Richard packte Owen am Hemd und rüttelte ihn kräftig durch. »Und wie viel Zeit bleibt mir noch, bis es mir wieder richtig mies geht? Wie lange habe ich noch zu leben, bis das Gift mich umbringt?«
Owens wirrer Blick huschte hin und her. »Wenn Ihr tut, was ich von Euch verlange, wie es Eure Pflicht ist, wird es Euch bald wieder ausgezeichnet gehen. Versprochen. Ihr seht doch, ich hab Euch das Gegenmittel gebracht. Es ist nicht meine Absicht, Euch Schaden zuzufügen; der Gedanke liegt mir fern, ich schwöre es.«
»Wie lange noch?«, wiederholte Richard.
»Aber Ihr braucht doch nur ...«
»Wie lange noch?«
Nervös benetzte Owen seine Lippen mit der Zunge. »Etwas weniger als einen Monat. Knapp einen Monat, aber nicht ganz ... glaube ich.«
Kahlan versuchte. Richard beiseite zu drängen. »Überlaß ihn mir. Ich werde im nu herausgefunden haben ...«
»Nein.« Cara riß Kahlan zurück und beschwor sie mit leiser Stimme: »Mutter Konfessor, laßt Lord Rahl tun, was immer er tun muß. Ihr wißt doch gar nicht, was Eure Berührung bei einem wie ihm bewirken kann.«
»Möglicherweise gar nichts«, beharrte Kahlan, »aber vielleicht funktioniert es trotzdem, dann könnten wir alles aus ihm herausbekommen.«
Cara hielt sie gewaltsam fest, mit einem Griff, aus dem Kahlan sich nicht befreien konnte. »Und wenn nur die subtraktive Seite funktioniert und ihn tötet?«
Kahlan stellte das Gerangel ein und musterte Cara mit finsterer Miene. »Seit wann, bitte schön, befaßt Ihr Euch mit den Finessen der Magie?«
»Seit Lord Rahl durch sie Schaden nehmen könnte.« Cara zog Kahlan noch weiter fort von Richard. »Ich bin auch nicht gerade auf den Kopf gefallen und durchaus in der Lage, einen Gedanken zu Ende zu denken. Habt Ihr Euch das auch gründlich überlegt? Wo liegt dieser Ort überhaupt? Und wo in diesem Ort befindet sich das Gegenmittel? Was tut Ihr, wenn der Mann durch die Berührung Eurer Kraft zu Tode kommt – Ihr hättet, statt die dringend benötigte Information zu erhalten, das Todesurteil über Lord Rahl gesprochen.
Wenn Ihr wollt, breche ich ihm die Arme – es wäre mir ein Vergnügen; ich lasse ihn bluten und sorge dafür, daß er vor Schmerzen schreit. Nur eins werde ich nicht tun: ihn töten. Im Gegenteil, ich werde alles daransetzen, daß er am Leben bleibt, damit er uns alle nötigen Informationen geben kann, um Lord Rahl von dieser tödlichen Gefahr zu erlösen.
Fragt Euch, ob Ihr es tun wollt, weil Ihr dadurch die nötigen Antworten zu erhalten glaubt, oder weil Ihr am liebsten zuschlagen und ihn verprügeln wollt. Lord Rahls Leben könnte davon abhängen, ob Ihr ehrlich zu Euch selber seid.«
Kahlan war von dem anstrengenden Gerangel, aber mehr noch wegen ihres unbändigen Zorns völlig außer Atem. Natürlich hätte sie, genau wie Cara sagte, am liebsten zugeschlagen, zurückgeschlagen. Sie würde alles in ihrer Macht stehende tun, um Richard zu retten und diesen Burschen zu bestrafen.
