13

Richard war sofort auf den Beinen, als er Cara durch die Schlucht auf das Lager zumarschieren und dabei einen Mann vor sich herstoßen sah, den er irgendwo schon einmal meinte gesehen zu haben. Im schwindenden Licht war das Gesicht des Mannes nicht deutlich zu erkennen. Er suchte die umliegenden Geröllfelder, die felsigen Hänge und die steilen, baumbewachsenen Hänge dahinter mit den Augen ab, aber sonst war niemand zu sehen.

Friedrich war ein Stück Richtung Süden gegangen, und Tom hatte sich in westlicher Richtung entfernt, um, wie Cara auch, das umliegende Gelände zu erkunden und sich zu vergewissern, daß niemand in der Nähe und dies ein sicherer Platz für ein Nachtlager war. Die beschwerliche Suche nach dem ständig die Richtung wechselnden Pfad durch das zunehmend zerklüftete Gelände hatte an ihren Kräften gezehrt. Cara hatte sich Richtung Norden umgesehen; es war ihre Marschrichtung und die Richtung, aus der Richard die wahrscheinlich größte Gefahr befürchtete. Jennsen ließ von den Tieren ab und wartete, um zu sehen, wen die Mord-Sith da anschleppte.

Kaum auf den Beinen, wünschte sich Richard, er wäre nicht ganz so überhastet aufgesprungen – die hektische Bewegung hatte ein Schwindelgefühl bei ihm ausgelöst. Dieses seltsam losgelöste Gefühl, so als sähe er jemand anderen reagieren, sprechen und sich bewegen, schien er überhaupt nicht mehr ablegen zu können. Manchmal, wenn er sich zusammenriß und sich voll auf eine Sache konzentrierte, ließ das Gefühl wenigstens teilweise nach, bis er sich zu fragen begann, ob er es sich nicht doch nur eingebildet hatte.

Er spürte Kahlans Hand auf seinem Arm, die ihn festhielt, so als glaubte sie, ihn stützen zu müssen.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich leise.

Er nickte, ohne Cara und den Fremden aus den Augen zu lassen. Vermutlich hatte er einen leichten Fieberanfall, was auch erklären würde, warum ihn fröstelte, während alle anderen schwitzten.

Ein Fieberanfall wäre allerdings so ziemlich das Letzte, was er in diesem Augenblick gebrauchen konnte. Es standen so wichtige ... wichtige Dinge an – was genau, war ihm offenbar im Augenblick entfallen. Er konzentrierte sich ganz auf den Versuch, sich an den Namen des jungen Fremden zu erinnern, oder zumindest, wo er ihn schon einmal gesehen hatte.

Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne überzogen die Berge im Osten mit einem rosafarbenen Schimmer, während die näheren Hügel in der aufkommenden Dämmerung zu einem zarten Grau verblaßten. Jetzt, da es allmählich dunkel zu werden begann, tauchte das niedrig brennende Lagerfeuer die unmittelbare Umgebung in ein warmes, gelbliches Licht. Richard hatte ihr Kochfeuer klein gehalten, um ihren Standort nicht deutlicher als unbedingt nötig preiszugeben.

»Lord Rahl«, grüßte der Fremde ehrfurchtsvoll, als er das Lager betrat, und senkte zögernd kurz das Haupt, offenbar unsicher, ob es angebracht sei, sich zu verbeugen oder nicht. »Es ist mir eine Ehre, Euch wiederzusehen.«

Er mochte ein paar Jahre jünger sein als Richard und hatte schwarzes, lockiges Haar, das bis knapp auf die breiten Schultern seiner ledernen Jacke fiel. In seinem Gürtel trug er ein langes Messer, aber kein Schwert. Seine Ohren standen weit vom Kopf ab, so daß es aussah, als lauschte er angestrengt auf jedes noch so feine Geräusch. Richard vermutete, daß er sich als kleiner Junge wegen seiner Ohren eine Menge Hänseleien hatte anhören müssen, jetzt aber als Erwachsenem, verliehen ihm seine Ohren einen Ausdruck ernster Aufmerksamkeit. Kräftig wie er war, bezweifelte Richard, daß er sich noch immer irgendwelchen Spott deswegen gefallen lassen mußte.

»Ich ... tut mir leid, aber ich kann mich offenbar nicht recht erinnern ...«

»Oh, wie solltet Ihr auch, Lord Rahl. Ich war doch nur...«

Plötzlich fiel es Richard wieder ein. »Sabar, richtig? Du hast die Schmelzöfen in Priskas Gießerei in Altur’Rang befeuert.«

Sabar strahlte über das ganze Gesicht. »Das ist richtig. Ich kann gar nicht glauben, daß Ihr Euch an mich erinnert.«

Sabar war einer der Männer in Priskas Gießerei, die hatten weiterarbeiten können, weil Richard Priska mit Material belieferte, als niemand sonst sich dazu in der Lage sah. Er hatte begriffen, wie hart Priska schuften mußte, um trotz der unablässigen willkürlichen und oft widersprüchlichen Verordnungen der Imperialen Ordnung den Betrieb in seiner Gießerei aufrechtzuerhalten. Er war bei der Enthüllung der von Richard aus Stein gemeißelten Statue anwesend gewesen und hatte sie noch vor ihrer Zerstörung gesehen. Er hatte auch die Anfänge der Revolution in Altur’Rang miterlebt und an der Seite von Victor, Priska und all den anderen gekämpft, die die entsprechende Gelegenheit sofort beim Schopf ergriffen hatten. Tapfer hatte er für seine persönliche Freiheit, die seiner Freunde und seiner Stadt gekämpft.

