19

»Und was macht Euch so gewiß, daß Ihr tatsächlich eine Schwester der Finsternis gesehen habt?«, fragte Verna in Gedanken, während sie ihre Feder erneut eintauchte.

Sie setzte ihre Initialen unter den Antrag einer Schwester auf eine Reise in eine Ortschaft tief im Süden, um die Pläne einer dortigen Hexenmeisterin zur Verteidigung ihres Gebietes zu begutachten. Die Schreibarbeiten des Büros der Prälatin schienen sie selbst hierher, bis ins Feld, zu verfolgen. Ihr Palast war zerstört, der Prophet war auf freiem Fuß, und die echte Prälatin hatte sich allein aufgemacht, ihn zu verfolgen; einige Schwestern des Lichts hatten ihre Seelen an den Hüter der Unterwelt verpfändet und diesen dadurch seinem Ziel, sie alle in ewige Finsternis zu verdammen, einen Schritt näher gebracht; eine nicht unbeträchtliche Zahl von Schwestern – sowohl des Lichts als auch der Finsternis – befand sich in der Gewalt des grausamen Feindes und gehorchte seinen Befehlen, die Barriere, die einst die Neue von der Alten Welt getrennt hatte, war gefallen, die ganze Welt stand Kopf, und der einzige Mann, dem laut Prophezeiungen eine Chance eingeräumt wurde, die Gefahr der Imperialen Ordnung abzuwehren – Richard Rahl –, war mit unbekanntem Ziel verschwunden. Normalerweise wurden die Schreibarbeiten und Gesuche von ihren Gehilfinnen erledigt, aber so ungern Verna sich auch mit diesen langweiligen Dingen beschäftigte, hielt sie es doch für ihre Pflicht, auf alles ein Auge zu halten. Außerdem bot sie – so lästig die Büroarbeit auch sein mochte -eine willkommene Ablenkung, die verhinderte, daß sie sich über vertane Gelegenheiten den Kopf zerbrach.

»Immerhin«, setzte sie hinzu, »hätte es doch ebenso gut eine Schwester des Lichts sein können. Jagang bedient sich beider wegen ihres Geschicks im Umgang mit Magie. Ihr könnt nicht mit Sicherheit wissen, daß es eine Schwester der Finsternis war. Er läßt seine Späher schon den ganzen Winter und Frühling über von Schwestern begleiten.«

Die Mord-Sith stemmte sich mit den Knöcheln auf den kleinen Schreibtisch und beugte sich vor. »Aber wenn ich es Euch doch sage, Prälatin, es war eine Schwester der Finsternis.«

Verna sah keinen Sinn darin, zu widersprechen, zumal es ohnehin fast keine Rolle spielte. »Wenn Ihr es sagt, Rikka.«

Verna legte das Gesuch beiseite und widmete sich dem nächsten Blatt auf dem Stapel, der Bitte um eine Schwester, die vor Kindern über die Berufung der Schwestern des Lichts sprechen sollte, verbunden mit einem Vortrag über das Thema, warum der Schöpfer die Methoden der Imperialen Ordnung nicht billige und deshalb auf ihrer Seite stehe. Verna lächelte bei sich, als sie sich vorstellte, wie Zedd allein schon bei dem Gedanken, daß eine Schwester mitten in der Neuen Welt einen Vortrag über ihre Sicht dieser Dinge halten sollte, außer sich geriet.

Rikka richtete sich wieder auf. »Ich dachte mir, daß Ihr das sagen würdet.«

»Nun, seht Ihr, da habt Ihr es«, murmelte Verna, während sie die nächste Mitteilung der Schwestern des Lichts im Süden las, in der sie über die Gebirgspässe und die zu ihrer Absperrung getroffenen Maßnahmen berichteten.

»Rührt Euch nicht von der Stelle«, brummte Rikka, ehe sie wütend aus dem Zelt stürmte.

»Ich hatte nicht die Absicht, irgendwohin zu gehen«, seufzte Verna, während sie die detaillierte Darstellung überflog, doch die aufgebrachte blonde Frau war schon verschwunden.

