Richard schreckte aus dem Schlaf hoch.
Sie waren wieder da.
Er hatte schlecht geträumt, aber wie stets konnte er sich nicht an seinen Traum erinnern; daß es ein schlimmer Traum gewesen sein mußte, wußte er nur deshalb, weil er dieses unbestimmte Gefühl atemlosen, den Puls beschleunigenden, panischen Entsetzens hinterlassen hatte. Er schüttelte den bedrückenden Alptraum ab wie eine zerwühlte Decke. Das Gefühl, die finsteren Wesen aus den letzten Überresten seines Traums hätten noch nicht von ihm abgelassen und versuchten ihn in ihre Welt zu zerren, war zwar noch nicht vollends abgeklungen, trotzdem wußte er natürlich, daß Träume ins Reich der Seele gehörten, und maß dem keine tiefere Bedeutung bei. Jetzt, im Wachzustand, klang das beängstigende Gefühl rasch ab – wie Morgendunst, der sich unter der Einwirkung warmer Sonnenstrahlen verflüchtigte.
Gleichwohl hatte er einige Mühe, seinen Atem zu beruhigen.
Entscheidend war, daß sie wieder da waren. Nicht immer merkte er es, wenn sie zurückkehrten, aus einem unbestimmten Grund jedoch war er sich seiner Sache diesmal sicher.
Irgendwann im Laufe der Nacht war der Wind aufgefrischt; hier draußen in der drückenden Hitze der Wüste boten die heißen, alles verdorrenden Windstöße jedoch keine Linderung von der Hitze. Der Wind war alles andere als erfrischend und so heiß, als hätte jemand die Tür eines Schmelzofens aufgestoßen, dessen Glut ihm jetzt die Haut versengte.
Richard ließ seinen Blick über ihr kleines Lager schweifen und konnte über dem östlichen Himmel einen schwachen rötlichen Schimmer erkennen. Bis zur Dämmerung war es noch ein wenig hin.
Plötzlich wurde er sich bewußt, daß er seine Wache verschlafen hatte. Bestimmt hatten Cara und Kahlan entschieden, daß er den Schlaf dringender brauchte, als er an der Reihe gewesen wäre, um Wache zu stehen, und hatten sich stillschweigend darauf geeinigt, ihn nicht zu wecken. Wahrscheinlich hatten sie sogar Recht gehabt.
Erfreulicherweise waren seine Kopfschmerzen verschwunden.
Leise und vorsichtig, um sie nicht zu wecken, löste er sich von Kahlan und griff instinktiv nach seinem auf seiner anderen Seite liegenden Schwert. Das Metall fühlte sich warm an, als sich seine Finger um das vertraute, aus Gold und Silber gearbeitete Heft schlossen. Es war stets ein beruhigendes Gefühl, das Schwert griffbereit neben sich zu wissen, erst recht in einem Augenblick wie diesem. Lautlos und schwungvoll kam er auf die Beine, streifte sich dabei den Waffengurt über den Kopf und legte den geschmeidigen, vertrauten Lederriemen über seine rechte Schulter, sodaß das Schwert, als er schließlich aufrecht stand, bereits an seiner Hüfte hing.
So beruhigend der Gedanke war, die Waffe an seiner Hüfte zu spüren – seit dem Gemetzel bei den Säulen der Schöpfung bereitete ihm bereits die Vorstellung, es zu ziehen, Übelkeit. Ein Schaudern überlief ihn bei dem Gedanken, was er alles damit angerichtet hatte – aber hätte er es nicht getan, würde Kahlan vermutlich jetzt nicht friedlich neben ihm schlummern. Sie wäre tot.
Und noch etwas Gutes war dabei herausgekommen: Jennsen war in letzter Sekunde gerettet worden. Er betrachtete sie liebevoll, wie sie zusammengerollt neben ihrer Ziege lag, den Arm um deren kleine Junge gelegt. Es stimmte ihn froh, daß sie seine Nähe suchte, auch wenn er sich jetzt auch noch um ihre Sicherheit kümmern mußte. Aber im Grunde war man ohnehin nirgends wirklich sicher, solange die von der Imperialen Ordnung entfesselten Kräfte nicht besiegt oder doch wenigstens wieder in die Schranken gewiesen waren.