»Ich hab genug von diesem Spiel«, sagte sie schließlich. »Ich will einfach nur hören, was er zu sagen hat – und zwar die ganze Geschichte.«
»Ich auch«, sagte Richard. Er hob den Mann an seinem Hemd von den Füßen und setzte ihn unsanft auf eine Kiste. »Also schön, Owen, kein Drumherumgerede mehr, warum du dies getan hast oder das. Fang ganz von vorne an und erzähl uns, was passiert ist, und was du und dein Volk dagegen unternommen habt.«
Owen hockte da, zitternd wie Espenlaub. Jennsen drängte Richard ein Stück zurück. »Du machst ihm Angst«, raunte sie ihm ins Ohr. »Laß ihm ein wenig Raum, sonst bringt er womöglich kein einziges Wort über die Lippen.«
Richard holte einmal tief Luft, um sich zu beruhigen, während er Jennsen eine Hand auf die Schulter legte, als Dank für ihre Warnung. Er entfernte sich ein paar Schritte, blieb dann, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, stehen und blickte zu der Stelle hinüber, wo, jenseits der Berge, die ihn Kahlan so oft nachdenklich hatte betrachten sehen, in wenigen Augenblicken die Sonne aufgehen würde.
Die dunkle, geschlossene Wolkendecke, die sich über den gesamten Himmel bis zu der fernen Wand aus hohen Gipfeln erstreckte, berührte fast den Boden. Zum ersten Mal, solange Kahlan zurückdenken konnte, schien ihnen ein Unwetter bevorzustehen. Der verheißungsvolle Geruch von Regen verlieh der Luft etwas Belebendes.
»Woher kommst du?«, fragte Richard, nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte.
Owen räusperte sich, während er sein Hemd und seine dünne Jacke glatt strich, so als müßte er seine verlorene Würde wiederherstellen. Er blieb auf der Kiste sitzen.
»Früher lebte ich an einem Ort der Erleuchtung, in einer Zivilisation von hoher Kultur ... in einem großen Reich.«
»Und wo liegt dieses noble Reich?«, fragte Richard, den Blick noch immer in die Ferne gerichtet.
Owen reckte seinen Hals, schaute nach Osten und wies dabei mit dem Finger auf die steil emporragenden Gipfel, zu denen auch Richard hinübersah.
»Dort drüben. Seht Ihr den Einschnitt zwischen den hohen Bergen? Jenseits davon habe ich gelebt, in dem Reich, das hinter diesen Bergen liegt.«
Kahlan müßte sofort daran denken, wie sie Richard gefragt hatte, ob es eine Möglichkeit gebe, diese Berge zu überqueren. Richard hatte dies für eher unwahrscheinlich gehalten.
Er blickte über seine Schulter. »Wie lautet der Name dieses Reiches?«
»Bandakar«, erwiderte Owen mit ehrfürchtig gesenkter Stimme. »Ich war ein Bürger Bandakars, aus dem Reich Bandakar.«
Mittlerweile hatte Richard sich herumgedreht und starrte Owen auf höchst seltsame Weise an. »Bandakar. Weißt du auch, was der Name bedeutet?«
Owen nickte. »Ja. Bandakar ist ein altes Wort aus längst vergangener Zeit. Es bedeutet ›die Auserwählten‹ – die Bewohner des auserwählten Reiches.«
Richard schien ein wenig die Farbe aus dem Gesicht gewichen zu sein. Als sein und Kahlans Blick sich trafen, sah sie sofort, daß er sehr wohl wußte, was das Wort bedeutete, und Owen sich täuschte.