Verna vernahm einen Tumult draußen vor dem Zelt; offenbar hielt Rikka jemandem eine bissige Strafpredigt. Diese Mord-Sith waren unverbesserlich, aber vermutlich mochte Verna sie – trotz allem – gerade deswegen.

Seit Warrens Tod allerdings war Verna nicht mehr recht mit dem Herzen bei der Sache. Sie tat, was sie tun mußte, versah ihre Pflicht, dennoch gelang es ihr nicht, dabei etwas anderes als Hoffnungslosigkeit zu empfinden. Der Mann, den sie liebte und den sie geheiratet hatte, der prächtigste Mensch auf der ganzen Welt ... lebte nicht mehr.

Seitdem war nichts mehr wirklich wichtig.

Verna war bemüht, ihre Rolle auszufüllen und den Erfordernissen zu genügen, weil so viele Menschen auf sie zählten, aber wenn sie ehrlich sein sollte, gab es nur einen Grund, weshalb sie sich fast zu Tode schuftete: Sie brauchte Ablenkung, sie mußte an etwas anderes denken als an Warren, was es auch sei. Es funktionierte nicht, aber sie klammerte sich daran.

Gedankenverloren zog sie ihr Reisebuch aus dem Gürtel. Was sie dazu veranlaßt haben mochte, wußte sie nicht, außer vielleicht, daß sie schon eine Weile nicht mehr nachgesehen hatte, ob es Nachricht von der echten Prälatin gab. Seit Kahlan ihr die Schuld für so vieles – nicht zuletzt am Ausbruch des Krieges – in die Schuhe geschoben hatte, machte auch Ann derzeit eine Krise durch. Verna fand, daß Kahlan ihr in vielem Unrecht tat, verstand aber durchaus, warum sie glaubte, Ann sei für das Chaos in ihrem Leben verantwortlich; eine Zeit lang hatte sie ebenso gedacht.

Wie sie das Reisebuch so mit einer Hand zur Seite hielt und flüchtig darin blätterte, sah sie plötzlich eine Nachricht aufblitzen.

In diesem Moment platzte Rikka abermals ins Zelt. Sie knallte einen schweren Sack auf Vernas Schreibtisch, mitten auf den Stapel mit Berichten.

»Hier!« Ihre Hitzigkeit verlieh ihrer Stimme zusätzlich Nachdruck.

Erst jetzt hob Verna den Kopf, und zum allerersten Mal bemerkte sie Rikkas seltsame Bekleidung. Verna starrte sie offenen Mundes an. Rikka trug nicht etwa den Anzug aus hautengem rotem Leder, den Mord-Sith normalerweise trugen, wenn sie sich nicht gerade eine ihrer seltenen Erholungspausen gönnten und den gleichen Anzug in Braun anhatten. Verna hatte sie nie etwas anderes als diese Lederanzüge tragen sehen.

Doch jetzt trug Rikka ein Kleid.

Verna konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so verblüfft gewesen war.

Zumal es nicht irgendein Kleid war, sondern eines aus rosafarbenem Stoff, in dem sich keine Frau in Rikkas Alter von um die dreißig auch nur hätte begraben lassen wollen. Der Halsansatz war so tief ausgeschnitten, daß darunter ein üppiger Busen zum Vorschein kam; die beiden Rundungen waren so weit hochgeschnürt, daß sie beinahe herausquollen. Zu Vernas Überraschung war es ihr gleichwohl gelungen, einen letzten Rest von Schicklichkeit zu wahren, vor allem, da ihr Busen auf Grund ihrer Aufgebrachtheit mächtig wogte.

»Ihr auch?«, fauchte Rikka.

Endlich hob Verna den Blick und sah in Rikkas blitzende blaue Augen. »Ich auch, was?«

»Ihr könnt Euch wohl auch nicht an meinem Busen satt sehen.«

Verna fühlte sich zutiefst erröten und versuchte von diesem Umstand abzulenken, indem sie die Mord-Sith mit erhobenem Finger tadelte.