Ein kräftiger Windstoß fegte durch das Lager und wirbelte eine dichte Staubwolke auf. Blinzelnd versuchte er zu verhindern, daß ihm der treibende Sand in die Augen wehte. Auch das Geräusch des Windes störte, da es alle anderen Geräusche überdeckte. So angestrengt er auch horchte, außer dem Wind war nichts zu hören.
Die Augen gegen den wirbelnden Sand zu schmalen Schlitzen zusammengepreßt, sah er Tom, den derzeitigen Wachtposten, auf seinem Wagenbock sitzen und mal in diese, mal in jene Richtung spähen. Friedrich schlief jenseits der Pferde, Cara nicht weit entfernt neben Kahlans der Wüste zugewandten Seite – gewissermaßen als Schutzwall zwischen ihnen und allem, was sich dort draußen verbergen mochte. Wegen des kargen Sternenlichts hatte Tom ihn noch nicht bemerkt; als er das nächtliche Dunkel in der entgegengesetzten Richtung mit den Augen absuchte, entfernte sich Richard aus dem Lager und überließ die anderen Toms Wachsamkeit.
Im Schutz der Dunkelheit fühlte er sich sicher; in zahllosen Jahren des Übens hatte er gelernt, unbemerkt von Schatten zu Schatten zu schleichen und sich im Dunkeln geräuschlos zu bewegen. Genau das tat er jetzt. Alle Sinne auf das konzentriert, was ihn geweckt hatte und was die anderen Posten vermutlich gar nicht spürten, ließ er das Lager hinter sich zurück.
Im Gegensatz zu Tom war seine Bewegung den Riesenkrähen keineswegs entgangen. Hoch oben am Himmel kreisten sie und folgten ihm, als er sich vom Lager durch das zerklüftete Gelände entfernte. Vor dem schwarzen Nachthimmel waren sie fast unsichtbar, doch Richard vermochte sie zu erkennen, sobald sie die Sterne verdeckten – verräterische Schatten, die er nicht nur sah, sondern auch zu spüren glaubte.
Plötzlich vernahm er das vertraute Rauschen, als einer der riesigen Raubvögel am Himmel vorüberschoß. Die Riesenkrähe änderte im Flug die Richtung und ließ sich von einer Bö höher tragen, um ihn neugierig zu betrachten.
Unmittelbar hinter ihr folgte eine zweite, dann noch eine dritte, bis sie schließlich zu fünft in lockerer Formation lautlos über die offene Wüste davonglitten. Ihre weit gespreizten Schwingen schwankten leicht, da sie in dem böigen Wind Mühe hatten, ihren Kurs zu halten. Kaum waren sie ein Stück entfernt, machten sie in einem weiten, aufsteigenden Bogen kehrt und kamen im Gleitflug zu ihm zurück.
Kurz bevor sie ihn erreichten, legten sie sich in eine Kehre und begannen zu kreisen. Normalerweise konnte man das leise Rascheln ihrer Federn hören, wenn sie ihre mächtigen Schwingen schlugen, doch wegen des starken Windgeräusches war das jetzt unmöglich. Ihre schwarzen Augen beobachteten ihn, wie er sie betrachtete. Sie sollten ruhig wissen, daß er ihre Gegenwart bemerkt und ihre nächtliche Rückkehr nicht verschlafen hatte.
Doch obwohl er sie keinen Moment aus den Augen ließ, vermochte er sich nicht vorzustellen, was sie mit ihrem Tun bezweckten. Er hatte dieses Verhalten früher schon bei ihnen beobachtet, ohne es wirklich zu verstehen. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er ihre Gegenwart immer dann gespürt hatte, wenn sie dieses merkwürdige Verhalten an den Tag legten, sonst dagegen nicht. Hatte er Kopfschmerzen gehabt, so waren diese, wenn sie zu ihm zurückkehrten, sofort verschwunden.
Den heißen Wind im Haar, ließ Richard den Blick über die trostlose, noch immer im staubigen Dämmerlicht kurz vor Sonnenaufgang daliegende Wüste schweifen. Dieser Ort bar allen Lebens, wo der Anbruch eines neuen Tages keineswegs eine zu neuem Leben erwachende Welt verhieß, behagte ihm kein bißchen. Am liebsten wäre er jetzt mit Kahlan in den Wäldern seiner Heimat gewesen. Er konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken, als er an den Ort in den Bergen dachte, wo sie den letzten Sommer verbracht hatten. Dort war es so herrlich gewesen, daß sich sogar Cara von der heiteren Stimmung hatte anstecken lassen ...
