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Nicholas packte eine der namenlosen Gestalten. Ausgestattet mit der Kraft von Muskeln, die er der schwarzen Kunst der Schwestern zu verdanken hatte, hob er den Mann mühelos in die Höhe. Ob der Leichtigkeit, mit dem ihm dies gelang, stieß dieser einen überraschten Schrei aus und wehrte sich nur zaghaft gegen Nicholas’ gewaltige Körperkräfte, denen er, selbst wenn er sich getraut hätte, kaum etwas entgegenzusetzen gehabt hatte. Diese Leute waren immun gegen Magie, sonst wäre es für Nicholas ein Leichtes gewesen, sie mit seinen magischen Kräften hochzuheben. Da ihnen jeder Hauch der Gabe fehlte, mußten sie mit Menschenkraft bewegt werden.

Für Nicholas bedeutete dies kaum einen Unterschied. Wie sie zu den Pfählen gelangten, war belanglos; was zählte, war, was mit ihnen passierte, wenn sie erst einmal dort waren.

Der Mann in seinen Armen schrie vor Entsetzen, als Nicholas ihn quer durch den Raum trug. Wie stets zogen sich die anderen in eine der hinteren Zirnmerecken zurück, ängstlichem Federvieh gleich, dem ein Ende als Nachtmahl drohte.

Nicholas, die Arme fest um die Brust des Mannes geschlungen, wuchtete ihn hoch über seinen Kopf schätzte Entfernung und Winkel ab und beschleunigte seine Schritte.

Die Augen des Mannes weiteten sich, ebenso sein Mund. Der Schock raubte ihm den Atem, ehe ihm ein lautes Ächzen entfuhr, als Nicholas, die Arme noch immer fest um seinen Leib geschlungen, ihn mit einer wuchtigen Bewegung auf dem Pfahl aufspießte.

Sein Atem ging in kurzen, flachen Stößen, als sich der angespitzte Pfahl von unten in seine Eingeweide bohrte. Er verharrte vollkommen still in Nicholas’ kräftigen Armen, aus Angst, sich zu bewegen, aus Angst, glauben zu müssen, was ihm widerfuhr, aus Angst, sich dieser Wahrheit stellen zu müssen ... und versuchte zu leugnen, daß dies wirklich geschah.

Nicholas richtete sich vor ihm zu seiner vollen Größe auf. Der Rücken des gepfählt auf dem angespitzten Pflock hockenden Mannes war kerzengerade und steif wie ein Brett. Die Brauen hochgezogen, die schweißnasse Stirn tief zerfurcht, wand er sich in seinem langsamen Todeskampf, indem er mit den Füßen den viel zu weit entfernten Boden zu erreichen versuchte.

In dieses Gefühlschaos ließ Nicholas seine Gedanken vordringen, während er gleichzeitig händeringend vor Anstrengung vor dem Mann stand und sein Wesen, seine Seele, in das Innerste dieser lebenden Kreatur hineinschlüpfen ließ, in den weit geöffneten Verstand des Mannes eindrang, sich in die klaffenden Abgründe zwischen seinen sprunghaften, unzusammenhängenden Gedanken zwängte, um dort dessen Seelenqual, dessen Angst zu fühlen – und die Macht zu übernehmen. Kaum waren seine Gedanken in den Mann eingedrungen und hatten dessen Bewußtsein vereinnahmt, entzog Nicholas ihm den Extrakt seines Seins und machte ihn sich zu eigen.

Dank der schwindelerregenden Verschmelzung von zerstörerischer und schöpferischer Kraft, die ihm an jenem Tag von diesen Frauen zuteil geworden war, war Nicholas zu einem völlig neuen Wesen geworden, teils noch er selbst, und doch bereits viel mehr. Er war zu etwas geworden, was kein Mensch zuvor jemals gewesen war – ein Produkt des Willens und der Wünsche anderer.

Die Schwestern – vereint durch ihr Talent, Kräfte zu bändigen, die sie alleine niemals hätten bewältigen können und niemals zusammen hätten heraufbeschwören dürfen – hatten ihm ungeheure Kräfte eingeflößt. Sie hatten Mächte in ihm geweckt, die jede Vorstellung sprengten: die Macht, in die Gedanken eines lebenden Menschen einzudringen und diesem seinen Geist, seine Seele, zu entziehen ...