»Was lauft Ihr auch in diesem Aufzug in einem Armeelager herum! Mitten unter all den Soldaten! Ihr seht aus wie eine Dirne!«

Erst jetzt, als sie ihr endlich ins Gesicht sah, bemerkte Verna, daß Rikka ihr sonst zu einem Zopf geflochtenes Haar offen trug. Ihr langes Haar fiel jetzt so frei wie eine Pferdemähne. Noch nie hatte Verna eine Mord-Sith in der Öffentlichkeit gesehen, ohne daß ihr Haar zu einem Zopf, einem der wichtigsten Attribute ihres Berufsstandes, geflochten gewesen wäre.

Nicht einmal der offenherzige Busen vermochte sie so zu schockieren wie Rikkas gelöstes Haar. Mehr als alles andere war es das, was ihrer Erscheinung, erkannte Verna jetzt, einen Hauch von Unanständigkeit verlieh. Ihr aufgelöster Zopf kam einer Schändung gleich, auch wenn es ihr fern lag, einen Berufsstand, dessen Hauptbeschäftigung das Foltern war, zu rechtfertigen.

In diesem Moment besann sich Verna, daß sie selbst eine dieser Mord-Sith, Cara, gebeten hatte, den jungen Mann – fast war er noch ein Junge –, der Warren ermordet hatte, nach allen Regeln der Kunst zu foltern. Die ganze Nacht hatte sie wach gesessen und gelauscht, wie er sich die Seele aus dem Leib geschrien hatte. Selbst die ungeheuren Quälen, die er durchlitten hatte, hatten sie damals nicht annähernd befriedigen können.

Manchmal fragte sie sich, ob der Hüter der Unterwelt sie im nächsten Leben als Sühne für ihre Taten für alle Zeiten auf ähnlich unerquickliche Weise büßen lassen werde, im Grunde jedoch war es ihr gleich. Wie hoch der Preis auch sein mochte, er war es ihr wert gewesen.

Außerdem, fand sie, würde der Begriff Gerechtigkeit jeden Sinn verlieren, wenn man sie dafür verdammte, daß sie diesen Mann seiner gerechten Strafe zugeführt hatte, denn dann wäre es egal, ob man ein achtbares oder gewissenloses Leben führte. Dafür, daß sie diesem widerwärtigen, völlig amoralischen Monstrum in Menschengestalt, das Warren ermordet hatte, Gerechtigkeit hatte widerfahren lassen, gebührte ihr vielmehr im Jenseits ein ewiges Leben im wärmenden Licht des Schöpfers an der Seite von Warrens Seele – oder es gab keine Gerechtigkeit.

General Meiffert kam, die Hände zu Fäusten geballt, ins Zelt gestürmt. Als er Verna hinter ihrem kleinen Schreibtisch sitzen sah, strich er sich das Haar aus dem Gesicht und wurde merklich ruhiger.

Der General hatte die Tischler den winzigen Schreibtisch eigens für sie aus alten, in einem verlassenen Farmhaus zurückgelassenen Möbeltrümmern zimmern lassen. Er war natürlich nicht mit den Schreibtischen im Palast der Propheten zu vergleichen, dafür war in dieses Geschenk mehr Bedacht und Sorgfalt eingeflossen als in den prächtigsten mit Blattgold überzogenen Schreibtisch dort. General Meiffert war sehr stolz gewesen, als er sah, wie sehr Verna ihn zu schätzen wußte.

Er erfaßte Rikkas Kleid und Frisur mit einem flüchtigen Seitenblick. »Was hat das zu bedeuten?«

»Nun«, meinte Verna, »Genaues weiß ich auch nicht. Offenbar hat eine der Schwestern in Jagangs Gewalt einen Paß ausgekundschaftet.«

Rikka verschränkte ihre bloßen Arme über ihrem nahezu entblößten Busen. »Nicht irgendeine Schwester, sondern eine Schwester der Finsternis.«

»Jagang sendet schon den ganzen Winter über Schwestern zum Erkunden der Pässe aus«, wandte der junge General ein. »Die Prälatin hat überall Fallen aufstellen und Schilde errichten lassen.« Sein Ton wurde besorgter. »Oder wollt Ihr uns etwa erzählen, eine von ihnen sei durchgeschlüpft?«

