20

Die endlosen Flure des Palasts des Volkes, Sitz der Macht in D’Hara, waren erfüllt vom leisen Scharren unzähliger Füße auf dem steinernen Fußboden. Ann rutschte auf der weißen Marmorbank ein wenig nach hinten, wo sie eingekeilt zwischen drei Frauen auf der einen und einem älteren Ehepaar auf der anderen Seite saß, die sich in einmütigem Tratsch über die Kleidung der durch die prachtvollen Hallen schlendernden Besucher ausließen, oder was sie vorzugsweise während ihres Aufenthalts im Palast zu tun gedachten und welche Sehenswürdigkeiten sie am meisten reizten. Ann vermutete, daß dieses Getratsche im Grunde harmlos war und wahrscheinlich vor allem den Sinn hatte, die Menschen von den Sorgen um den Krieg abzulenken. Trotzdem war es schier unglaublich, wie viele Menschen um diese späte Stunde noch plaudernd draußen saßen, statt in ihren warmen Betten zu liegen und zu schlafen.

Ann hatte den Kopf gesenkt und tat, als suche sie etwas in ihrer Reisetasche, hielt dabei aber gleichzeitig ein wachsames Auge auf die unweit vorüberpatrouillierenden Soldaten. Sie wußte nicht, ob ihre Vorsicht angebracht war, wollte es aber nicht erst herausfinden, wenn es zu spät war.

»Kommt Ihr von weit her?«, wandte sich die unmittelbar neben ihr sitzende Frau an sie.

Ann hob den Kopf, als sie merkte, daß die Frau sie angesprochen hatte. »Ja, schon, man kann wohl sagen, es war eine ziemlich weite Reise bis hierher.«

Dann steckte Ann ihre Nase wieder in die Tasche, kramte, in der Hoffnung, nicht mehr behelligt zu werden, emsig weiter.

Die Frau mittleren Alters mit den braunen, von ersten grauen Strähnen durchsetzten Locken lächelte. »Also, eigentlich wohne ich gar nicht so weit weg von hier, aber manchmal verbringe ich ganz gerne einen Abend im Palast, einfach so, um mich ein wenig aufzuheitern.«

Ann ließ den Blick über den polierten Marmorboden schweifen, über die glänzenden roten Steinsäulen unter den Bögen, die, verziert mit in Stein gemeißelten Ranken, die oberen Emporen stützten. Ihr Blick wanderte zu den Oberlichtern hinauf, durch die tagsüber das Licht in den Palast einfiel, dann schaute sie hinüber zu den prachtvollen, auf Sockeln stehenden Statuen, die sich rings um einen Brunnen mit lebensgroßen, für alle Zeiten durch eine glitzernde Gischt aus Wasser galoppierenden Pferden gruppierten.

»Ja, ich verstehe, was Ihr meint.«

Der Ort war mitnichten dazu angetan, sie aufzuheitern; tatsachlich machte er sie nervös wie ein Katze in einem Hundezwinger mit verriegelter Tür. Deutlich spürte sie, daß ihre Kraft an diesem Ort stark vermindert war.

Der Palast des Volkes war weit mehr als nur irgendein Palast. Im Grunde war er eine komplette Stadt unter zahllosen, ineinander übergehenden Dächern hoch oben auf einem Felsplateau. Zehntausende Menschen lebten dauerhaft in diesem überaus großzügig angelegten Bauwerk, zehntausend weitere besuchten es tagtäglich. Der eigentliche Palast bestand aus mehreren verschiedenen Ebenen; auf einigen hatten die Bewohner ihre Geschäfte und boten Waren feil, auf anderen arbeiteten die Beamten, während wieder andere als Wohnquartiere dienten. Zu weiten Teilen des Palasts war Besuchern der Zutritt verwehrt.