Unvermittelt tat er, als erinnere er sich plötzlich wieder, und strich sich nachdenklich über die Stirn. »Ist dir – oder einem anderen aus deinem Volk – die Sprache bekannt, aus der dieses alte Wort, Bandakar, stammt?«
Owen machte eine abfällige Handbewegung. »Über die Sprache wissen wir nichts; sie geriet vor langer Zeit schon in Vergessenheit. Nur die Bedeutung dieses Wortes wurde von Generation zu Generation weitergegeben, weil unserem Volk sehr daran gelegen ist, das Erbe seiner Bedeutung zu bewahren: das auserwählte Reich. Wir sind das auserwählte Volk.« Richards Verhalten hatte eine Veränderung durchgemacht; sein Ärger schien auf einmal wie verflogen. Er trat näher an Owen heran und meinte milde: »Und wieso ist dieses Reich Bandakar gänzlich unbekannt? Warum weiß niemand von der Existenz deines Volkes?«
Owen wandte den Blick ab und schaute nach Osten, wo er mit tränennassen Augen seine ferne Heimat zu sehen schien. »Es heißt, daß unsere Vorfahren, die uns diesen Namen gaben, uns beschützen wollten – weil wir ein besonderes Volk sind. Sie führten uns an einen Ort, der wegen der Berge, die ihn vollständig umschließen, vollkommen unzugänglich ist. Berge, wie sie nur der Schöpfer zur Abriegelung des dahinter liegenden Landes und zum Schutz des dort lebenden Volkes zu schaffen vermochte.«
»Mit Ausnahme jener einen Stelle« – Richard deutete nach Osten –, »jenes Einschnitts im Gebirge, dem Paß.«
»Richtig«, räumte Owen, den Blick noch immer auf seine Heimat gerichtet, ein. »Durch ihn gelangten wir in das dahinterliegende Land, in unsere Heimat, aber natürlich konnten auch andere ihn passieren. Es war die einzige Stelle, an der wir verwundbar waren. Ihr müßt wissen, daß wir ein erleuchtetes Volk sind, das jede Form der Gewaltanwendung überwunden hat; die Welt jedoch ist noch immer voller wilder, barbarischer Völker. Also taten die Altvorderen, die das Überleben unserer hoch entwickelten Kultur, ihr Gedeihen jenseits der Barbarei im Rest der Welt garantieren wollten, folgendes: Sie sperrten den Paß.«
»Und seit jener Zeit lebt dein Volk in völliger Abgeschiedenheit – seit Tausenden von Jahren.«
»So ist es. Wir leben in einem Land der Vollkommenheit, mit einer hoch entwickelten Kultur, die nie unter den Einfluss der Barbarei der Menschen hier draußen geraten ist.«
»Wie wurde dieser Paß, dieser Einschnitt in den Bergen, damals versperrt?«
Owen sah Richard an, als schien die Frage ihn zu verwirren. Er überlegte einen Moment. »Nun ja ... der Paß wurde eben versperrt. Danach konnte niemand diesen Ort passieren.«
»Weil jeder beim Betreten dieses Grenzgebietes sein Leben verloren hätte.«
Eine eisige Woge der Erkenntnis überkam Kahlan, als es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel, woraus die Sperre zu diesem Reich bestand.
»Nun, sicher«, stammelte Owen. »Aber eine andere Möglichkeit gab es nicht, wenn man verhindern wollte, daß Fremde in unser Reich eindringen. Wir lehnen jede Form der Gewalt bedingungslos ab; sie gilt bei uns als unerleuchtetes Verhalten. Gewalt erzeugt nur immer wieder neue Gewalt, so daß eine endlose Spirale der Gewalt entsteht.« Die Sorge, letztlich doch den Verlockungen dieses teuflischen Zaubers zu erliegen, machte ihn sichtlich nervös. »Wir sind ein hoch entwickeltes Volk, das über die Gewaltanwendung seiner Vorfahren erhaben ist. Dieses Verhalten haben wir überwunden. Ohne die Grenze jedoch, die den Paß versiegelt, und solange die übrige Welt nicht ebenfalls jeglicher Gewalt abschwört, könnte unser Volk leicht das Opfer unerleuchteter Barbaren werden.«
»Und jetzt ist diese Sperre durchbrochen worden.«
Owen blickte starr zu Boden und mußte schlucken, ehe er antworten konnte. »Ja.«
»Wie lange liegt der Fall der Grenze zurück?«
»Das wissen wir nicht genau. Die Gegend dort ist gefährlich; niemand lebt auch nur in ihrer Nähe, deshalb können wir es nicht mit Bestimmtheit sagen, wir glauben aber, daß es vor etwa zwei Jahren passiert sein muß.«
Kahlan überkam ein leichtes Schwindelgefühl, als sie ihre Befürchtungen bestätigt sah.