Jener eine Tag hatte alles verändert...

Lächelnd sagte Richard zu Cara: »Schon gut, ich kenne diesen Mann.«

»Das hat er mir bereits erzählt.« Sie legte Sabar eine Hand auf die Schulter und drückte ihn hinunter. »Setz dich doch.«

»Genau,«, sagte Richard, froh, daß Cara dabei halbwegs freundlich geblieben war. »Setz dich hin und erzähl uns, was dich herführt.«

»Nicci schickt mich.«

Richard erhob sich, abermals mit einer zu schnellen Bewegung, und auch Kahlan war sofort wieder aufgesprungen. »Nicci? Wir sind doch gerade auf dem Weg zu ihr.«

Sabar nickte und erhob sich halb von seinem Platz, unschlüssig, ob er, weil Richard und Kahlan aufgesprungen waren, aufstehen oder sitzen bleiben sollte.

Cara hatte sich gar nicht erst hingesetzt, sondern, einem Scharfrichter gleich, hinter Sabar Stellung bezogen. Sie hatte den Beginn der Revolution in Altur’Rang miterlebt und erinnerte sich möglicherweise sogar an ihn, im Zweifel spielte dies jedoch keine Rolle. Wenn es um Kahlans oder Richards Sicherheit ging, traute Cara niemandem.

Richard bedeutete Sabar. sitzen zu bleiben. »Wo befindet sie sich jetzt?«, erkundigte er sich.

»Nicci trug mir auf, Euch auszurichten, sie hätte so lange gewartet, wie es nur ging, doch dann hätten dringende Ereignisse sie gezwungen aufzubrechen.«

Richard stieß einen enttäuschten Seufzer aus. »Uns ist auch einiges dazwischengekommen. Wir waren bereits auf dem Weg zu Nicci, mußten dann aber einen Umweg machen. Wir hatten keine andere Wahl.«

Sabar nickte verständnisvoll. »Ich war ziemlich besorgt, als sie zurückkehrte und berichtete, Ihr wärt am vereinbarten Treffpunkt nicht erschienen, bis sie uns schließlich erklärte, Ihr wärt bestimmt wegen einer dringenden Angelegenheit verhindert.

Auch Victor Cascella, der Schmied, war überaus besorgt, als Nicci uns davon erzählte. Er war davon ausgegangen, Ihr würdet mit Nicci zurückkommen, und sagte, er kenne noch andere Orte, Orte, wo er und Priska gelegentlich zu tun hätten, um Materialien und Ähnliches zu besorgen, die ebenfalls kurz vor einem Aufstand stünden. Die Menschen dort hätten von den Geschehnissen in Altur’Rang und vom Sturz der Imperialen Ordnung gehört und daß es den Menschen dort allmählich besser gehe. Er kenne ein paar freiheitsliebende Männer in diesen Orten, die, wie wir früher auch, größte Mühe hätten, unter der Tyrannei der Imperialen Ordnung ihr Auskommen zu finden, und die sich nach Freiheit sehnen. Sie haben Victor um Hilfe gebeten.

Einigen Ordensbrüdern der Bruderschaft der Imperialen Ordnung ist es gelungen, aus Altur’Rang zu fliehen. Sie sind in diese Orte gegangen, um sicherzustellen, daß der Aufstand sich nicht bis dort ausweitet. Dabei gehen sie mit ungeheurer Grausamkeit gegen jeden vor, der sich eines Umsturzversuches verdächtig macht, was schon zahllose Menschen das Leben gekostet hat – Unschuldige, aber auch solche, die im Kampf für den Sturz der Imperialen Ordnung unverzichtbar sind.

Mittlerweile sind die Ordensbrüder in sämtliche wichtigen Städte ausgeschwärmt, um sich die Kontrolle über die Regierungseinrichtungen zu sichern. Einige dieser Priester haben sich bestimmt bereits auf den Weg gemacht, um Jagang vom Fall der Stadt Altur’Rang, vom Verlust zahlreicher Beamten während der Kämpfe dort und vom Tod Bruder Narevs sowie des engsten Kreises seiner Anhänger zu unterrichten.«

»Jagang weiß längst von Bruder Narevs Tod«, warf Jennsen ein und reichte ihm einen Becher Wasser.

Sabars Lächeln war seine Genugtuung über ihre Bemerkung anzusehen. Er dankte ihr für das Wasser, dann beugte er sich vor zu Richard und Kahlan und fuhr mit seiner Geschichte fort.

