Irgendwo hinter seinem Rücken hörte er Jennsen hektisch wegkrabbeln.
»Jennsen? Was ist passiert? Was tust du?«
Mit einem Aufschrei hielt sie plötzlich vor Entsetzen wimmernd auf den Lichtschein bei der Felsenöffnung zu.
»Jennsen!«, rief Richard ihr zu. »Nicht dort entlang! Bleib bei mir!«
Unter Aufbietung aller Kräfte schob er sich ein Stück nach vorn, ehe er sich im Krebsgang zur Seite drehte und sie auszumachen versuchte. Jennsen, taub für seine Zurufe, kroch auf Händen und Füßen weiter auf das Licht zu.
Richard versetzte den Rucksäcken einen kräftigen Stoß und arbeitete sich wie von Sinnen vorwärts, bis er in den Bereich jenseits des Engpasses gelangte, wo er zumindest genügend Platz hatte, um tief durchzuatmen und sich fast bis auf Hände und Knie zu erheben.
Jennsen stieß erneut einen Schrei aus. Richard konnte nur undeutlich ausmachen, wie sie ihre Finger panisch in den Fels krallte, ohne auch nur einen Millimeter voranzukommen. Mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung versuchte sie sich vorwärts zu schieben, statt dessen aber rutschte sie seitlich weiter die Schräge hinunter und klemmte sich noch fester ein.
»Jennsen! Atme ganz flach und beruhige dich!«, rief Richard ihr zu, während er robbend zur Öffnung herumschwenkte. »Atme ruhig und flach! Atme!«
Endlich erreichte Richard die Öffnung. Er zwängte sich aus dem dunklen Felsspalt ins Freie und kniff gegen die plötzliche Helligkeit die Augen zusammen. Noch auf den Knien beugte er sich wieder in die Öffnung und half Kahlan heraus. Unmittelbar dahinter folgte Betty, der es irgendwie gelungen war alle anderen zu überholen. Nachdem kurz darauf Owen und schließlich auch Cara aus der Öffnung geklettert kamen, legte Richard seinen Waffengurt ab und reichte Kahlan sein Schwert.
Von weiter hinten rief Tom, er wolle noch einmal zurück und versuchen, bis zu Jennsen vorzudringen.
Kaum waren alle sicher im Freien, zwängte Richard sich erneut in die Felsspalte. Kopf voran, krabbelte er auf Händen und Knien in die Dunkelheit und sah sofort, daß Tom von der Seite, von der aus er sich ihr zu nähern versuchte, keine Chance hatte, bis zu ihr vorzudringen.
»Ich hole sie, Tom!«
»Ich kann sie fast schon berühren«, rief dieser, während er sich selbst immer fester verkeilte.
»Nein, könnt Ihr nicht«, erklärte Richard mit entschiedenem Ernst. »Der Wille allein wird Euch nicht weiterbringen. Ihr werdet Euch nur immer fester einklemmen. Hört mir genau zu. Kriecht zurück, sofort, ehe Euer Körpergewicht Euch die Schräge hinunterzieht und Ihr so fest eingezwängt werdet, daß Ihr Euch nicht mehr befreien könnt. Macht schon. Überlaßt Jennsen mir.«
Als Tom weg war, legte Richard sich flach auf den Bauch und arbeitete sich mit windenden, schlängelnden Bewegungen tiefer hinab, während er sich gleichzeitig weiter nach links die Schräge der Felsplatte hinunterschob. »Atme, Jennsen. Ich bin schon unterwegs. Alles in Ordnung!«
»Richard, bitte laß mich nicht allein hier zurück! Richard!«
Er redete mit leisen, beruhigenden Worten auf sie ein, während er sich langsam hinter ihr in den engeren Teil der Höhle zwängte. »Ich lasse dich nicht zurück. Alles wird wieder gut. Warte einfach auf mich.«
»Ich kann mich nicht bewegen, Richard!« Sie ächzte angestrengt. »Ich krieg keine Luft! Die Decke senkt sich herab! Sie bewegt sich – ich spüre deutlich, wie sie sich bewegt. Sie wird mich zerquetschen! Hilf mir, bitte! Richard, bitte laß mich nicht allein!«
»Sei unbesorgt, Jennsen. Die Decke bewegt sich nicht. Du sitzt einfach fest. Einen Augenblick noch, dann hab ich dich befreit!«
»Richard«, rief sie, »es tut so weh. Ich krieg keine Luft. Ich sitze fest. Bei den gütigen Seelen, ich kriege keine Luft. Bitte, Richard, ich hab solche Angst!«
Richard streckte seinen Körper und versuchte, ihren Knöchel zu fassen zu bekommen. Zu weit weg. Er mußte seinen Kopf zur Seite drehen, um sich weiter vorschieben zu können. Beide Ohren scharrten gegen Stein. Mit windenden Bewegungen gelang es ihm, sich Zoll für Zoll tiefer hinabzuschieben – wider sein besseres Wissen, daß er ohnehin bereits in der Klemme steckte.