Völlig unvermittelt kippten die Riesenkrähen ihre breiten Schwingen, zogen ihre Kreise enger und näherten sich dem Wüstenboden. Er wußte, sie würden dieses Verhalten für kurze Zeit beibehalten, bis sie ihre Formation schließlich auflösten und wieder auf eine normale Flugbahn zurückkehrten. Bisweilen vollführten sie, wie man es oft bei Krähen beobachten konnte, im eleganten, perfekt eingespielten Paarflug spektakuläre Flugkunststücke, im Übrigen aber entsprach dieses gelegentliche Kreisen in einer fest gefügten Gruppe nicht ihrem gewohnten Verhalten.
Plötzlich, ihre tiefschwarzen Schatten hatten sich zu einem engen Strudel verdichtet, erkannte Richard, daß die aufgewirbelten Sandschleier unter ihnen keineswegs ziellos vom Wind hin und her geweht wurden, sondern in einer seltsam fließenden Bewegung eine unsichtbare Leere auszusparen schienen.
Die feinen Härchen auf seinen Armen stellten sich auf.
Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte Richard in den Wind und versuchte, trotz des heulenden Sandsturms etwas zu erkennen, bis eine kräftige Bö plötzlich noch mehr Sand und Staub aufwirbelte. Es war, als mieden die feinen, über den ebenen Wüstenboden dahinjagenden Sandwirbel eine Stelle genau unterhalb der Riesenkrähen – bis sich immer deutlicher eine Gestalt abzuzeichnen begann.
Sie schien die Umrisse eines Menschen zu haben.
Der Staub umwirbelte ein leeres Nichts, verlieh ihm dadurch Form und Gestalt, so als wollte er zeigen, was sich dort befand, ohne es tatsächlich preiszugeben. Wann immer der Wind auffrischte und eine dichte Staubwolke herantrug, glich die vom verwehten Sand umwirbelte Silhouette den Umrissen eines Mannes mit langem Gewand und Kapuze.
Richards Hand tastete nach dem Heft seines Schwertes.
Die Gestalt bestand ausschließlich aus dem Sand, der ihre äußere Kontur umwehte – ganz ähnlich trübem Wasser, das eine Flasche aus durchsichtigem Glas umspült und dadurch ihre verborgene Form offenbart. Die Gestalt schien völlig regungslos dazustehen und ihn zu beobachten.
Obgleich dieses leere, sandumwirbelte Nichts keine Augen hatte, meinte Richard deutlich Blicke auf seinem Körper zu spüren.
»Was ist denn passiert?«, erkundigte sich Jennsen, die plötzlich neben ihm stand, in besorgtem Flüsterton.
Richard schob sie mit seiner linken Hand zurück. Das heftige Bedürfnis, das ihn gerade überkam, war so übermächtig, daß er seine ganze Konzentration aufbieten mußte, um dabei nicht allzu grob zu sein. Er hielt das Heft seines Schwertes so fest gepackt, daß sich die erhabenen, mit Golddraht in das Silber eingearbeiteten Buchstaben des Wortes WAHRHEIT spürbar in seine Hand eingruben.
Richard beschwor den Daseinszweck des Schwertes, den eigentlichen Grund seiner Existenz. Als Antwort zündete die Urgewalt der Kraft des Schwertes.
Noch während ihn der Zorn des Schwertes durchströmte, spürte Richard jenseits seines Zorns, in einem verborgenen Winkel seines Verstandes, unerwartet eine vage Abneigung des Magiestromes, seiner Aufforderung nachzukommen.
Es war als stürzte man durch eine Tür, in der Erwartung, sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Urgewalt eines tosenden Sturms stemmen zu müssen, nur um gleich darauf ins Leere zu stolpern, weil der Widerstand geringer war als erwartet.
Bevor Richard sein Gefühl in Zweifel ziehen konnte, durchflutete ihn eine Woge von Zorn und erfüllte ihn mit der ungestümen, kalten Wut, durch die sich die Kraft des Schwertes offenbarte.
Der Wirbel aus kreisenden Riesenkrähen kam näher. Auch dieses Verhalten war nicht ungewöhnlich, diesmal jedoch wurden sie begleitet von der leeren, nur durch den umherwirbelnden Sand und Staub gezeichneten Gestalt. Es schien, als würde der körperlose Kapuzenmann von den Vögeln mitgeschleppt.