Um den Sockel der Hochebene erstreckte sich ein weitläufiger Ring aus wilden Märkten, wo die Menschen zum Kaufen, Verkaufen und Tauschen von Waren zusammenkamen. Bei ihrem Aufstieg im Innern des Palasts bis hinauf zur obersten Ebene war Ann an zahlreichen fest eingerichteten Ladengeschäften vorbeigekommen. Die Stadt war ein Handelszentrum, das Menschen aus ganz D’Hara anlockte. Vor allem aber war der Palast der Stammsitz des Hauses Rahl und in dieser Hinsicht überaus beeindruckend – aus geheimnisvollen, verborgenen Gründen, die sich dem Bewußtsein oder gar dem Verständnis der meisten Menschen, die ihn als ihr Zuhause betrachteten oder ihn besuchten, entzogen. Denn der Palast des Volkes war ein Bann – nicht etwa ein mit einem Bann belegter Ort wie der Palast der Propheten, in dem Ann den größten Teil ihres Lebens verbracht hatte – nein, der Bann war das Gebäude selbst.

Die gesamte Palastanlage war nach einem sorgfältigen und präzisen Entwurf errichtet worden: dem eines auf die gesamte Fläche des Geländes gezeichneten Banns. Die äußeren Befestigungsmauern verkörperten die eigentliche Bannform, während die Hauptzusammenballungen von Räumlichkeiten in seinem Innern die wichtigsten Knotenpunkte darstellten, deren Verbindungslinien die Hallen und Flure bildeten – die Essenz des Banns, seine Kraft.

Wie bei einem mit der Spitze eines Stocks in den Staub gezeichneten Bann, so hatten die Flure in einer durch die spezielle Magie, die der Bann bewirken sollte, vorgeschriebenen Reihenfolge errichtet werden müssen. Diese Bauweise war ungeheuer kostspielig gewesen, zumal sie die charakteristischen Anforderungen und bewährten Methoden des Bauhandwerks außer Acht ließ, doch nur so war zu gewährleisten, daß der Bann seinen Zweck erfüllte. Und das tat er.

Der Bann hatte einen klar umrissenen Zweck: Er sollte jedem Rahl eine sichere Zuflucht bieten, indem er dessen Kraft im Innern des Palasts verstärkte, während er sie jedem anderen, der ihn betrat, zumindest teilweise entzog. Noch nie hatte Ann an einem Ort eine so deutliche Minderung ihres Man, ihrer Lebensessenz, ihrer Gabe, gespürt. Nicht lange, und ihr Man wäre vermutlich so geschwächt, daß sie damit nicht einmal mehr eine Kerze entzünden konnte.

Dann plötzlich wurde ihr noch ein weiterer Aspekt des Banns bewußt, und ihr fiel vor ehrfürchtigem Staunen der Unterkiefer herunter. Ihr Blick ging zu den Fluren – den Verbindungslinien des Banns –, in denen sich die Menschen drängten.

Ein Bann, mit Blut gezeichnet, war stets wirkungsvoller und mächtiger als alle anderen. Doch sobald das Blut im Boden versickerte, um sich dort schließlich zu zersetzen, schwand oftmals auch die Kraft des Banns. In diesem Fall jedoch waren die Flure – die Linien, mit denen der Bann gezeichnet worden war – erfüllt vom kraftspendenden, belebenden Blut jener unzähligen Menschen, die sie bevölkerten. Die überwältigende Genialität dieses Einfalls erfüllte sie mit sprachloser, fast ehrfürchtiger Scheu.

»Dann werdet Ihr Euch wohl ein Zimmer nehmen.«

Ann hatte die Frau neben ihr, die sie noch immer, ein erstarrtes Lächeln auf ihren angemalten Lippen, musterte, völlig vergessen.

»Nun ja ...«, gestand Ann schließlich. »Wenn ich ehrlich sein soll, ich habe noch gar keine Vorkehrungen getroffen, wo ich schlafen möchte.«

Das Lächeln der Frau verlor ein wenig von seiner Bemühtheit. »Ich war bereits auf dem Weg zu meinem Zimmer und könnte Euch mitnehmen. Es ist gar nicht weit.«

»Das wäre sehr freundlich von Euch«, erwiderte Ann und erhob sich. Die Fremde erhob sich ebenfalls und wünschte ihren beiden Banknachbarinnen eine gute Nacht.

»Hier entlang«, sagte ihre Begleiterin und zupfte an Anns Ärmel. Sie bedeutete Ann, ihr einen Seitenkorridor entlang zu folgen.