»Jennsen, bitte, du mußt mir helfen. Du mußt dich ein kleines Stück zurückschieben, damit ich dich zu fassen kriege.«
»Nein! Bitte! Ich will raus! Ich will hier raus!«
»Ich hole dich ja raus, versprochen. Schieb dich einfach zurück, damit ich deinen Knöchel packen kann.«
Da sie das Licht verdeckte, vermochte er nicht zu erkennen, ob sie seine Anweisung befolgte oder nicht. Er wand sich ein kleines Stück tiefer hinein, dann noch mehr. Mittlerweile saß sein Kopf nahezu unverrückbar fest. Es war ihm absolut schleierhaft, wie sie es so tief nach unten geschafft hatte.
»Schieb dich zurück, Jennsen.« Sein Stimme klang gepresst. Er bekam nicht genug Luft, um gleichzeitig zu sprechen und zu atmen.
Er streckte die Finger vor, griff ins Leere, straffte seinen Körper, streckte erneut die Finger. Seine Lungen gierten nach Luft ... Die anderen warteten bereits unmittelbar vor dem Ausgang und halfen ihnen heraus. Richard hatte einen Gegenstand, den er unterwegs gefunden hatte, unter den linken Arm geklemmt, während er half, Jennsen zuerst ins Freie zu schieben. Sie stürzte in Toms wartende Arme, aber nur, bis Richard ebenfalls herausgekrabbelt war und sich aufgerichtet hatte. Dann warf sie sich, Tränen der Erleichterung in den Augen, in seine Arme und klammerte sich an ihn, als hinge ihr Leben davon ab.
»Es tut mir so leid«, wiederholte sie ein ums andere Mal, während sie ihren Tränen freien Lauf ließ. »Es tut mir so leid, Richard. Ich hatte solche Angst.«
Er hielt sie noch immer in den Armen. »Ich weiß«, tröstete er sie. Einmal hatte er sich ja in einer ganz ähnlichen Situation befunden und geglaubt, sich nicht mehr aus dieser entsetzlichen Lage befreien zu können, deshalb hatte er Verständnis.
»Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Es war richtig unheimlich. Es war, als würden diese Gedanken, daß ich nie wieder herauskommen würde, keine Luft bekäme und sterben müßte, plötzlich Besitz von mir ergreifen. Gefühle, die ich bislang gar nicht kannte, überkamen mich. Sie schienen mich glatt zu übermannen. So etwas ist mir noch nie passiert.«
»Spürst du diese seltsamen Gefühle noch immer?«
»Ja«, antwortete sie unter Tränen, »aber jetzt, wo ich wieder draußen bin, wo es vorbei ist, klingen sie allmählich ab.«
Die anderen hatten sich ein kleines Stück entfernt, um ihr die nötige Zeit zu geben, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Richard versuchte, sie nicht zu drängen. Er hielt sie einfach fest und gab ihr das Gefühl, in Sicherheit zu sein.