Das charakteristische Klirren von Stahl in der heißen, frühmorgendlichen Luft verkündete die Ankunft des Schwertes der Wahrheit.
Die Bewegung kam so unvermittelt, daß Jennsen ein erschrockener Schrei entfuhr und sie mit einem Satz zurücksprang.
Die Riesenkrähen antworteten mit durchdringendem, spöttischem Krächzen, das vom heulenden Wind herangetragen wurde.
Das unverwechselbare Geräusch, das Richards Schwert beim Ziehen erzeugte, rief Kahlan und Cara in vollem Lauf herbei. Cara hätte sich am liebsten schützend vor ihn geworfen, war aber klug genug, sich ihm, wenn er das Schwert gezogen hatte, nicht in den Weg zu stellen. Den Strafer in der Faust, den Oberkörper leicht vorgebeugt, blieb sie, nicht unähnlich einer Raubkatze kurz vor dem Sprung, jählings etwas seitlich von ihm stehen.
»Was gibt es denn?«, fragte Kahlan, die hinter ihm angelaufen kam und zu der von Wind und Staub umwirbelten Gestalt hinüberstarrte.
»Die Riesenkrähen«, war Jennsens sorgenvolle Stimme zu hören. »Sie sind wieder da.«
Kahlan starrte sie ungläubig an. »Die Riesenkrähen scheinen mir nicht mal das Schlimmste zu sein.«
Richard beobachtete die seltsame Erscheinung, die sich genau unterhalb der kreisenden Vögel abzeichnete. Er spürte das Schwert in seinem Griff, dessen Kraft das Mark seiner Knochen mit einem sachten Kribbeln durchzog, und nahm zum ersten Mal ein kurzes Zögern, einen leisen Anflug von Zweifel wahr. Aber er durfte keine Zeit verlieren. Er wandte sich herum zu Tom, der soeben mit dem Befestigen der Führungsleinen seiner stämmigen Zugpferde fertig war, und machte die Geste des Bogenschießens. Tom machte augenblicklich kehrt und lief zum Wagen zurück, während Friedrich hastig nach den Haltestricken der übrigen Pferde griff und einige Mühe hatte, sie zu beruhigen und zu verhindern, daß sie scheuten. Tom, ins Wageninnere gebeugt, warf auf der Suche nach Richards Bogen und Köcher alle möglichen Ausrüstungsgegenstände zur Seite.
Jennsens Blick wanderte von einer düsteren Miene zur nächsten. »Was soll das heißen, die Riesenkrähen sind noch nicht einmal das Schlimmste?«
Cara deutete mit ihrem Strafer nach vorn. »Da ... diese Gestalt. Der Mann dort.«
Jennsen runzelte verwirrt die Stirn, während ihr Blick zwischen Cara und dem aufgewirbelten Sand hin- und herwanderte.
»Was siehst du?«, fragte Richard.
In einer verzweifelten Geste warf sie die Hände in die Luft. »Schwarz gezeichnete Riesenkrähen, fünf an der Zahl. Außerdem Sand, der einem jede Sicht nimmt, sonst nichts. Ist da draußen etwa jemand? Habt ihr jemanden kommen sehen?«
Sie konnte es tatsächlich nicht sehen.
Tom zog endlich Bogen und Köcher von der Ladefläche und lief zu den anderen hinüber, als zwei der Raubvögel, so als hätten sie Tom mit dem Bogen herbeieilen sehen, eine ihrer Schwingen anhoben und einen weiten Bogen beschrieben. Sie umkreisten ihn einmal, ehe sie in der Dunkelheit verschwanden. Die anderen drei dagegen zogen weiter ihre Kreise, so als müßten sie die schwebende Gestalt im wirbelnden Sand aufrecht halten.
