegen das Tor vorrücken. Während ihr durch das Tor stürmt und die Aufmerksamkeit der Verteidiger auf euch zieht, werde ich unbemerkt über die Palisaden klettern. Während dieses Ablenkungsmanövers fällt euch allerdings eine noch viel entscheidendere Rolle zu, mit der die Verteidiger gewiß nicht rechnen.«

Das Spiel hatte begonnen. Entzückt belauschte, beobachtete Nicholas das Geschehen. Das Spiel versetzte ihn in Hochstimmung – nicht zuletzt, weil er die Regeln beherrschte und sie nach Belieben beugen konnte. Der morgige Tag würde ein prachtvoller Tag werden.

»Aber Lord Rahl«, wandte Tom ein, »wie sollen wir durch das Tor stürmen, wenn es tatsächlich so massiv ist, wie Ihr behauptet?«

Das hatte Nicholas gar nicht bedacht. Sehr merkwürdig. Ein entscheidender Aspekt in Lord Rahls Plan schien fehlerhaft zu sein.

»Darin besteht der eigentliche Trick«, erklärte Lord Rahl. »Ich habe mir alles genau überlegt; ihr werdet staunen, wenn ihr erfahrt, wie ihr es machen werdet.«

Er hatte es sich bereits überlegt? Wie eigenartig. Nicholas war gespannt, wie Lord Rahl diesen doch ziemlich entscheidenden Mangel seines Plans auszuräumen gedachte.

Lord Rahl räkelte sich und gähnte. »Hört zu«, sagte er, »ich bin ziemlich erledigt, kann mich kaum noch auf den Beinen halten. Ich brauche unbedingt ein wenig Schlaf, bevor ich euch die Einzelheiten darlege. Der Plan ist so kompliziert, daß ich mit der Erklärung besser bis kurz vor dem Aufbruch warte. Weckt mich zwei Stunden vor dem Morgengrauen, dann erläutere ich euch die ganze Geschichte.«

»Zwei Stunden vor dem Morgengrauen«, bestätigte Tom die Anweisung.

Nicholas war empört; er wollte jetzt sofort alles hören, er wollte hören, welch großartigen, phantastischen, komplizierten Plan dieser Lord Rahl ersonnen hatte.

Lord Rahl gab erst seiner prachtvollen Begleiterin, dieser Frau mit Namen Cara, und anschließend einigen der Männer einen Wink. »Ihr kommt am besten mit mir und schlaft ein wenig, während die anderen fertig essen können.«

Lord Rahl wandte sich noch einmal um. »Jennsen, ich möchte, daß du Betty hier bei dir behältst; sorg bitte dafür, daß sie unter allen Umständen hier bleibt. Ich brauche dringend etwas Schlaf, deshalb möchte ich nicht, daß der Ziegengeruch mich weckt.«

»Aber morgen früh darf ich doch mit?«, wollte die junge Frau mit Namen Jennsen wissen.

»Sicher. Du spielst in meinem Plan eine wichtige Rolle.« Lord Rahl gähnte erneut. »Alles Übrige erkläre ich dir, sobald ich ein wenig geschlafen habe. Und, Tom, nicht vergessen: zwei Stunden vor dem Morgengrauen.«

Tom bestätigte es mit einem Nicken. »Ich werde Euch persönlich wecken, Lord Rahl.«

Nicholas nahm sich vor ebenfalls zur Stelle zu sein, um zuzusehen und den letzten, entscheidenden Teil des Plans zu hören. Weil er es kaum ertrug, so lange warten zu müssen, nahm er sich vor, ein wenig früher dort zu sein, damit ihm ja nichts entging.

Und dann, wenn Lord Rahl und seine Männer endlich kamen, um ihm einen Besuch abzustatten, würde er sie mit einer Überraschung empfangen.

Vielleicht würden ja weder das Gift noch die Gabe Lord Rahl beseitigen.

Vielleicht würde er das selbst besorgen. Da ihr Geist ein wehrloser Gefangener des Schleifers war, blieb Kahlan nichts weiter übrig, als das Geschehen mit ihm gemeinsam zu verfolgen. Weder konnte sie Richards verzweifeltes Flehen erhören, noch konnte sie aus Kummer um ihn weinen, sie konnte überhaupt nichts tun. Wie gern hätte sie ihn in die Arme genommen und seine Qualen gelindert.

Sie wußte, er war dem Ende nahe.

Es brach ihr das Herz, sein kostbares Leben zur Neige gehen, ihn weinen zu sehen. Ihn vor lauter Sehnsucht ihren Namen rufen zu hören, ihn sagen zu hören, wie sehr er sie brauche.

Sie fühlte sich so kalt und allein. Sie verabscheute dieses Gefühl hilflosen Ausgeliefertseins. Verzweifelt sehnte sie sich in ihren Körper zurück, der in einem einsamen Raum irgendwo in diesem befestigten Gefangenenlager wartete. Könnte sie doch nur endlich dorthin zurück.

Aber am meisten wünschte sie sich, Richard warnen zu können, ihm mitteilen zu können, daß Nicholas seinen Plan kannte.

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