Plötzlich packte eine Hand Ann an der Schulter ihres Kleides und zwang sie, abrupt stehen zu bleiben. Ann und die fremde Frau fuhren herum. Hinter ihnen stand eine sehr große Frau mit einem sehr blonden langen Zopf und sehr blauen Augen, die sie, gekleidet in einen sehr roten Lederanzug, mit sehr finsterer Miene musterte.

Die Frau neben Ann wurde leichenblaß, ihr Mund klappte auf. Ann mußte sich zusammenreißen, um nicht ebenso zu reagieren.

»Wir haben Euch bereits erwartet«, erklärte die Frau in rotem Leder.

Hinter ihrem Rücken, ein kleines Stück weiter zurück im Gang, stand, locker verteilt, um den Flur vollständig abzuriegeln, ein Dutzend makelloser, hünenhafter Soldaten in makellosen Lederuniformen und mit makellos blank polierten Schwertern, Messern und Langwaffen in den Händen.

»Ich glaube, Ihr müßt mich mit jemandem verwechselt haben ...«

»Mir unterlaufen keine Verwechslungen.«

Ann war nicht annähernd so groß wie die blonde Frau im roten Lederanzug; sie reichte ihr nicht einmal merklich bis über den Halbmond und Stern auf ihrer Brust.

»Nein, wahrscheinlich nicht. Um was geht es denn überhaupt?«, fragte Ann, aus deren Stimme jede Spur von Zaghaftigkeit und Naivität gewichen war.

»Zauberer Rahl wünscht, daß wir Euch zu ihm bringen.«

»Zauberer Rahl?«

»Richtig. Zauberer Nathan Rahl.«

Ann hörte die Frau neben sich erschrocken aufstöhnen. Sie glaubte schon, sie werde in Ohnmacht fallen, und griff beherzt nach ihrem Arm.

»Geht es Euch gut, meine Liebe?«

Sie starrte die Frau im roten Lederanzug aus großen Augen an, die grollend auf sie herabblickte. »Doch, ja. Ich muß jetzt gehen, bin schon spät dran. Ihr gestattet doch?«

»Ja, ich denke auch, Ihr solltet jetzt besser gehen«, erwiderte die große Blonde.

Die Frau machte eine knappe Verbeugung und murmelte ein »Gute Nacht«, ehe sie sich mit hastigen Schritten den Flur entlang entfernte. Sie sah sich nur ein einziges Mal um.

Ann wandte sich wieder der finsteren Miene zu. »Nun, ich bin froh, daß Ihr mich gefunden habt. Gehen wir also jetzt zu diesem Nathan, Verzeihung ... zu Zauberer Rahl.«

»Zauberer Rahl wird Euch nicht empfangen.«

»Ihr meint, nicht heute Abend; er wird mich ... heute Abend nicht mehr empfangen?«

Ann war bemüht, so höflich wie möglich zu bleiben, dabei wollte sie diesen Mann, der nichts als Ärger machte, am liebsten niederschlagen oder würgen, und zwar je eher desto besser.

»Mein Name ist Nyda«, erklärte die Frau in Rot.

»Freut mich, Euch kennen ...«

»Wißt Ihr nicht, was ich bin?« Sie wartete Anns Antwort gar nicht erst ab. »Ich bin eine Mord-Sith. Betrachtet es als reine Gefälligkeit, daß ich Euch diese Warnung gebe. Es ist die einzige Warnung oder Gefälligkeit, die Ihr je von mir erhalten werdet, also hört aufmerksam zu. Ihr seid in feindlicher Absicht gegenüber Zauberer Rahl hergekommen. Ihr seid jetzt meine Gefangene. Solltet Ihr Eure Magie gegen eine Mord-Sith einsetzen, wird diese Magie von mir oder einer meiner Mord-Sith-Schwestern eingefangen und als Waffe gegen Euch verwendet werden; und das ist überaus unangenehm, wie ich hinzufügen möchte.«

»Ich fürchte«, erwiderte Ann, »meine Magie ist an diesem Ort nicht sonderlich hilfreich. Um genau zu sein, kaum der Rede wert. Ihr seht also, ich bin ziemlich harmlos.«

»Es interessiert mich nicht, für wie hilfreich Ihr Eure Magie haltet. Wenn Ihr auch nur versucht, eine Kerze mit ihr zu entzünden, geht Eure Kraft auf mich über.«