»Priska ist überzeugt, daß die Imperiale Ordnung den Erfolg des Aufstandes in Altur’Rang mit aller Gewalt wieder rückgängig machen will; etwas anderes kann sie sich auch gar nicht erlauben. Seiner Meinung nach sollten wir uns nicht um die Ausweitung der Revolution sorgen, sondern Vorkehrungen zu unserer Verteidigung treffen und jeden Mann bereithalten, da die Imperiale Ordnung gewiß zurückkehren wird, um die Bevölkerung Altur’Rangs bis auf den letzten Mann niederzumetzeln.«

Sabar hielt zögernd inne; Priskas unverblümte Warnung machte ihm sichtlich zu schaffen. »Victor hingegen meinte, wir sollten das Eisen schmieden, solange es heiß ist, und Vorsorge für eine gerechte und sichere Zukunft treffen, statt abzuwarten, bis die Imperiale Ordnung ihre Kräfte neu formiert hat, um uns ebendiese Zukunft vorzuenthalten. Seiner Meinung nach wird die Imperiale Ordnung die Revolte, wenn sie sich erst einmal wie ein Flächenbrand ausgebreitet hat, nicht ohne weiteres wieder austreten können.«

Richard fuhr sich erschöpft mit der Hand durchs Gesicht. »Ich denke, Victor hat Recht. Wenn die Männer dort versuchen, Altur’Rang zum einzigen Hort der Freiheit im Herzen des Feindeslandes zu machen, wird der Orden mit brutaler Gewalt dort einmarschieren und dieses Herz herausschneiden. Die abartigen Vorstellungen der Imperialen Ordnung haben keine Überlebenschance – das wissen diese Leute, weswegen sie ihre Überzeugungen auch nur mit Gewalt durchsetzen können. Ohne die Tyrannei der Gewalt würde der Orden wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen.

Jagang hat zwanzig Jahre darauf verwendet, ein Straßennetz zu schaffen, um die vielfältige und innerlich zerrissene Alte Welt zur Imperialen Ordnung zu vereinigen. Doch solange Jagang mit seiner gewaltigen Armee im Norden steht, ist die Imperiale Ordnung hier vor Ort zwangsläufig geschwächt. Diese Schwäche ist unsere Chance, die wir nutzen müssen. Denn in Abwesenheit Jagangs und seiner Truppen werden uns eben diese Straßen, die er hier weiter südlich, hat anlegen lassen, helfen, den Freiheitskampf rasch auf das ganze Land auszuweiten.

Es war der unbeugsame Wille der Einwohner Altur’Rangs, der die Fackel der Freiheit entzündet hat. Diese Flammen müssen hell über dem ganzen Land erstrahlen, damit auch andere Gelegenheit haben, ihr Licht zu sehen. Wenn eine solche Flamme irgendwo abseits im Verborgenen brennt, ist es für die Imperiale Ordnung ein Leichtes, sie wieder auszutreten. Es kann gut sein, daß weder wir noch unsere Kinder jemals eine zweite Chance erhalten, die Herrschaft über unser Leben zurückzuerobern, deswegen muß diese Fackel auch an andere Orte getragen werden.«

Sabar, erfüllt von stillem Stolz, daß er an den Anfängen dieser Entwicklung beteiligt gewesen war meinte lächelnd: »Ich weiß, Viktor sähe es gern, wenn andere, wie Priska, an diese Dinge erinnert würden und sie erführen, was Lord Rahl darüber zu sagen hat, wie wir weiter vorgehen sollen. Deshalb würde er gerne mit Euch sprechen, ehe er in diese Orte geht, um ›die Glut zu schüren‹, wie er es nennt. Er wartet auf Nachricht von Euch; er möchte wissen, wie Euer nächster Zug aussehen wird und wie man ›diese Burschen‹- so nannte er es -›das heiße Eisen spüren läßt‹.«

»Dann hat Nicci dich also geschickt, um mich zu suchen.«

»Ja. Ich habe mich sehr gefreut, als sie mich bat, Euch aufzusuchen. Und Victor wird auch erfreut sein, nicht nur zu hören, daß Ihr wohlauf seid, sondern auch, was Lord Rahl ihm zu sagen hat.«

Victor wartete also auf Nachricht von ihm, er würde jedoch, dessen war Richard sicher, auch ohne diese Nachricht handeln. Schließlich ging es bei dieser Revolte nicht um Richard – in diesem Fall hätte sie wohl kaum Erfolg –, sondern um den Wunsch des Volkes, wieder selbst über sein Leben bestimmen zu können. Trotzdem, er würde bei der koordinierten Ausweitung der Revolte helfen müssen, um zu gewährleisten, daß sie möglichst wirkungsvoll verlief und den Menschen nicht nur ihre lang ersehnte Freiheit wiederbrachte, sondern auch die Imperiale Ordnung in ihren Grundfesten erschütterte. Nur wenn die Herrschaft der Imperialen Ordnung über die Alte Welt erfolgreich beendet würde, würde sich Jagangs Interesse – und ein Großteil seiner Truppen – von der Eroberung der Neuen Welt ablenken lassen.

Jagangs Pläne für die Eroberung der Neue Welt sahen zunächst deren Spaltung vor – wenn Richard Erfolg haben wollte, mußte er sich der gleichen Strategie bedienen, denn auch die Streitkräfte der Imperialen Ordnung waren nur durch Teilung zu besiegen.