»Nein, ich will damit nur sagen, daß ich sie verfolgt habe.«

Verna runzelte besorgt die Stirn. »Was redet Ihr denn da? Auf diese Weise haben wir bereits ein halbes Dutzend Mord-Sith verloren. Seitdem Ihr die Köpfe zweier Eurer Gefährtinnen auf Pfählen aufgespießt gefunden habt, hat Euch die Mutter Konfessor höchstselbst untersagt, Euer Leben weiter bei solch sinnlosen Einsätzen zu gefährden.«

Endlich ging ein Lächeln über Rikkas Lippen – jene Art selbstzufriedenes Lächeln, das, insbesondere, wenn es von einer Mord-Sith kam, anderen zuweilen Alpträume bereitete.

»Sieht das etwa aus, als wäre es sinnlos?«

Rikka langte tief in ihren Sack und förderte einen menschlichen Kopf zutage, den sie Verna an den Haaren vors Gesicht hielt; dann drehte sie sich zur Seite, um auch General Meiffert damit zu drohen, ehe sie ihn auf den kleinen Schreibtisch knallte. Blut und Gehirnmasse sickerte heraus und verteilte sich über die Papiere.

»Wie ich sagte, eine Schwester der Finsternis.«

Obwohl der Tod es fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt hatte, erkannte Verna das Gesicht sofort wieder. Rikka hatte Recht, es war eine Schwester der Finsternis; die Frage war nur, woher sie das so sicher wußte.

Draußen hörte Verna Hufgetrappel von Pferden, die an ihrem Zelt vorübertrabten. Soldaten begrüßten überschwenglich ihre von einer Patrouille zurückkehrenden Kameraden; in der Ferne waren Unterhaltungen zu hören, immer wieder unterbrochen von laut gebrüllten Befehlen. Man hörte das glockenartige Klingen schwerer Hämmer auf Stahl, als Soldaten glühendes Metall zu allerlei nützlichen Werkzeugen für die Reparaturarbeiten an der Ausrüstung schmiedeten. Ganz in der Nähe tummelten sich Pferde ausgelassen in einer Koppel. Eine Gruppe von Soldaten passierte unter dem Gerassel ihrer Rüstungen Vernas Zelt. Irgendwo prasselten Feuer, als Köche Holz nachlegen ließen, oder loderten brüllend auf, sobald die Blasebälge die Flammen in den Essen der Schmiede zu weißer Glut anheizten.

»Habt Ihr sie mit Eurem Strafer berührt?«, erkundigte sich Verna mit ruhiger Stimme. »Euer Strafer ist bei den vom Traumwandler kontrollierten Schwestern nicht eben wirkungsvoll.«

Rikkas Lächeln bekam etwas Durchtriebenes. »Strafer? Seht Ihr an mir irgendwo einen Strafer?«

Verna wußte ganz genau, daß keine Mord-Sith ihren Strafer jemals aus der Hand geben würde. Ein Blick zu ihrem Ausschnitt ließ zumindest ahnen, wo sie ihn versteckt hatte.

»Also schön«, mischte sich General Meiffert ein. Jede Spur von Nachsicht war aus seinem Ton gewichen. »Ich will wissen, was hier gespielt wird, und zwar auf der Stelle.«

»Ich befand mich ganz in der Nahe des Dobbin-Passes, um mich dort ein wenig umzusehen, und was sehe ich da auf einmal? Eine Patrouille der Imperialen Ordnung.«

Der General nickte und stieß einen frustrierten Seufzer aus. »Sie kommen schon seit geraumer Zeit gelegentlich auf diesem Weg auf unsere Seite herüber. Aber wie ist es möglich, daß Ihr auf eine dieser feindlichen Patrouillen gestoßen seid? Wieso war sie nicht längst von einer unserer Schwestern abgefangen worden?«

Rikka zuckte mit den Schultern. »Also, die Patrouille befand sich noch auf der anderen Seite des Passes, drüben bei der verlassenen Farm.« Sie tippte mit dem Zeh gegen Vernas Schreibtisch. »Wo Ihr das Holz für dieses Ding herhabt.«