Als Owen den Kopf wieder hob, bot er ein Bild des Jammers. »Jetzt ist unser Reich den unerleuchteten Barbaren schutzlos ausgeliefert.«
»Kurz nachdem die Grenze gefallen war, ist die Imperiale Ordnung über den Paß einmarschiert.«
»Ja.«
»Und die schwarz gezeichneten Riesenkrähen stammen ebenfalls aus dem Land jenseits der schneebedeckten Gipfel, aus dem Reich Bandakar, hab ich Recht?«
Owen, offensichtlich überrascht, daß Richard dies wußte, sah auf. »Ja. Obwohl ihnen eigentlich jede Heimtücke fremd ist, ernähren sich diese schaurigen Geschöpfe von den Bewohnern meines Heimatlandes, so daß wir nachts, wenn sie auf Jagd gehen, unsere Häuser nicht verlassen können. Trotzdem trifft es manchmal Leute überraschend, vor allem Kinder, die schließlich zur Beute dieser furchterregenden Geschöpfe werden ...«
»Wieso tötet ihr sie nicht?«, warf Cara empört ein. »Wehrt Euch gegen sie? Schießt sie mit Pfeilen vom Himmel? Bei den Gütigen Seelen, warum schlagt ihr ihnen, wenn es denn gar nicht anders geht, nicht einfach mit einem Stein den Schädel ein?«
Schon der Gedanke schien Owen zutiefst zu schockieren. »Wie ich schon sagte, wir sind über Gewalt erhaben. Es wäre ein noch weit größeres Unrecht, diesen unschuldigen Geschöpfen mit Gewalt zu begegnen. Die Erhaltung ihrer Art ist unsere heilige Pflicht, schließlich waren wir es, die in ihr Reich eingedrungen sind. Die Schuld trifft allein uns, denn wir verleiten sie zu einem Verhalten, das für sie nur natürlich ist. Wir können unsere Unbescholtenheit nur bewahren, wenn wir die Welt so nehmen, wie sie ist, ohne uns von unseren fehlerhaften menschlichen Ansichten leiten zu lassen.«
Richard machte Cara ein verstohlenes Zeichen, ruhig zu bleiben. »Waren ausnahmslos alle Bewohner des Reiches friedfertig?«, lenkte er Owens Aufmerksamkeit von Cara ab.
»Ja.«
»Gab es nicht gelegentlich auch Ausnahmen, Menschen, die sich ... ich weiß nicht, danebenbenommen haben? Kinder, zum Beispiel. Wo ich herkomme, können Kinder sich gelegentlich sehr rüpelhaft und gemein gebärden. Das kann doch in deiner Heimat nicht viel anders gewesen sein.«
Owen deutete ein leichtes Schulterzucken an. »Na gut, mag sein. Es ist gelegentlich vorgekommen, daß Kinder sich danebenbenommen haben und aufsässig wurden.«
»Und was habt ihr mit solchen Kindern getan?«
Owen, sichtlich verlegen, räusperte sich. »Nun, sie wurden ... für eine Weile aus ihrem Elternhaus ausgesperrt.«
»Für eine Weile aus ihrem Elternhaus ausgesperrt«, wiederholte Richard. »Die Kinder, die ich kenne, wären normalerweise froh gewesen, wenn man ihnen gesagt hätte, sie sollten nach draußen gehen. Sie wären einfach spielen gegangen.«
Owen schüttelte heftig den Kopf; die Angelegenheit war offenbar ernsterer Natur. »Bei uns ist das anders. Wir sind vom Augenblick der Geburt an mit anderen zusammen, denn wir stehen uns alle sehr nah. Wir sind aufeinander angewiesen und schätzen einander sehr. Wir verbringen den gesamten Tag in Gesellschaft anderer, wir kochen, waschen und arbeiten gemeinsam und schlafen sogar zusammen in einem einzigen großen Haus. Wir führen einen erleuchteten Lebenswandel, der von den Kontakten untereinander bestimmt ist, von menschlicher Nähe. Es gibt kein höheres Gut als die Gemeinsamkeit.«
»Wenn also einer von euch«, hakte Richard in gespielter Verwirrung nach, »- ein Kind – ausgesperrt wird, dann ist dies für den Betreffenden demnach ein Grund, sich unwohl zu fühlen.«
Owen schluckte, während eine Träne über seine Wange lief. »Es ist das Schlimmste, was einem passieren kann. Ein größerer Schrecken, als ausgesperrt und von den anderen ferngehalten zu werden, ist für uns nicht vorstellbar. Zwangsweise der kalten Grausamkeit der Welt ausgesetzt zu werden, das ist ein Alptraum.«
Schon das Gespräch über diese fürchterliche Strafe, der Gedanke daran, bewirkte, daß Owen leicht zu zittern begann.