Richard wußte, gleich nach der Evakuierung der Stadt Aydindril würde die Imperiale Ordnung ihre Waffen gegen D’Hara richten. So tapfer seine Truppen auch waren, sie würden von der ungeheuren Übermacht, die Jagang gegen sie aufbieten würde, schlicht überrannt werden, und D’Hara würde unter die Herrschaft des Ordens fallen – es sei denn, man lenkte sie von ihren ursprünglichen Zielen ab oder spaltete sie in überschaubare Teilstreitkräfte auf. Das d’Haranische Reich, gegründet als Schutzbündnis der Neuen Welt gegen die Tyrannei, wäre am Ende, ehe es überhaupt richtig zu existieren begonnen hätte.

Deshalb mußte Richard zurück zu Victor und Nicci, damit sie das einmal begonnene Werk gemeinsam fortführen und die wirkungsvollste Strategie für den Sturz der Imperialen Ordnung finden konnten.

Unglücklicherweise lief ihnen unterdessen jedoch bei der Lösung eines anderen Problems, eines Problems, das sie noch nicht durchschauten, die Zeit davon.

»Ich bin froh, daß du uns gefunden hast, Sabar. Richte Nicci und Victor bitte aus, daß wir uns zuvor noch um etwas anderes kümmern müssen, daß wir sie aber, sobald dies geschehen ist, bei ihrem Vorhaben unterstützen können.«

Sabar wirkte erleichtert. »Es wird sie freuen, das zu hören.«

Dann zögerte er, neigte den Kopf zur Seite und deutete mit einer Handbewegung Richtung Norden. »Ich bin auf dem Weg hierher, um Euch zu suchen, Niccis Wegbeschreibung gefolgt; dabei kam ich, ehe ich mich später wieder etwas südlicher hielt, auch durch die Gegend, wo sie sich mit Euch treffen wollte.« Ein Anflug von Besorgnis mischte sich in seine Züge. »Vor ein paar Tagen dann stieß ich auf ein Gebiet von mehreren Meilen Breite, in dem es nicht das geringste Anzeichen von Leben gab.«

Richard hob erstaunt den Kopf. Seine Kopfschmerzen schienen schlagartig abgeklungen zu sein. »Kein Anzeichen von Leben? Was genau meinst du damit?«

Sabar deutete mit der Hand in das abendliche Dämmerlicht. »Das Gebiet, durch das ich kam, ähnelte im Großen und Ganzen der Landschaft hier; es gab ein paar vereinzelte Bäume, ein paar Grasbüschel und gelegentlich ein kleines Dickicht aus Gestrüpp.« Er senkte die Stimme. »Aber dann gelangte ich in ein Gebiet, wo plötzlich jeglicher Bewuchs endete, und zwar schlagartig, so als hätte jemand eine Linie gezogen. Dahinter gab es nichts als Felsen. Nicci hatte mich darauf vorbereitet, daß ich an diesen Ort gelangen würde, trotzdem muß ich zugeben, daß ich es mit der Angst bekam.«

Richard sah nach rechts – nach Osten – zu den fernen Bergen. »Bis wohin erstreckte sich dieser Ort, an dem es absolut kein Leben gab?«

»Nun, nachdem ich alles Lebendige hinter mir gelassen hatte und weiterging, war mir, als marschierte ich geradewegs in die Unterwelt hinein.« Sabar wich Richards Blick aus. »Oder in die Fänge einer neuartigen Waffe, geschaffen von der Imperialen Ordnung, um uns alle zu vernichten.

Ich bekam eine Heidenangst und wollte schon umkehren, doch dann dachte ich daran, daß die Imperiale Ordnung mir schon mein ganzes Leben lang Angst eingejagt hatte, und die Vorstellung paßte mir gar nicht. Schlimmer noch, ich stellte mir vor, wie ich vor Nicci stünde und ihr erklären müßte, daß ich einfach umgekehrt sei, statt, wie sie mich gebeten hatte, Lord Rahl zu suchen. Diese Vorstellung erfüllte mich so mit Scham, daß ich beschloß, weiterzugehen. Ein paar Meilen später setzte der Bewuchs dann wieder ein.« Er blies die Wangen auf. »Ich war ungeheuer erleichtert und kam mir vor wie ein Narr, weil ich mich so gefürchtet hatte.«

Nummer zwei. Demnach existierten also zwei dieser merkwürdigen Grenzen.

»Ich bin auch schon auf solche Gegenden gestoßen, Sabar, und, ganz unter uns, ich hatte auch Angst.«

Ein Grinsen ging über Sabars Gesicht. »Dann war es also gar nicht so unvernünftig von mir, mich zu fürchten.«

»Ganz und gar nicht. Konntest du erkennen, wie weit dieses Gebiet reichte? War es dort, an dieser einen Stelle, mehr als nur ein kleiner Flecken nackten Felsgesteins? Konntest du sehen, ob dieser Streifen gerade verlief, entlang einer Linie mit eindeutiger Richtung?«

»Ja, ganz recht, es war eine gerade Linie, genau wie Ihr sagt.« Sabar deutete mit einer unbestimmten Handbewegung Richtung Osten. »Sie kam von den fernen Bergen dort, etwas nördlich des Einschnitts dort.« Die Hand flach wie ein Hackmesser, wies er mit einer scharfen Abwärtsbewegung in die entgegengesetzte Richtung. »Nach Südwesten verlief sie sich dort drüben in der Ödnis.«

Bei den Säulen der Schöpfung.