Immer näher kamen sie, und mit ihnen die schemenhafte Gestalt. Richard hatte nicht die leiseste Ahnung, um was es sich handeln mochte, doch das bedrohliche Gefühl, das sie hervorriefen, stand seinem schlimmsten Alptraum in nichts nach. Der Kraft des Schwertes, die ihn durchlief, waren solche Ängste und Zweifel fremd, aber wieso spürte er sie dann? Ein Sturm der Magie, der alles in den Schatten stellte, was hier draußen in der Wüste toste, stieg in ihm hoch und drängte darauf, entfesselt zu werden. Mit einer ungeheuren Willensanstrengung unterdrückte Richard diesen Drang und unterwarf ihn, für den Fall, daß er ihn entfesseln wollte, seinem Willen. Er war der Meister des Schwertes, und diese Macht durfte er sich unter keinen Umständen aus den Händen reißen lassen. Die Reaktion des Schwertes auf die Erscheinung im Sandwirbel erlaubte keinen Zweifel; er glaubte sicher zu wissen, welcher Art diese Erscheinung im Sand dort vor ihm war. Nur was vermittelte ihm das Schwert?
Hinten beim Wagen wieherte ein Pferd. Ein kurzer Blick über die Schulter zeigte Richard, daß Friedrich noch immer damit kämpfte, die Tiere zu beruhigen. Plötzlich bäumten sich alle Pferde gleichzeitig auf und rissen an dem Strick, den er mit beiden Händen fest umklammert hielt, ehe sie schnaubend und mit den Hufen trampelnd wieder auf dem Boden landeten. Aus dem Augenwinkel sah Richard zwei schwarze Schatten aus der Dunkelheit heranschießen, die kaum den Boden zu berühren schienen. Betty stieß einen entsetzlichen Klagelaut aus.
Schon waren sie, ebenso schnell, wie sie gekommen waren, wieder verschwunden und im undurchdringlichen Dämmerlicht untergetaucht.
Nun stieß Jennsen einen entsetzten Schrei aus und rannte hinüber zu den Tieren.
Der reglose Schatten vor ihnen schien alles genau zu beobachten. Tom versuchte Jennsen im Vorüberlaufen festzuhalten, doch sie wich ihm aus. Einen Moment lang befürchtete Richard, Tom könnte ihr nachsetzen, doch dann hielt er bereits wieder auf ihn zu.
Plötzlich schossen die beiden Riesenkrähen erneut aus dem trüben Dämmer hervor, so nah, daß Richard die Kiele der Flugfedern in ihren weit gespreizten Flügeln sehen konnte. Sie stießen aus dem Sandwirbel herab und zogen gleich darauf wieder ihre Kreise – eine jede von ihnen mit einem kleinen, weißen, schlaffen Etwas in den mächtigen Krallen.
Endlich war Tom bei ihm, in der einen Hand den Bogen, den Köcher in der anderen. Richard hatte sich entschieden; er rammte das Schwert zurück in die Scheide und langte nach dem Bogen.
Mit einer einzigen fließenden Bewegung bog er die Waffe und spannte die Sehne, ehe er einen Pfeil aus dem ledernen Köcher zog, den Tom ihm mit seiner großen Hand reichte.
Es tat gut zu spüren, wie seine Muskeln sich unter dem Zug spannten, sich gegen den Widerstand des Bogens stemmten, der soeben seine Energie für den Schuß aufnahm. Es tat gut, sich auf seine Körperkraft, auf sein in zahllosen Übungsstunden erworbenes Können zu verlassen und nicht auf Magie angewiesen zu sein.
Die regungslose Gestalt des nicht vorhandenen Mannes schien dies alles weiterhin zu beobachten. Feine Sandwirbel umwehten sie und markierten ihre äußere Form. Richard richtete seinen zornerfüllten Blick an der rasiermesserscharfen Pfeilspitze entlang genau auf ihren Kopf.
Über ihren Köpfen übertönte das durchdringende Kreischen der Riesenkrähen das Heulen des Windes.
Die Bogensehne an die Wange gepreßt, kostete Richard die Anspannung seiner Muskeln aus, genoß er das Gewicht des Bogens, die sachte Berührung der Federn auf seiner Haut das Gefühl der mit wirbelndem Sand gefüllten Entfernung zwischen Pfeilspitze und Ziel, das Zerren des Windes an seinem Arm. Jede Einzelheit floß in die Gleichung ein, die nach lebenslangem Training keiner bewußten Berechnung mehr bedurfte und dennoch darüber entschied, wo die Pfeilspitze treffen würde, sobald er das Ziel herbeirief.
Die Gestalt stand vor ihm und beobachtete.
Unvermittelt hob Richard den Bogen und rief das Ziel herbei.