»Und zudem kann es gelegentlich vorkommen, daß die Riesenkrähen sich eines dieser Kinder greifen«, fuhr Richard in mitfühlendem Tonfall fort. »Wenn sie auf sich gestellt und somit verwundbar sind?«
Owen wischte sich die Träne mit dem Handrücken fort. »Wenn ein Kind zur Strafe ausgesperrt werden muß, treffen wir alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen. Nachts zum Beispiel sperren wir sie niemals aus, weil die Riesenkrähen dann gewöhnlich auf die Jagd gehen. Kinder werden ausschließlich tagsüber zur Strafe ausgesperrt. Aber ist einer von uns erst von den anderen getrennt, wird er anfällig für alle Schrecken und Grausamkeiten dieser Welt.
Wir würden alles tun, um einer solchen Bestrafung zu entgehen. Ein Kind, das unartig war und für eine Weile ausgesperrt wird, wird sich aller Voraussicht nach hüten, sich in der nächsten Zeit noch einmal danebenzubenehmen. Eine größere Freude, als endlich wieder in den Kreis der Freunde und Familie aufgenommen zu werden, gibt es nicht.«
»Demnach ist dieses Ausgesperrtwerden in deinem Volk die allerschlimmste Form der Bestrafung.«
Owen blickte in die Ferne. »Ja, das ist sie.«
»Dort, wo ich herkomme, kamen wir eigentlich auch alle recht gut miteinander aus. Wir waren gern in Gesellschaft und hatten stets großen Spaß, wenn wir in größeren Gruppen zusammenkamen. Das gesellige Beisammensein war etwas, auf das wir großen Wert legten. Sind wir eine Zeit lang fort, erkundigen wir uns nach allen Leuten, die wir kennen und die wir eine Weile nicht gesehen haben.«
Owen lächelte erwartungsvoll. »Dann wißt Ihr sicherlich, was ich meine.«
Richard erwiderte das Lächeln und nickte. »Nun kommt es aber gelegentlich vor, daß selbst ein Erwachsener sich danebenbenimmt. Natürlich versuchen wir alles in unserer Macht stehende, trotzdem kann es passieren, daß jemand sich etwas zu Schulden kommen läßt – etwas, von dem der Betreffende weiß, daß es nicht richtig ist. Er könnte lügen oder stehlen, oder schlimmer, einen anderen absichtlich verletzen – ihn schlagen zum Beispiel, um ihn auszurauben, eine Frau vergewaltigen oder sogar jemanden töten.«
Owen vermied es, Richard anzusehen, und starrte zu Boden.
Richard ging, wahrend er weitersprach, langsam vor ihm auf und ab. »Wenn sich jemand dort, wo du herkommst, etwas Derartiges zu Schulden kommen läßt, Owen, wie verhaltet ihr euch dann? Wie geht ein erleuchtetes Volk wie das deine damit um, wenn jemand ein so entsetzliches Verbrechen begeht?«
»Wir versuchen, solch fehlerhaftes Verhalten von vorneherein auszuschließen«, antwortete Owen prompt. »So teilen wir zum Beispiel unser gesamtes Hab und Gut mit anderen, so daß jeder alles zum Leben Notwendige hat und gar nicht erst stehlen muß. Wer stiehlt, tut dies, weil er sich durch das überlegene Betragen anderer gekränkt fühlt. Wir dagegen zeigen diesen Menschen, daß wir nicht besser sind als sie, sodaß sie keine Angst vor anderen haben müssen. Wir zeigen ihnen, wie man zur Erleuchtung gelangt und diese Verhaltensweisen überwindet.«
Richard hob gelassen die Schultern. Kahlan hatte vermutlich geglaubt, er stünde kurz davor, Owen an die Gurgel zu gehen, um eine Antwort auf seine Fragen zu erhalten, statt dessen jedoch gab er sich ruhig und verständnisvoll. Es war nicht das erste Mal, daß sie dieses Verhalten bei ihm beobachtete. Er war der Sucher der Wahrheit, ein Titel, der ihm völlig zu Recht vom Obersten Zauberer verliehen worden war. Richard tat lediglich, was Sucher eben taten: Er fand die Wahrheit heraus. Bisweilen benutzte er dazu sein Schwert, manchmal genügten Worte.