Kahlan beugte sich zu den beiden und meinte mit leiser Stimme: »Demnach verlief sie nahezu parallel jener Grenze, die wir nicht sehr weit südlich von hier passiert haben. Aber warum sollte es in unmittelbarer Nachbarschaft zwei solcher Grenzen geben? Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Das weiß ich auch nicht«, raunte Richard ihr zu. »Vielleicht war das, wovor die Grenze schützen sollte, so gefährlich, daß, wer immer sie dort eingerichtet hat, eine für nicht ausreichend hielt.«

Kahlan rieb sich fröstelnd die Oberarme, enthielt sich aber einer Erwiderung. Richard glaubte ihrem Gesichtsausdruck ohnehin entnehmen zu können, welche Gefühle diese Vorstellung bei ihr auslöste – insbesondere, wenn man bedachte, daß die Grenzen jetzt nicht mehr existierten.

»Wie auch immer«, sagte Sabar und zuckte verlegen die Achseln. »Ich war jedenfalls froh, nicht umgekehrt zu sein.«

»Ich bin auch froh, Sabar. Ich glaube, das Gebiet, das du durchquert hast, ist schon seit geraumer Zeit nicht mehr gefährlich, jedenfalls nicht mehr so wie einst.«

Jennsen konnte ihre Neugier nicht länger bezähmen. »Wer ist eigentlich diese Nicci?«

»Nicci ist eine Hexenmeisterin«, erklärte Richard, »die früher einmal eine Schwester der Finsternis war.«

Jennsen machte ein erstauntes Gesicht. »Früher?«

Richard nickte. »Sie war Jagang bei der Durchsetzung seiner Ziele behilflich, bis sie ihren Irrtum erkannte und sich auf unsere Seite schlug.« Es war eine Geschichte, auf die er nur ungern näher eingehen mochte. »Jedenfalls kämpft sie jetzt für uns. Sie hat uns schon unschätzbare Hilfe geleistet.«

Als sie sich erneut vorbeugte, schien sie noch erstaunter als zuvor. »Aber kannst du einem solchen Menschen trauen, einem Menschen, der sich mit seiner ganzen Kraft bereits für Jagang eingesetzt hat? Noch dazu einer Schwester der Finsternis? Ich habe einige dieser Frauen aus nächster Nähe erlebt, Richard, ich weiß, wie skrupellos sie sind. Mag sein, daß sie tun müssen, was Jagang ihnen befiehlt, aber eigentlich sind sie dem Hüter der Unterwelt ergeben. Glaubst du wirklich, du kannst bei deinem Leben darauf vertrauen, daß sie dich nicht verrät?«

Richard blickte Jennsen tief in die Augen. »Dir habe ich ein Messer anvertraut, während ich schlief.«

Jennsen richtete sich lächelnd wieder auf – mehr aus Verlegenheit denn aus einem anderen Grund, vermutete Richard. »Ich denke, ich verstehe, was du meinst.«

»Was hat Nicci sonst noch gesagt?«, drängte Kahlan, ungeduldig, zum eigentlichen Thema zurückzukehren.

»Nur, daß ich mich an ihrer Stelle mit Euch treffen soll«, antwortete Sabar.

Richard wußte, daß Nicci aus Vorsicht so gehandelt hatte und diesem jungen Mann, für den Fall, daß er aufgegriffen wurde, nicht zuviel hatte erzählen wollen.

»Woher wußte sie denn, wo ich mich befinde?«

»Sie sagte, sie könne mit Hilfe von Magie feststellen, wo Ihr gerade seid. Nicci ist ebenso mächtig im Umgang mit Magie wie schön.«

Sabar hatte dies im Tonfall ehrfürchtiger Scheu gesagt, dabei konnte er ihre wahren Fähigkeiten nicht einmal ahnen. Nicci war eine der mächtigsten Hexenmeisterinnen, die je gelebt hatten. Ebenso wenig wußte er, daß Nicci als sie sich noch für die Ziele der Imperialen Ordnung eingesetzt hatte, unter dem Namen Herrin des Todes bekannt gewesen war.

Vollblütige D’Haraner wie Cara vermochten über die Bande den Aufenthaltsort des Lord Rahl festzustellen. Kahlan hatte ihm einmal gestanden, wie entnervend sie es bisweilen fand, daß Cara stets wußte, wo er sich befand. Nicci war zwar keine D’Haranerin, aber sie war Hexenmeisterin und deshalb auch über die Bande mit Richard verbunden; möglicherweise hatte sie die Bande also dahingehend beeinflussen können, daß sie ihr seinen Aufenthaltsort verrieten.