»Es tut mir so leid, Richard. Ich komme mir so albern vor.«
»Brauchst du nicht. Es ist ja vorbei.«
»Du hast dein Versprechen gehalten«, sagte Jennsen, noch immer unter Tränen.
Ein Lächeln ging über Richards Lippen; er war selbst froh darüber.
»Richard«, rief Kahlan mit einem sonderbaren Unterton in der Stimme. »Was ist das da unter deinem Arm?«
»Oh, das habe ich unweit von Jennsen im Fels eingeklemmt gefunden, nahe der Stelle, wo sie festsaß. Im Dunkeln konnte ich nichts Genaues erkennen – außer daß es nicht aus Stein war.«
Er zog den Gegenstand hervor, um ihn zu betrachten. Es war eine kleine Statuette, eine ihm – in seinem Kriegszaubereranzug – nachempfundene Figur. Der Umhang war in einer wirbelnden Bewegung um die Beine festgehalten, so daß der Sockel etwas breiter war als die Taille. Die untere Partie der Figur war von lichtdurchlässiger Bernsteinfarbe, hinter der man ein Rinnsal aus feinem Sand in den beinahe gefüllten unteren Teil rieseln sah.
Im Gegensatz zu Kahlans Statuette bestand diese hier nicht ganz aus Bernstein. Im mittleren Teil ging der durchscheinende Bernstein des Sockels in eine dunklere Farbe über, so daß der Engpaß, durch den der Sand rieselte, verdeckt war. Nach oben hin wurde die Figur zunehmend dunkler.
Die obere Partie aus Kopf und Schultern war so tiefschwarz wie ein Nachtstein. Nachtsteine gehörten der Unterwelt an, ein gefährliches Material, dessen Aussehen Richard nur zu gut noch in Erinnerung war. Der obere Teil der Statuette schien aus dem gleichen unheilvollen Material zu bestehen – glänzend, glatt und von einer so tiefen Schwärze, daß sie das Tageslicht in sich aufzunehmen schien.
Ein Gefühl der Mutlosigkeit befiel ihn, als er sich auf diese Weise, als bereits vom Tod gezeichneter Talisman, dargestellt sah.
»Die hat sie gemacht«, rief Owen und drohte Jennsen, die noch immer in Richards schützendem rechten Arm lag, vorwurfsvoll mit dem Finger. »Mit Magie. Ich hab ja gleich gesagt, sie kann das. Sie hat sie dort unten in der Höhle in einem unbemerkten Augenblick aus schwarzer Magie erschaffen. Aus Nachlässigkeit hat sie einen Moment vergessen, daß sie keine Magie bewirken kann, und schon hat diese sie übermannt und sich in Gestalt der Statuette manifestiert.«
Owen hatte offenbar nicht die leiseste Ahnung, was er da redete. Diese Statuette war eindeutig nicht Jennsens Werk.
Sie war das zweite Warnzeichen, gedacht als Warnung an den, der imstande war, die Lücke wieder zu verschließen.
»Lord Rahl ...«
Richard sah auf. Es war Cara. die gesprochen hatte.
Sie stand ein Stück abseits mit dem Rücken zu ihnen und schaute hoch zu einem kleinen Himmelsausschnitt zwischen den Bäumen. Jennsen drehte sich in seinen Armen herum, um zu sehen, was der Grund für Caras seltsamen Tonfall sein mochte. Er zog seine Schwester fest an sich, trat hinter Cara und spähte zwischen den Wipfeln in den Himmel, um zu sehen, wohin sie blickte.
Durch eine lichte Stelle im Dach aus Föhrenzweigen konnte man, oberhalb von ihnen, den Rand des Gebirgspasses erkennen. Vor den eisengrauen Wolken, die sich verstohlen durch den Pass schoben, zeichnete sich die Silhouette eines eindeutig von Menschenhand geschaffenen Objekts ab.
Es sah aus wie eine gewaltige, mitten auf dem Paß sitzende Statue.