Es kam des Öfteren vor, daß Richard Menschen dazu brachte, sich bei einem Verhör selbst bloßzustellen, in diesem Fall jedoch konnte Kahlan sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Owen dieses Verhalten sehr vertraut war, ja, daß er sich geradezu wohl damit fühlte.
»Wir beide wissen, Owen, daß, so sehr wir uns auch bemühen, nicht alle Versuche, die Menschen zu ändern, von Erfolg gekrönt sind. Manche Menschen sind einfach unverbesserlich; manchmal tun sie einfach böse Dinge.«
»Nun ja«, stammelte Owen und mußte schlucken, »wie Ihr ganz richtig sagt, sind wir ein erleuchtetes Volk. Wenn jemand einem anderen Schaden zufügt, wird er ... öffentlich bloßgestellt.«
»Er wird öffentlich bloßgestellt. Mit anderen Worten, Ihr verurteilt die Tat, aber nicht den Täter. Ihr gebt dem Betreffenden eine zweite Chance.«
»Ja, richtig.« Owen wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah hoch zu Richard. »Wir scheuen keine Mühe, einen Menschen, der sich eines Vergehens schuldig gemacht hat und öffentlich bloßgestellt wurde, umzuerziehen. Wir betrachten seine Tat als Hilferuf, also beraten wir ihn auf dem Weg zur Erleuchtung und helfen ihm zu erkennen, daß er, wenn er einem Einzelnen Schaden zufügt, das ganze Volk schädigt, daß er mit dem Leid, das er anderen zufügt, nur sich selbst schadet. Wir begegnen ihm mit sehr viel Mitgefühl und Verständnis.«
Kahlan mußte Cara am Arm festhalten und mit einem ernsten Blick ermahnen, ruhig zu bleiben.
Richard ging gemächlich vor Owen auf und ab und nickte, so als fände er diesen Gedanken durchaus vernünftig. »Verstehe. Ihr scheut keine Mühe, um diese Menschen zu der Einsicht zu bringen, daß sie dergleichen nicht wieder tun dürfen.«
Owen, erleichtert, daß Richard verstand, nickte.
»Manchmal aber geht jemand, der öffentlich bloßgestellt und nach bestem Vermögen von Euch unterwiesen wurde, hin und begeht genau das gleiche Verbrechen – oder womöglich ein noch schlimmeres – noch einmal. Womit feststeht, daß er sich nicht umerziehen läßt, er eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt und das in ihn gesetzte Vertrauen nicht verdient. Sich selbst überlassen, wird ein solcher Mensch genau das, was ihr alle bedingungslos ablehnt – nämlich die Gewalt –, in eurem Volk verbreiten und andere mit seiner Einstellung anstecken.«
Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Owen hockte zitternd auf der Kiste – verängstigt, allein. Noch vor kurzem hatte er sich gesträubt, auch nur die einfachsten Fragen sinnvoll zu beantworten, jetzt aber hatte Richard ihn so weit, daß er sich freimütig äußerte.
Friedrich strich einem der Pferde über die Schnauze, während er das Geschehen stumm verfolgte. Jennsen hatte sich, Betty zu ihren Füßen, auf einem Felsen niedergelassen. Tom stand hinter ihr, eine Hand leicht auf ihre Schulter gelegt, ohne jedoch den Mann aus den Augen zu lassen, den Kahlan mit ihrer Kraft berührt hatte. Der kauerte ein Stück abseits und lauschte teilnahmslos, ihrer Befehle harrend.
Cara stand neben Kahlan, stets auf der Hut vor möglichem Unheil.
Kahlan war von der Geschichte jenes geheimnisumwitterten Reiches, das Richard diesem Fremden, der ihn vergiftet hatte, wie beiläufig und scheinbar mühelos entlockte, wie gelähmt. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, worauf Richard mit seinen nüchternen, sachlichen Fragen hinauswollte. Was hatten die Bestrafungsmethoden dieses Reiches mit der Tatsache zu tun, daß Richard vergiftet worden war? Dennoch war ihr klar, daß Richard sein Ziel klar vor Augen hatte und daß der Weg dorthin breit und sonnig war.