»Aber Nicci hat dich doch gewiß nicht nur zu uns geschickt, um uns ausrichten zu lassen, daß sie am Treffpunkt nicht auf uns warten kann.«

»Ja. natürlich«, erwiderte Sabar unter heftigem Nicken, so als wäre es ihm peinlich, daran erinnert zu werden. »Als ich fragte, was ich Euch denn nun ausrichten soll, erklärte sie, sie habe alles in einem Brief aufgeschrieben.« Sabar schlug die Lederklappe an seiner Gürteltasche zurück. »Sie sagte, als ihr bewußt wurde, wie weit Ihr tatsächlich entfernt seid, sei sie bestürzt gewesen, da sie die Zeit nicht erübrigen könne. Euch persönlich aufzusuchen. Um so wichtiger sei es deshalb, daß ich Euch auf jeden Fall finde und den Brief aushändige. Dann meinte sie noch, der Brief würde erklären, warum sie nicht warten konnte.«

Sabar zog den Brief vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger aus der Tasche; dabei machte er ein Gesicht, als hielte er eine tödliche Viper in den Fingern und nicht eine kleine, mit Wachs versiegelte Papierrolle.

»Nicci hat mich darauf hingewiesen, wie überaus gefährlich der Brief ist«, fügte er erklärend hinzu, als er Richards Blick bemerkte. »Sie meinte, falls nicht Ihr, sondern jemand anderer ihn öffnete, sollte ich nicht in der Nähe bleiben, da ich sonst ebenfalls getötet würde.«

Er legte den zusammengerollten Brief behutsam in Richards geöffnete Hand, wo er sich sofort spürbar erwärmte. Obwohl es längst dämmerte, leuchtete das rote Siegelwachs auf, als wäre ein Sonnenstrahl darauf gefallen. Das Leuchten breitete sich vom Siegelwachs über den Brief aus, bis es diesen der Länge nach erfaßt hatte. Plötzlich bildeten sich feine Risse im roten Wachs, gleich dem ersten, noch dünnen Eis eines Teiches, das unter dem Gewicht eines darauf tretenden Fußes zerspringt. Schließlich platzte das Wachs auf und zerfiel in kleine Brocken.

Sabar schluckte. »Ich möchte mir lieber nicht vorstellen, was passiert wäre, hätte ein anderer ihn zu öffnen versucht.«

Jennsen steckte erneut den Kopf vor. »War das etwa Magie?«

»Ich wüßte nicht, was sonst«, meinte Richard, während er daranging, den Brief auseinander zu rollen.

»Aber ich habe doch gesehen, wie das Wachs zersprang«, raunte sie ihm in vertraulichem Ton zu.

»Hast du außerdem noch etwas beobachtet?«

»Nein, nur wie es ganz plötzlich zerfiel.«

Mit Daumen und Zeigefinger pflückte Richard ein kleines Stückchen des zerborstenen Siegels von seiner Handfläche. »Vermutlich hat sie den Brief mit einem magischen Netz umgeben und den Zauber auf meine Berührung abgestimmt. Hatte ein anderer versucht, das Netz aufzubrechen und den Brief zu öffnen, wäre der Zauber ausgelöst worden. Ich schätze, meine Berührung hat das Siegel geöffnet. Demnach hast du nur das Ergebnis der Magie gesehen – das erbrochene Siegel –, nicht aber die Magie selbst.«

»Augenblick!« Sabar schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Wo bin ich nur mit meinen Gedanken? Das hier soll ich Euch ebenfalls geben.«

Er ließ die Gurte von seinen Schultern gleiten, streifte sie über seine Arme und nahm den Rucksack auf den Schoß. Mit hastigen Bewegungen löste er die Lederriemen, langte hinein und nahm behutsam einen in schwarzen, gesteppten Stoff gehüllten Gegenstand heraus. Er war nur etwa einen Fuß lang und nicht übermäßig umfangreich. So, wie Sabar mit ihm hantierte, schien er nicht ganz leicht zu sein.

Sabar stellte den mit Stoff umwickelten Gegenstand senkrecht auf den Boden, genau vor das Lagerfeuer. »Nicci trug mir auf, euch dies hier auszuhändigen; die Erklärung dazu stünde in dem Brief.«

Fasziniert beugte Jennsen sich ein Stück vor. »Was ist das?«

Sabar zuckte die Achseln. »Das hat Nicci mir nicht gesagt.« Seinem Gesicht war das Unbehagen darüber anzusehen, daß er über seine Mission nur recht lückenhaft informiert worden war. »Wenn Nicci einen ansieht und einem aufträgt, etwas zu tun, kommt man gar nicht auf die Idee, Fragen zu stellen.«

Richard lächelte bei sich, als er den Gegenstand auszuwickeln begann. Er wußte nur zu gut, worauf Sabar anspielte.

»Hat Nicci irgend etwas dazu gesagt, wer diesen Gegenstand auspacken darf?«

»Nein, Lord Rahl. Sie meinte nur, ich soll ihn Euch aushändigen, und daß der Brief alles erklären würde.«

»Wäre er wie der Brief, mit einem Netz umgeben, hätte sie dich bestimmt gewarnt.« Richard sah auf. »Cara«, sagte er und deutete auf das vor dem Feuer stehende Paket, »warum entfernt Ihr nicht schon mal die Verpackung, während Kahlan und ich den Brief lesen?«

Während Cara sich mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Boden niederließ und die festen Knoten der Lederschnüre der gesteppten Stoffhülle aufzudröseln begann, hielt Richard den Brief ein wenig zur Seite, so daß Kahlan ihn stumm mit ihm zusammen lesen konnte.