»Verstehe.«

»Ihr glaubt mir nicht?« Nyda beugte sich zu ihr hinunter. »Nun, dann fordere ich Euch auf, mich anzugreifen. Ich habe schon seit geraumer Zeit keine Magie einer Hexenmeisterin mehr eingefangen. Wäre vielleicht ganz unterhaltsam.«

»Vielen Dank. Aber ich bin im Augenblick zu erschöpft von der Reise, um jemanden anzugreifen. Später vielleicht?«

Nyda lächelte; es war ein Lächeln, das Ann sofort begreiflich machte, warum die Mord-Sith so gefürchtet waren. »Einverstanden, also später.«

»Und was gedenkt Ihr in der Zwischenzeit mit mir zu machen, Nyda? Werdet Ihr mich in einem der eleganten Gemächer des Palasts unterbringen?«

Nyda überhörte die Frage und gab mit einer Kopfbewegung ein Zeichen. Sofort kamen zwei der wenige Schritte hinter ihr wartenden Soldaten herbeigeeilt, die die zierliche Ann wie zwei mächtige Eichen überragten. Jeder von ihnen packte sie unter einem Arm.

»Gehen wir.« Nyda marschierte los und schritt den Flur entlang vor ihnen her.

Hinter ihr setzten sich auch die Wachen in Bewegung und schleiften Ann wenig behutsam mit; ihre Füße schienen nur bei jedem dritten oder vierten Schritt den Boden zu berühren. Die Passanten im Flur machten der Mord-Sith augenblicklich Platz; bereits in einiger Entfernung drückten sie sich seitlich an die Wände. Nicht wenige verschwanden in den Ladengeschäften, um sie hinter geschlossenen Schaufenstern zu beobachten. Jeder starrte die zierliche Frau in dem dunklen Kleid an, die von zwei Palastwachen in polierten Rüstungen und glänzenden Kettenpanzern abgeführt wurde. Ann vernahm das Klirren metallener Rüstungen hinter ihrem Rücken, als sich ihnen auch die übrigen Soldaten anschlossen.

Sie bogen in einen schmaleren Seitenkorridor ein, der von einen vorspringenden Balkon stützenden Säulen gesäumt wurde. Einer der Soldaten eilte ein Stück voraus, um eine Tür aufzusperren. Ehe sie sich’s versah, war die Gruppe, wie Wein durch einen Trichter, durch die winzige Tür geströmt.

Der dahinterliegende Gang war dunkel und von beklemmender Enge – nichts erinnerte mehr an die marmorverkleideten Flure, die die meisten Besucher zu Gesicht bekamen. Ein kurzes Stück den Flur entlang bogen sie auf eine Treppe ein, deren Eichentritte bei jedem Schritt knarrten. Einige Soldaten reichten ihre Laternen nach vorne durch, so daß Nyda ihnen den Weg leuchten konnte. Aus dem Dunkel unten hallte ihnen das Echo der vielen Schritte entgegen.

Am Fuß der Stufen geleitete Nyda sie durch labyrinthartige, völlig verdreckte Gänge aus nacktem Mauerwerk. Ann drängte sich die Frage auf, wie viele Menschen bereits diese Wege entlanggeführt worden und auf Nimmerwiedersehen verschwunden waren. Richards Vater Darken Rahl sowie dessen Vater Panis waren begeisterte Anhänger der Kunst des Folterns gewesen; diesen Männern bedeutete ein Menschenleben nichts. Zwar hatte Richard dies alles inzwischen geändert, nur weilte er derzeit – im Gegensatz zu Nathan – nicht im Palast.

Ann kannte Nathan nun schon fast eine Ewigkeit – seit nahezu eintausend Jahren. Den größten Teil dieser Zeit hatte sie ihn kraft ihres Amtes als Prälatin in seinen Gemächern hinter Schloß und Riegel gehalten, da man Propheten unter keinen Umständen frei herumlaufen lassen durfte. Jetzt aber war er frei, und damit nicht genug: Es war ihm sogar gelungen, sich im Palast – dem Stammsitz der Geschlechtes Rahl – eine Stellung von höchster Machtbefugnis zu verschaffen. Er war ein Vorfahr Richards und ein Rahl – und er war ein Zauberer.