Richard blieb vor Owen stehen. »Wie verhaltet ihr euch in solchen Fällen – wenn es nicht gelingt, jemanden, der für alle zur Gefahr geworden ist, umzuerziehen? Was macht ein Volk von Erleuchteten mit solchen Menschen?«
Owen antwortete mit sanfter, in der Stille des frühmorgendlichen Nieselregens deutlich vernehmbarer Stimme. »Wir verbannen sie.«
»Ihr verbannt sie. Mit anderen Worten, Ihr schickt sie in das Grenzgebiet.«
Owen nickte.
»Aber sagtest du nicht eben, das Betreten des Grenzgebietes käme praktisch einem Todesurteil gleich? Ihr könnt diese Menschen doch nicht einfach in das Grenzgebiet schicken, damit würdet ihr sie ja hinrichten. Es muß doch eine Art Durchgang geben, durch den ihr sie schicken könnt. Einen ganz besonderen Ort; einen Ort, an den ihr sie verbannen könnt, ohne sie zu töten, von wo sie aber nicht zurückkehren können, um Eurem Volk weiteren Schaden zuzufügen.«
Wieder nickte Owen. »Richtig, einen solchen Ort gibt es. Der Paß, der durch die Grenze versperrt wird, ist steil und tückisch, es gibt jedoch einen Pfad, der in das Grenzgebiet hinunterführt. Dieselben Vorfahren, die uns mit dem Errichten der Grenze beschützen wollten, haben einst auch diesen Pfad angelegt. Angeblich kann man auf ihm das Grenzgebiet durchqueren. Wegen des starken Gefälles am Hang ist er nur schwer begehbar, jedoch gut zu erkennen.«
»Und nur, weil er so schwierig zu passieren ist. kann man ihn nicht wieder hinaufsteigen, um wieder nach Bandakar hineinzugelangen?«
Owen biß sich auf die Unterlippe. »Bergab führt er durch eine grauenvolle Gegend, eine schmale Passage im Grenzgebiet, wo es keine Spur von Leben gibt und angeblich der Tod zu beiden Seiten lauert. Wer verbannt wird, erhält weder Wasser noch andere Vorräte; die muß er sich selbst auf der anderen Seite suchen, oder er geht zu Grunde. Am Beginn des Pfades stellen wir Beobachter auf, die so lange ausharren, bis sie sicher sind, daß der Verbannte das Grenzgebiet tatsachlich durchquert hat und sich nicht noch in der Nähe herumtreibt, um später wieder umzukehren. Die Beobachter warten mehrere Wochen, bis sie sich vergewissert haben, daß der Verbannte sich jenseits des Grenzgebietes auf die Suche nach Nahrung und Wasser gemacht hat und bereit ist, sich eine neue Existenz fern seines Volkes zu suchen.
Unmittelbar nach Durchqueren des Grenzgebietes verwandelt sich der Wald in einen beängstigenden Ort des Schreckens, voller Wurzeln, die wie Schlangen in einem von diesen Tieren verseuchten Gebiet vom Grat herabhängen. Der Pfad führt einen unter diesem dichten Vorhang aus Wurzeln und herabstürzenden Wasserläufen hindurch, bis man sich weiter unten plötzlich in einer fremdartigen Welt wiederfindet, wo die Bäume hoch über einem dem fernen Licht entgegenzustreben scheinen, man selbst jedoch nur ihre verschlungenen Wurzeln sieht, die sich in das Dunkel dicht über dem Grund strecken. Es heißt, sobald man diesen Wurzelwald rings um sich aufragen sieht, hat man das Grenzgebiet und den Paß durch das Gebirge hinter sich gelassen.
Angeblich ist es völlig unmöglich, unser Land von dieser Seite aus zu betreten und über den Paß in unser Reich zurückzukehren. Einmal verbannt, ist man rettungslos verloren.«
Richard trat näher zu Owen hin und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Und was hast du verbrochen, daß man dich verbannt hat, Owen?«
Owen sank nach vorn und schlug die Hände vors Gesicht, ehe er schließlich schluchzend zusammenbrach.