Die Welt erstarrte nicht nur, sie wurde völlig still, während die Entfernung zu schrumpfen schien. Sein Körper war ebenso angespannt wie der Bogen, der Pfeil wurde zur Verlängerung seiner zielgerichteten Absicht, das Ziel vor seinem Pfeil zu seinem Daseinszweck. Augenblicklich rief sein bewußter Wille das Ergebnis der Berechnung ab, die nötig war, um Pfeil und Ziel eins werden zu lassen.
Das Wirbeln des Sandes schien ein wenig nachzulassen, als die Riesenkrähen sich mit weit gespreizten Flügeln durch die stauberfüllte Luft kämpften. Richard zweifelte nicht einen Moment, daß der Pfeil am Ende seiner in diesem Augenblick beginnenden Reise ins Ziel treffen würde. Er spürte, wie die Sehne gegen sein Handgelenk schlug, sah, wie die Federn über seiner Faust den Bogen streiften. Der Pfeilschaft bog sich leicht, als er losschoß und da von schnellte.
Noch während der erste ins Ziel traf, zog er bereits den zweiten aus dem Köcher in Toms Hand. Eine Explosion aus schwarzen Federn im tiefroten Morgendämmer. Der Vogel taumelte unbeholfen durch die Luft und schlug unweit der unmittelbar über der Erde schwebenden Gestalt mit einem dumpfen Aufprall auf den Boden; das blutige weiße Etwas war dabei seinen Krallen entglitten.
Die vier verbliebenen Riesenkrähen schienen außer sich zu sein. Während die Vögel mit kräftigem Flügelschlag an Höhe zu gewinnen versuchten, beschimpfte einer von ihnen Richard mit einem schrillen Schrei. Richard rief das Ziel herbei.
Der zweite Pfeil war in der Luft.
Er bohrte sich in den aufgerissenen Schlund der Riesenkrähe, trat am Hinterkopf wieder aus und brachte den Schrei abrupt zum Verstummen. Das flugunfähige Federbündel stürzte wie ein Stein zu Boden.
Die Gestalt unter den drei noch verbliebenen Riesenkrähen begann sich im wirbelnden Sand zu verflüchtigen.
Als hätten sie vor, die ihnen anvertraute Gestalt im Stich zu lassen, schwenkten die drei verbliebenen Vögel herum und schossen voller Wut auf Richard zu. Er beobachtete sie, das Auge hinter einem kleinen Federbusch verborgen, mit ruhigem Blick. Schon sirrte der dritte Pfeil davon. Der Vogel in der Mitte hob beim Versuch eines Richtungswechsels noch seinen rechten Flügel, dann traf ihn der Pfeil bereits mitten ins Herz. Er drehte sich um seine Längsachse und trudelte durch den aufgewirbelten Sand, bis er ein gutes Stück vor Richard auf den harten, verkrusteten Boden schlug.
Richard zog die Sehne an die Wange und richtete den vierten Pfeil aufs Ziel. Im nu schoß ein neuer Pfeil davon und durchschlug den Körper der vierten Riesenkrähe.
Mit angelegten Flügeln kam die letzte Krähe wütend auf Richard zugeschossen. Kaum hatte dieser einen Pfeil aus dem Köcher gezogen, den der mittlerweile nervös gewordene Tom ihm reichte, da schleuderte der kräftige D’Haraner sein Messer. Richard kam nicht einmal mehr dazu, den Pfeil aufzulegen, als die wirbelnde Klinge sich bereits in den Raubvogel bohrte. Richard mußte einen Schritt zur Seite treten, als der Vogel, nun ein lebloses Bündel, an ihm vorüberschoß und unmittelbar hinter ihm schwer auf den Boden prallte, sich mehrmals überschlug und dabei den windumtosten Felsen mit seinem Blut bespritzte.
Die eben noch vom grausigen Gekreisch erfüllte Morgendämmerung war auf einmal still – bis auf das leise Heulen des Windes, eines Windes, der die schwarzen Federn aufnahm und sie über die endlose Weite unter dem gelblich-roten Himmel davontrug.
In diesem Augenblick trat die Sonne über den Horizont und warf lange Schatten über die Ödnis.
»Wieso verhielten sich diese Riesenkrähen plötzlich so merkwürdig?«, fragte Jennsen.