Verna verzog den Mund zu einer Miene deutlichen Mißfallens. Rikka hatte auf der anderen Seite des Passes nichts verloren; andererseits erkannten die Mord-Sith keine Befehle an, die nicht direkt von Lord Rahl kamen. Rikka hatte sich nur deswegen Kahlans Anordnungen gefügt, weil diese während Richard Abwesenheit in seinem Namen gehandelt hatte. Vermutlich, überlegte Verna, lag der Fall indes viel einfacher: Sie hatten die Befehle der Mutter Konfessor befolgt, weil sie die Gemahlin des Lord Rahl war und sie sich andernfalls dessen Zorn zugezogen hätten. Solange solche Befehle aus Sicht der Mord-Sith nicht mit Unannehmlichkeiten verbunden waren, waren sie zur Kooperation bereit. Wenn doch, taten sie, was immer ihnen beliebte.

»Die Schwester war allein«, fuhr Rikka fort, »und sah aus, als plagten sie gräßliche Kopfschmerzen.«

»Jagang«, sagte Verna. »Entweder war er gerade im Begriff, ihr einen Befehl zu geben oder sie für irgend etwas zu bestrafen, oder aber ihr im Geiste eine Lektion zu erteilen. Das kommt des Öfteren vor und ist gewiß nicht angenehm.«

Rikka strich über das Haar des Frauenkopfes auf Vernas Schreibtisch, wodurch die Berichte endgültig unleserlich wurden. »Die Ärmste«, meinte sie spöttisch. »Während sie irgendwo zwischen den Föhren hockte, den Blick ins Nichts gerichtet, und ihre Finger auf die Schläfen preßte, waren die Soldaten, die sie begleiteten, hinten beim Farmhaus und vergnügten sich dort mit zwei jungen Dingern. Die beiden haben geschrien und geflennt, aber die Soldaten haben sich davon nicht im Mindesten abschrecken lassen.«

Verna senkte den Blick und seufzte niedergeschlagen. So mancher hatte die Notwendigkeit, vor den Truppen Jagangs zu fliehen, nicht einsehen wollen. Gerade wer die Existenz des Bösen bestritt, sah sich nicht selten mit eben jenen Dingen konfrontiert, deren Vorhandensein er nie so recht hatte wahrhaben wollen.

Rikkas selbstzufriedenes Lächeln kehrte zurück. »Also ging ich ins Haus und nahm mich dieser tapferen Soldaten der Imperialen Ordnung an. Sie waren so abgelenkt, daß sie mich gar nicht bemerkten, als ich mich von hinten anschlich. Die Frauen waren so schrecklich verängstigt, daß sie schrien, dabei wollte ich sie doch nur retten. Die Schwester hatte zuvor schon nicht auf ihr Geschrei geachtet und tat es auch jetzt nicht.

Dann sah ich, daß eine der jungen Frauen blond war und ungefähr meine Größe hatte, und plötzlich kam mir eine Idee. Ich streifte ihr Kleid über und löste meinen Zopf, so daß man mich für sie halten konnte. Dem Mädchen gab ich ein paar Männersachen zum Anziehen, dann erklärte ich den beiden, sie sollten, von der Schwester fort, in die Berge fliehen und sich auf keinen Fall umdrehen. Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Anschließend hockte ich mich draußen vor der Scheune auf einen Schemel.

Und tatsächlich, eine Weile darauf kehrte die Schwester zurück. Sie sah mich gesenkten Kopfes dort sitzen, offenbar in Tränen aufgelöst.

Die andere vermutete sie wohl noch drinnen, bei den Soldaten, denn sie sagte: ›Wird auch Zeit, daß diese Trottel da drinnen mit dir und deiner Freundin fertig werden. Seine Exzellenz verlangt einen Bericht, und zwar jetzt gleich – er ist bereit, loszuschlagen.‹«

Verna erhob sich leicht von ihrem Stuhl. »Das habt Ihr sie tatsächlich sagen hören?«

»Ja.«

»Was geschah dann?«, wollte General Meiffert wissen.