Auf einmal erschien Ann ihr Plan doch reichlich töricht und naiv: Sie hatte geglaubt, den Propheten einfach überrumpeln, ihn in einem unbedachten Augenblick erwischen und ihm den Halsring wieder umlegen zu können. Die Gelegenheit dazu würde sich gewiß ergeben, und dann wäre er wieder in ihrer Gewalt.

»Erwartet Nathan uns bereits?«, fragte sie, um einen unbekümmerten Ton bemüht. »Ich würde wirklich sehr gerne mit ihm reden; es gibt einige Dinge, die wir dringend besprechen müssen.«

An einem ungemütlich engen Quergang, der sich rechts in das Felsgestein bohrte, führte die schweigsame Nyda sie noch tiefer in die Dunkelheit ...

Vor einer eisenbeschlagenen Tür linker Hand wartete ein kräftiger Soldat in Uniform, der aus demselben Stein gemeißelt schien wie die Wände. Unter anderen Umständen hätte Ann ihn möglicherweise für einen gar nicht übel aussehenden Burschen gehalten.

»Nyda«, brummte er. Es sollte wohl eine Begrüßung sein. Als er nach seiner höflichen Verbeugung den Blick wieder hob, fragte er mit tiefer Stimme: »Was haben wir denn hier?«

»Eine Gefangene für Euch, Captain Lerner.« Nyda packte den losen Stoff an der Schulter ihres Kleides, zerrte Ann nach vorn und präsentierte sie wie einen erlegten Fasan nach erfolgreicher Jagd. »Eine gefährliche Gefangene.«

Der Captain musterte sie abschätzend von Kopf bis Fuß, ehe er seine Augen wieder auf Nyda richtete. »Zauberer Rahl möchte auf keinen Fall, daß sie entkommt; er sagte, sie macht nichts als Ärger.«

Dazu fielen ihr mindestens ein halbes Dutzend passende Erwiderungen ein, Ann zog es jedoch vor, den Mund zu halten.

»In dem Fall wäre es besser, Ihr begleitet uns«, sagte Captain Lerner, »und sorgt persönlich dafür, daß sie sicher hinter den Schilden weggeschlossen wird.«

Nyda legte wartend den Kopf auf die Seite; augenblicklich sprangen zwei ihrer Soldaten vor und rissen Fackeln aus den Halterungen. Zu guter Letzt hatte auch der Captain den richtigen Schlüssel gefunden – aus dem guten Dutzend, das er an einem Ring bei sich trug. Der Riegel schnellte mit einem scharfen Klirren zurück, dessen Hallen die niedrigen Gänge in der Nähe füllte. In Anns Ohren klang es, als werde eine Glocke für die Verdammten angeschlagen.

Mit einem angestrengten Ächzen zerrte der Captain an der schweren Tür, bis diese sich widerstrebend öffnen ließ.

Er nahm eine kleine Laterne aus einer Nische, entzündete sie an einer danebenstehenden Kerze, und ging vor, um eine weitere Tür aufzusperren. Hinter der nächsten Tür wurde der Gang noch niedriger und war jetzt kaum breiter als Anns Schultern. Sie versuchte ihren rasenden Puls zu beruhigen, während sie dem unebenen, gekrümmten Durchgang folgte. Nyda und die Wachen mußten, die Arme eng am Körper, beim Gehen die Köpfe einziehen.

»Hier ist es«, sagte Captain Lerner und blieb stehen.

Er hielt seine Laterne hoch und spähte durch die winzige, in die Tür eingelassene Öffnung. Beim zweiten Versuch fand er den richtigen Schlüssel, schloß auf und reichte Nyda seine kleine Laterne, um den Riegel mit beiden Händen zurückziehen zu können. Ächzend zog er unter Aufbietung seines ganzen Körpergewichts daran, bis sich die Tür schließlich knirschend einen Spalt weit öffnen ließ. Durch diesen zwängte er sich und verschwand im Innern der Zelle.

Nyda reichte die Laterne hinein, ehe sie dem Captain nach drinnen folgte; dann langte sie mit ihrem ganz in Rot gekleideten Arm noch einmal nach draußen, packte mit der Hand Anns Kleid und zog sie hinter sich hinein.