»Ich weiß es nicht«, sagte Richard. »Außer den Riesenkrähen hast du also nichts gesehen?«
Jennsen, das Gesicht in den Händen verborgen, lehnte sich gegen ihn und ließ einen Moment lang ihren Tränen freien Lauf. »Ich habe nur die Vögel gesehen«, schluchzte sie, während sie sich mit dem Ärmel die Tränen abwischte.
»Und die Gestalt, die sich im verwehten Sand abzeichnete?«, fragte Kahlan und legte ihr eine tröstende Hand auf die Schulter.
»Gestalt?« Sie sah von Kahlan zu Richard. »Was für eine Gestalt?«
»Sie ähnelte dem Körper eines Menschen.« Kahlan beschrieb die Form mit Hilfe ihrer Hände. »Etwa so, wie die Umrisse eines in einen Umhang mit Kapuze gehüllten Mannes.«
»Außer den Riesenkrähen und gewaltigen Wolken verwehten Sandes hab ich nichts gesehen.«
»Dir ist nicht aufgefallen, daß der Sand eine bestimmte Stelle ausgespart hat?«, fragte Richard.
Jennsen schüttelte beharrlich den Kopf.
»Wenn bei dieser Gestalt Magie im Spiel war«, wandte sich Kahlan in vertraulichem Ton an Richard, »dann kann sie sie eigentlich gar nicht gesehen haben, aber wieso hat sie den Sand nicht bemerkt?«
»Weil die Magie für sie gar nicht vorhanden war.«
»Aber doch der Sand.«
»Ein Blinder kann weder die Farben eines Bildes sehen, obwohl durchaus vorhanden, noch vermag er die von den mit Ölfarbe gesättigten Pinselstrichen herausgearbeiteten Formen zu erkennen.« Verwundert schüttelte er den Kopf, während er Jennsen betrachtete. »Im Grunde wissen wir nicht, inwieweit jemand von Dingen beeinflußt wird, solange er nicht imstande ist, die Magie wahrzunehmen, die auf diese Dinge einwirkt. Soweit wir wissen, ist ihr Verstand möglicherweise gar nicht fähig, eine von Magie erzeugte Struktur wahrzunehmen – weshalb er sie einfach als Sand deutet. Es könnte sogar sein, daß die Struktur der Magie selbst innewohnt und nur wir die unmittelbar an der Hervorhebung der Struktur beteiligten Sandpartikel sehen können, wohingegen sie sämtliche Sandkörnchen sieht, die dahinter verborgene Struktur sich aber ihrem Blick entzieht.
Es wäre sogar denkbar, daß es sich um etwas Ähnliches wie die Grenzen handelt: zwei Welten, die zur gleichen Zeit am selben Ort existieren. Jennsen und wir könnten denselben Gegenstand betrachten und sähen ihn doch mit ganz unterschiedlichen Augen aus einer anderen Welt.«
Kahlan nickte, als Richard neben Jennsen in die Hocke ging, um die klaffende Wunde im drahtigen braunen Fell der Ziege zu untersuchen.
»Das sollten wir besser nähen«, meinte er, an Jennsen gewandt. »Es ist nicht lebensbedrohlich, muß aber dringend versorgt werden.«
Schniefend unterdrückte Jennsen ihre Tränen, als Richard sich wieder erhob. »Dann war dieses Etwas, das du gesehen hast, also Magie?«
Richard starrte leeren Blicks zu der Stelle hinüber, wo sich die Gestalt im vom Wind getriebenen Sand abgezeichnet hatte. »Auf jeden Fall war es etwas Böses.«
Ein Stück abseits hinter ihnen warf Rusty den Kopf und bekundete mit einem lauten Wiehern sein Mitgefühl mit der untröstlichen Ziege.
Schließlich erhob sich Jennsen, hielt sich eine Hand gegen den wehenden Staub schützend vor die Augen und sah zum Horizont. »Wenigstens sind wir diese scheußlichen Riesenkrähen los.«
»Nicht für lange«, erwiderte Richard.
Noch im selben Moment kehrten schlagartig seine Kopfschmerzen zurück, mit einer Wucht, die ihn fast von den Füßen gerissen hätte. Immerhin hatte er inzwischen eine ganze Menge über das Beherrschen von Schmerzen gelernt und wie man sie ignorierte, und dieses Wissen wandte er nun an.
Im Augenblick hatten sie andere Sorgen.