»Dann begab sich die Schwester mit hastigen Schritten zur Scheunentür. Kaum war sie an mir vorüber, sprang ich hinter ihrem Rücken auf und schnitt ihr mit dem Messer eines der Soldaten die Kehle durch.«

General Meiffert beugte sich zu Rikka. »Ihr habt ihr die Kehle durchgeschnitten und nicht Euren Strafer benutzt?«

Rikka warf ihm einen Blick zu, aus dem hervorging, daß er wohl nicht richtig zugehört hatte. »Die Prälatin hat es doch eben noch gesagt: Ein Strafer funktioniert bei denen, die der Traurnwandler in seiner Gewalt hat, nicht recht. Deshalb habe ich ein Messer benutzt. Traumwandler oder nicht, das Durchtrennen ihrer Kehle hat bestens funktioniert.«

Wie zum Beweis hielt sie Verna abermals den Kopf vors Gesicht, an dessen Unterseite, während er sachte an den Haaren hin- und herschwang, einer der Berichte klebte. »Ich habe ihr erst die Kehle und schließlich den ganzen Hals durchtrennt. Sie hat sich ziemlich heftig gewehrt, weshalb ich sie im Augenblick ihres Todes fest mit meinen Armen umklammert hielt. Plötzlich wurde einen Moment lang alles ringsum vollkommen schwarz – ich meine richtig finster, so finster wie das Herz des Hüters. Es war, als hätte uns alle plötzlich die Unterwelt geholt.«

Verna wandte den Blick vom Kopf der Schwester ab, die sie so lange gekannt und stets für eine glühende Verehrerin des Schöpfers und des Lichts des Lebens gehalten hatte – dabei hatte sie in Wahrheit den Tod verehrt.

»Der Hüter hat eine der Seinen zu sich gerufen«, erklärte Verna mit ruhiger Stimme.

»Na ja«, meinte Rikka – ziemlich sarkastisch, fand Verna –, »beim Tod einer Schwester des Lichts wäre das vermutlich nicht passiert. Wie ich schon sagte, sie war eine Schwester der Finsternis.«

Verna nickte. »Allerdings.«

General Meiffert gab der Mord-Sith einen flüchtigen Klaps auf die Schulter. »Danke, Rikka. Ich sollte die Meldung jetzt besser weitergeben. Wenn Jagang tatsächlich im Begriff ist, sich in Marsch zu setzen, wird er bereits in wenigen Tagen hier sein. Wir müssen dafür sorgen, daß die Pässe vorbereitet sind, wenn seine Streitmacht eintrifft.«

»Die Pässe werden halten«, erklärte Verna. Sie stieß einen stummen Seufzer aus. »Jedenfalls eine Weile.«

Um D’Hara zu erobern, mußte die Imperiale Ordnung das Gebirge überqueren, es führten jedoch nur wenige Pässe durch diese gewaltigen Berge. Verna und die Schwestern hatten sie mit Hilfe von Schilden, so gut es irgend ging, versperrt. An einigen Stellen hatten sie mit Magie Erdrutsche ausgelöst und die schmalen Gebirgsstraßen unpassierbar gemacht. Andernorts hatten sie die in die steilen Gebirgshänge gegrabenen Straßen mit Hilfe ihrer Kraft unterbrochen, so daß die betreffenden Stellen nur überwinden konnte, wer bereit war, mühsam über das Geröll zu kraxeln. Und um genau dies dort, wie auch an anderen Stellen, zu verhindern, hatten die Soldaten den Winter über hart gearbeitet, um quer zu den Pässen steinerne Mauern zu errichten. Der Oberrand dieser Mauern war mit Befestigungsanlagen versehen, von denen sich die engen Pässe darunter mit tödlichen Geschossen bestreichen ließen. Zusätzlich hatten die Schwestern an jedem dieser Orte magische Fallstricke von derart tödlicher Wirkung ausgelegt, daß jeder Versuch, sie zu überwinden, in einer blutigen Katastrophe enden würde – und zwar lange, bevor ein Angreifer auf die mit Verteidigern bemannten Mauern stieß.