Der Captain war bereits damit beschäftigt, auf der anderen Seite des winzigen Vorraums eine zweite Tür aufzusperren. Deutlich spürte Ann, daß dies der Raum war, in dem sich der Schild befand. Die zweite Tür öffnete sich knarrend; dahinter befand sich eine aus dem massiven Muttergestein gehauene Zelle. Der einzige Weg nach draußen führte durch diese Tür anschließend durch den winzigen Vorraum mit dem Schild und schließlich durch die zweite Tür.

Im Hause Rahl wußte man, wie man ausbruchsichere Verliese baute.

Nydas Hand faßte sie beim Ellenbogen, eine unmißverständliche Aufforderung, bis in den hinteren Raum durchzugehen. Selbst Ann, klein, wie sie war, mußte sich ducken, als sie über die erhöhte Schwelle stieg, um durch die Tür zu treten. Das einzige Mobiliar drinnen bestand aus einer aus dem Gestein der gegenüberliegenden Wand gehauenen Bank, die gleichzeitig als Sitzgelegenheit und erhöhte Bettstatt diente. Am einen Ende der Bank stand eine Blechkanne mit Wasser, am anderen lag eine einzelne gefaltete braune Decke. In der Ecke stand ein Nachttopf, der, wenn schon nicht sauber, so doch wenigstens leer war.

Nyda stellte die Laterne auf der Bank ab. »Nathan hat Anweisung gegeben, sie Euch hier zu lassen.«

Offenbar handelte es sich um einen Luxus, den man anderen Gästen nicht gewährte.

Ein Bein bereits über der Schwelle, hielt Nyda noch einmal inne, als Ann ihren Namen rief.

»Würdet Ihr Nathan eine Nachricht von mir überbringen? Richtet ihm bitte aus, daß ich ihn gerne sehen würde. Und erklärt ihm, es sei wichtig.«

Nyda lächelte. »Er sagte, daß Ihr genau diese Worte gebrauchen würdet. Nathan ist Prophet, vermutlich ist es also ganz normal, daß er wußte, was Ihr sagen würdet.«

»Werdet Ihr ihm meine Nachricht nun überbringen oder nicht?«

Nydas kalte blaue Augen schienen Ann bis auf den Grund ihrer Seele auszuloten. »Nathan läßt Euch ausrichten, daß er einen ganzen Palast zu verwalten hat und nicht jedes Mal zu Euch heruntergeeilt kommen kann, sobald Ihr nach ihm schreit.«

Es waren fast genau dieselben Worte, die sie Nathan unzählige Male in seinen Gemächern hatte ausrichten lassen, sobald eine Schwester mit seiner Bitte, die Prälatin sprechen zu dürfen, zu ihr kam. Richte Nathan aus, daß ich einen ganzen Palast zu verwalten habe und nicht jedes Mal hinunterlaufen kann, wenn er nach mir verlangt. Wenn er eine Prophezeiung gesehen hat, notier sie dir, damit ich einen Blick darauf werfen kann, sobald ich Zeit dafür habe.

Bis zu diesem Augenblick war Ann nicht klar gewesen, wie grausam ihre Worte geklungen hatten.

Nyda zog die Tür hinter sich ins Schloß, dann war Ann allein in dem Gefängnis, aus dem sie, das wußte sie, nicht würde fliehen können.

Immerhin neigte sich ihr Leben dem Ende zu, so daß sie nicht den größten Teil ihres Leben gefangen gehalten werden konnte, so wie sie es mit Nathan getan hatte.

Ann stürzte an die winzige Türöffnung. »Nyda!«

Die Mord-Sith, an der zweiten Tür und bereits jenseits des für Ann unüberwindbaren Schildes, drehte sich noch einmal um.

»Sagt Nathan ... sagt Nathan, es tut mir leid.«

Nyda lachte einmal kurz auf. »Oh, ich denke, Nathan weiß, wie leid es Euch tut.«

Ann zwängte ihren Arm durch das winzige Fenster und langte nach der Mord-Sith. »Nyda, bitte. Sagt ihm ... sagt Nathan, daß ich ihn liebe.«

Nyda starrte sie lange wortlos an, ehe sie die äußere Tür schloß und den Riegel vorschob.

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