Lieber Richard, liebe Kahlan,

Zu meinem großen Bedauern kann ich euch nicht gleich jetzt alles erklären, was ihr wissen solltet, da ich mich einer dringenden Angelegenheit widmen muß, die keinen Aufschub duldet. Jagang hat etwas in Gang gesetzt, das ich für unmöglich gehalten habe. Dank seiner Talente als Traumwandler ist es ihm gelungen, Schwestern der Finsternis, die er in seiner Gewalt hat, zu zwingen, Menschen in Waffen zu verwandeln – wie damals, zur Zeit des Großen Krieges. Dies ist an sich bereits recht gefährlich, da Jagang aber nicht die Gabe besitzt, ist sein Verständnis dieser Dinge mehr als lückenhaft. Er führt sich auf wie ein ungeschlachter Bulle, der mit seinen Hörnern Spitzen zu sticken versucht. Als Rohmaterial für ihre Experimente benutzen sie das Leben von Zauberern. Inwieweit ihre Bemühungen bislang von Erfolg gekrönt waren, vermag ich noch nicht abzuschätzen, gleichwohl wird mir angst und bange, wenn ich an die möglichen Ergebnisse denke. Mehr dazu in Kürze.

Zuvor ein Wort zu dem Gegenstand, den ich euch schicke. Ich fand ihn, als ich eure Fährte aufnahm und ihr bis zum vereinbarten Treffpunkt folgte. Ich denke, ihr seid bereits auf ihn gestoßen, da er bereits von einem Hauptakteur, der entweder mit der Sache selbst oder mit euch zu tun hat, berührt wurde.

Es handelt sich um ein bereits aktiviertes Warnzeichen – aktiviert nicht etwa durch besagte Berührung, sondern durch die Ereignisse. Die Gefahr, die es darstellt, kann nicht genug betont werden.

Nur die Zauberer aus früheren Zelten waren imstande, solche Gegenstände herzustellen, da für die Fertigung eines solchen Objekts sowohl additive als auch subtraktive Magie erforderlich ist und die Gabe zu beiden angeboren sein muß. Gleichwohl sind sie so selten, daß ich noch nie zuvor tatsächlich eines zu Gesicht bekommen habe.

Aber gelesen habe ich über sie, in den Gewölbekellern des Palasts der Propheten: die Funktionsfähigkeit dieser Warnzeichen wird durch die Verbindung zu dem toten Zauberer aufrechterhalten, der sie einst erschuf.

Richard lehnte sich zurück und stieß einen besorgten Seufzer aus. »Wie ist es möglich, daß eine solche Verbindung hergestellt wurde?«, raunte Kahlan ihm zu.

Er mußte nicht lange zwischen den Zeilen lesen, um zu begreifen, daß Nicci ihn auf das Nachdrücklichste zu warnen versuchte.

»Nun, offenbar muß sie über einen Kontakt mit der Unterwelt hergestellt werden«, erwiderte Richard flüsternd.

Kleine Spiegelungen des Feuerscheins tanzten in ihren grünen Augen, als sie ihn sprachlos anstarrte.

Sie sah wieder zu Cara, die noch immer mit dem Entwirren der Knoten beschäftigt war und schließlich eine der Lederschnüre von dem Gegenstand entfernte, der also in welcher Weise auch immer mit einem toten Zauberer in der Unterwelt verbunden war. Sie hielt den Brief in die Höhe und las hastig mit Richard weiter.

Nach allem, was ich über diese Warnzeichen weiß, dienen sie der Überwachung sehr starker und lebenswichtiger Schutzschilde, die er richtet wurden, um dahinter etwas überaus Gefährliches wegzusperren. Sie existieren stets als Paar: das erste besteht immer aus Bernstein. Sie sind als Warnung an den gedacht, der für das Erbrechen des Siegels verantwortlich ist. Wird es von einem Hauptakteur oder einer einem Hauptakteur nahe stehenden Person berührt, leuchtet es auf, so daß sich seine Bestimmung offenbart und es seinen Zweck – die Warnung der beteiligten Personen – erfüllen kann. Es kann erst vernichtet werden, wenn der Adressat die Warnung erhalten hat. Ich schicke es euch, um absolut sicher zu sein, daß ihr es gesehen habt.

Wie genau das zweite beschaffen ist, ist mir nicht bekannt, jedenfalls ist es für den bestimmt, der imstande ist, das Siegel wieder anzubringen.

Ich kenne weder die genaue Beschaffenheit des Siegels, noch was damit ursprünglich geschützt werden sollte. Fest steht nur eins: Das Siegel wurde erbrochen.

Wenn auch der eigentliche Grund für die Aktivierung dieses Warnzeichens unklar ist, so dürfte die Ursache für das Erbrechen des Siegels offenkundig sein.