Jagang versuchte, diese Barrieren aus Magie und Stein mit Hilfe der Schwestern der Finsternis einzureißen, nur war Verna eben sehr viel mächtiger als diese – zumindest was additive Magie betraf. Außerdem hatte sie ihre Kraft mit der der anderen Schwestern gebündelt, um diese Barrieren mit einer, davon war sie überzeugt, nahezu unüberwindlichen Magie zu versehen.

Doch auch das würde Jagang nicht davon abhalten anzugreifen. Was immer Verna, ihre Schwestern und die d’Haranische Armee unternahmen, es würde den gewaltigen Massen, die Jagang gegen sie aufbieten konnte, letztendlich nicht standhalten. Er würde vermutlich nicht einmal davor zurückschrecken, seinen Soldaten zu befehlen, über einen bereits einhundert Fuß tief unter den Leichen ihrer gefallenen Kameraden verschütteten Paß zu marschieren; nicht einmal eine Leichenschicht von eintausend Fuß Tiefe würde ihn davon abhalten können.

»Ich schaue nachher noch einmal vorbei, Verna«, sagte der General. »Wir müssen die Offiziere und einige der Schwestern zusammenrufen und dafür sorgen, daß alles vorbereitet ist.«

»Ja, natürlich.«

General Meiffert und Rikka machten Anstalten, sich zu entfernen.

»Rikka«, rief Verna. Sie deutete auf ihren Schreibtisch. »Seid bitte so gut und kümmert Euch um die verschiedene Schwester, ja?«

Rikka stieß einen Seufzer aus, der beinahe den Ausschnitt ihres Kleides gesprengt hätte. Sie setzte eine langmütige Miene auf, dann schnappte sie sich den Kopf und schlüpfte hinter dem General aus dem Zelt.

Verna ließ sich auf ihren Stuhl sinken und stützte den Kopf in beide Hände. Nun würde alles wieder von vorn beginnen. Es war ein langer, friedlicher, wenn auch bitterkalter Winter gewesen, Jagang hatte sein Winterlager auf der anderen Seite der Berge aufgeschlagen, so weit entfernt, daß es wegen des Schnees und der Kälte überaus schwierig war, wirkungsvolle Streifzüge gegen seine Truppen zu unternehmen. Und genau wie im Sommer zuvor, dem Sommer, als Warren ums Leben gekommen war würden die Truppen der Imperialen Ordnung, nun, da das Wetter günstig war ihren neuerlichen Vormarsch beginnen. Alles würde wieder von vorn anfangen, das Töten, die Angst, das Kämpfen, Flucht, Hunger und Erschöpfung.

Aber was gab es schon für Alternativen, außer sich einfach abschlachten zu lassen? In vielerlei Hinsicht schien es, als sei das Leben mittlerweile schlimmer als der Tod.

Plötzlich fiel Verna das Reisebuch wieder ein. Umständlich holte sie es aus ihrer Gürteltasche hervor und zog – nicht nur wegen der Helligkeit, sondern auch wegen der trostspendenden Behaglichkeit ihres Lichts – die Lampe näher zu sich heran. Sie fragte sich, wo Richard und Kahlan sein mochten, und ob sie in Sicherheit waren, aber sie dachte auch an Zedd und Adie, die ganz allein die Burg der Zauberer bewachten. Wenigstens diese beiden waren, im Gegensatz zu allen anderen, in Sicherheit – zumindest vorerst. Früher oder später würde D’Hara natürlich fallen, und dann würde Jagang nach Aydindril zurückkehren.

Verna warf das kleine Buch auf den Schreibtisch, strich ihr Kleid unter den Beinen zurecht und zog den Stuhl näher heran. Dann fuhr sie mit den Fingern über den vertrauten Ledereinband des über dreitausend Jahre alten magischen Gegenstandes. Die Reisebücher waren von denselben geheimnisumwitterten Zauberern mit Magie versehen worden, die einst, vor langer Zeit, auch den Palast der Propheten errichtet hatten. Jedes dieser Reisebücher besaß ein Gegenstück; was sie ungeheuer kostbar machte, denn was immer in das eine geschrieben wurde, erschien zeitgleich in seinem Zwillingsbuch. Auf diese Weise konnten die Schwestern sich selbst über riesige Entfernungen austauschen, so daß sie wichtige Dinge im Moment des Geschehens erfuhren, statt Wochen oder gar Monate später.

Das Gegenstück zu Vernas Reisebuch besaß Ann, die echte Prälatin. Sie war es auch, die Verna auf eine fast zwanzig Jahre währende Reise geschickt hatte, um Richard zu suchen – obwohl sie Richards Aufenthaltsort die ganze Zeit über gekannt hatte. Nicht zuletzt aus diesem Grund hatte Verna Verständnis für Kahlans Groll auf die Prälatin, die ihr und Richards Leben in einen vielfach verschlungenen Alptraum verwandelt hatte. Mittlerweile jedoch hatte sie eingesehen, daß die Prälatin sie auf eine Mission von allesentscheidender Wichtigkeit geschickt hatte, eine Mission, die die Welt verändert hatte, aber auch wieder Hoffnung für die Zukunft hatte aufkeimen lassen.

Verna schlug das Reisebuch auf und hielt es ein wenig zur Seite, um die Worte im Schein des Lichts besser lesen zu können.

Verna, hieß es dort, ich glaube jetzt zu wissen, wo sich der Prophet verborgen hält.

Verblüfft lehnte Verna sich zurück. Nach der Zerstörung des Palasts hatte sich der Prophet Nathan ihrem Gewahrsam entzogen und zog jetzt ungehindert durch die Lande – eine nicht zu unterschätzende Gefahr.

Seit ein, zwei Jahren schon lebten die noch verbliebenen Schwestern des Lichts in dem Glauben, sowohl die Prälatin als auch der Prophet seien nicht mehr am Leben. Ann hatte, nachdem sie den Palast gemeinsam mit Nathan in wichtiger Mission verlassen hatte, ihrer beider Tod vorgetäuscht und Verna zu ihrer Nachfolgerin bestimmt. Außer Verna selbst, Zedd, Richard und Kahlan kannten nur wenige Personen die Wahrheit. Im Zuge dieser Mission war es Nathan jedoch gelungen, seinen Halsring abzustreifen und sich Anns Kontrolle zu entziehen. Niemand konnte sagen, welche Katastrophen dieser Mann auszulösen vermochte.

Verna beugte sich erneut über das Reisebuch.

Schon innerhalb der nächsten Tage sollte ich Nathans habhaft werden. Ich kann kaum glauben, daß ich diesen Mann nach all den Jahren nun beinahe wieder in meiner Gewalt habe. Ich werde dir in Kürze Bescheid geben.

Wie geht es dir, Verna? Wie fühlst du dich in deiner Rolle? Wie geht es den Schwestern, und wie läuft es bei der Armee? Schreib mir, wenn du kannst. Ich werde jeden Abend einen Blick in mein Reisebuch werfen. Ich vermisse dich schrecklich.

Verna lehnte sich erneut zurück. Das war tatsächlich bereits alles, aber es war mehr als genug. Allein die Vorstellung, daß Ann offenbar im Begriff war Nathan endlich wieder gefangen zu nehmen, versetzte sie in einen leichten Taumel der Erleichterung.

Doch selbst diese gewichtigen Neuigkeiten vermochten ihre Stimmung nicht recht zu heben. Jagang stand kurz vor dem Beginn seiner Offensive gegen D’Hara, Ann war im Begriff, Nathan endlich wieder in ihre Gewalt zu bringen, Richard dagegen befand sich irgendwo tief unten im Süden und war somit unerreichbar. Fünfhundert Jahre lang hatte Ann darauf hingearbeitet, die Ereignisse so zu gestalten, daß Richard sie in die Schlacht um die Zukunft der Menschheit führen konnte, und jetzt, am Vorabend des womöglich entscheidenden Gefechts, war er nicht hier, bei ihnen.

Verna zog den Stift aus dem Rücken des Reisebuchs und beugte sich vor, um Ann einen Lagebericht zu geben.

Meine liebste Ann, ich fürchte, hier zeichnet sich eine überaus unerquickliche Entwicklung ab.

Die Belagerung der nach D’Hara hineinführenden Pässe steht unmittelbar bevor.

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