»Oh, Augenblick mal«, rief Cara, erhob sich und trat einen Schritt zurück, so als hätte sie soeben eine tödliche Seuche aus dem schwarzen, gesteppten Stoff befreit. »Diesmal war es aber nicht mein Fehler.« Sie deutete auf das Paket. »Diesmal habt Ihr mich darum gebeten.«

Die lichtdurchlässige Statue, die Cara zuvor schon einmal berührt hatte, stand jetzt mitten auf der auseinandergefalteten Umhüllung aus schwarzem, gestepptem Stoff.

Es war dieselbe Figur: eine kleine Statuette Kahlans.

Ihr linker Arm hing an ihrer Seite herab, den rechten hatte sie erhoben, wie um auf etwas zu zeigen. Die wie eine Sanduhr geformte Statuette schien aus durchsichtigem Bernstein gemacht zu sein, der ihnen Einblick in ihr Innenleben gewährte.

Feiner Sand rieselte aus der oberen Hälfte des Stundenglases durch die schmale Taille in den unteren, dem weiten Konfessorinnengewand nachempfundenen Teil.

Der Sand rieselte noch immer genau wie beim letzten Mal, als Richard die Figur gesehen hatte. Da war die obere Hälfte noch voller gewesen als die untere, mittlerweile jedoch hatte sich das Verhältnis umgekehrt.

Kahlans Gesicht wurde aschfahl.

Damals hatte Richard Niccis Erklärungen nicht gebraucht, um zu wissen, wie gefährlich eine solche Figur war. Er hatte nicht gewollt, daß jemand sie berührte. Als sie sie damals in einer Felsvertiefung neben dem Pfad gefunden hatten, war die Statuette wegen ihrer matten, dunklen Oberfläche undurchsichtig, aber trotzdem sofort als Kahlan zu erkennen gewesen. Sie hatte auf der Seite gelegen.

Cara war nicht eben erfreut gewesen, auf eine solche Darstellung Kahlans zu stoßen, vor allem aber hatte sie sie nicht einfach herumliegen lassen wollen, bis sie irgend jemandem in die Hände fiel, der womöglich sonst etwas damit anstellte. Also hatte sie sie, ungeachtet der lautstarken Proteste Richards, sie auf keinen Fall anzufassen, einfach aufgehoben.

Schon auf die leiseste Berührung hin hatte sie begonnen, lichtdurchlässig zu werden, worauf Cara sie erschrocken sofort wieder hingestellt hatte.

In diesem Moment hatte sie den rechten Arm gehoben und nach Osten gezeigt: und im selben Moment war sie vollends durchsichtig geworden, so daß man den Sand in ihrem Innern herabrieseln sehen konnte.

Die unmißverständliche Drohung des verrinnenden Sandes hatte sie alle aus der Fassung gebracht. Cara hatte sie noch einmal in die Hand nehmen und umdrehen wollen, um zu verhindern, daß der Sand weiterrieselte, das jedoch hatte Richard ihr strikt untersagt. Obwohl er von diesen Dingen nichts verstand, hatte er bezweifelt, daß eine so naive Lösung sich vorteilhaft auswirken würde. Schließlich hatten sie sie mit einer Schicht aus Steinen und Gestrüpp bedeckt, damit niemand von ihrer Existenz erfuhr. Offenbar vergeblich.

Jetzt wußte er, daß Caras Berührung lediglich die Warnung ausgelöst hatte, ansonsten aber keinen Einfluß auf die Geschehnisse hatte. Er beschloß, sich seine ursprüngliche Vermutung bestätigen zu lassen. »Legt sie wieder hin, Cara.«

»Hinlegen?«

»Ja, auf die Seite – wie Ihr es schon letztes Mal tun wolltet, um zu sehen, ob der Sand dann zu rieseln aufhört.«

Cara musterte ihn einen Augenblick erstaunt, dann kippte sie die Statuette mit ihrer Stiefelspitze auf die Seite.

Der Sand rieselte munter weiter, so als stünde sie noch immer aufrecht.

»Wie ist das möglich?«, fragte Jennsen ungläubig. »Wie kann der Sand weiterrieseln – noch dazu seitwärts?«

»Du kannst ihn also sehen?«, fragte Kahlan. »Du kannst den Sand deutlich rieseln sehen?«

Jennsen nickte. »Aber ja, und eins sage ich dir, mich überläuft dabei am ganzen Körper eine Gänsehaut.«

Wenn nichts sonst, so mußte zumindest der waagerecht durch die Figur rieselnde Sand magischen Ursprungs sein. Nur hatte Jennsen, eine Säule der Schöpfung, eine Lücke in der Welt, eine von der Gabe völlig unbefleckte Nachkomme Darken Rahls, sie dann eigentlich gar nicht sehen dürfen.

Und doch gab es keinen Zweifel.

Kahlan straffte sich. »Du siehst tatsächlich ...«

Plötzlich drang ein eindringlicher Warnruf Toms zu ihnen herüber. Im nu war Richard auf den Beinen und zog in einer einzigen, fließenden Bewegung sein Schwert. Das unverwechselbare Klirren von Stahl erfüllte die Nachtluft.

Die Magie des Schwertes blieb jedoch in der Scheide zurück.

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