Dieses Talent war nicht erlernbar – er war darin einzigartig. Noch immer war ihm das volle Ausmaß seiner Kräfte nicht bekannt, wußte er nicht, zu was ihn die Seele eines anderen befähigte. Bislang hatte er nur die Oberfläche angekratzt.

Kaiser Jagang hatte ein Wesen nach seinem Ebenbild schaffen wollen, einen Traumwandler oder eine Art Seelenbruder; jemand, der wie er in den Verstand eines anderen eindringen konnte. Doch was er bekommen hatte, übertraf seine wildesten Phantasien. Nicholas schlüpfte nicht nur in die Gedanken eines anderen wie Jagang; er vermochte bis in dessen Seele vorzudringen und diese sich einzuverleiben.

Mit dieser Abirrung hatten die Schwestern nicht gerechnet, als sie an seinen Talenten herumgepfuscht hatten ...

Der Raum hinter ihm verschwamm, war jetzt nur noch teilweise vorhanden, denn mittlerweile begann er andere Orte zu sehen, wundervolle Orte, die er mit ganz neuen Augen sah, mit Augen eines Geistes, der nicht länger an die erbärmliche Hülle seines Körpers gebunden war.

Er stürzte sich auf die zweite Person, die dritte, die vierte ...

»Hasse das Leben, lebe, um zu hassen«, redete er wie zum Trost leise auf sie ein. »Dir wird der Lohn und die Erlösung zuteil werden, die der Tod mit sich bringt.«

Welch unvergleichliche Erfahrung.

Beinahe vergleichbar mit den Freuden, die er sich vom Augenblick seines eigenen Todes erhoffte.

Mit der Herrschaft über die Seele eines Menschen erlangte er die Herrschaft über seine gesamte Existenz. Er wurde für ihn zum Richter über Leben und Tod, er wurde zu seinem Erlöser und hatte die Macht, ihn zu vernichten.

In vieler Hinsicht glich er den Seelen, die er sich einverleibte – gefangen in seiner irdischen Hülle, war ihm das Leben verhaßt; er haßte es, den Schmerz und die Qualen, die das Leben bestimmten, ertragen zu müssen, gleichwohl fürchtete er den Tod, obwohl er dessen verheißungsvolle, süße Umarmung herbeisehnte.

Sein Innerstes randvoll vom süßen Chaos vierer Seelen, näherte Nicholas sich taumelnd der fünften Person, die sich in die Ecke verkrochen hatte.

»Bitte!«, jammerte der Mann im hilflosen Versuch, dem Unabwendbaren zu entgehen. »Nicht, bitte!«

Plötzlich kam Nicholas der Gedanke, daß die Pfähle im Grunde eher hinderlich waren; ihr Gebrauch erforderte es, daß er die Leute wie wollige Schafe umhertrug, deren Seelen es zu scheren galt. Bei genauerer Überlegung war es geradezu ehrenrührig, daß ein Zauberer von seinen Fähigkeiten sich einer so plumpen Vorrichtung bediente.

Sein eigentliches Ziel war es, ohne jede Vorwarnung – ohne den Betreffenden zu den Pfählen tragen zu müssen – in den Geist eines anderen hineinzuschlüpfen und ihn sich einzuverleiben.

Sobald er ohne Einschränkung dazu imstande wäre, nur vor jemanden hinzutreten, ihn zu begrüßen, und anschließend wie ein Dolchstoß in den Kern seiner Seele vorzudringen brauchte, würde er unbesiegbar sein – und unanfechtbar. Niemand würde ihm noch einen Wunsch abschlagen können.

Noch während der Mann verängstigt vor ihm zurückzuweichen versuchte, streckte Nicholas, getrieben von unbändiger Gier und blindwütigem Haß, und ehe er überhaupt begriff, was er da tat, seine Hand vor und ließ seinen Geist in diesen Mann, in den leeren Raum zwischen seinen Gedanken, eindringen.

Der Körper der Mannes spannte sich, genau wie bei denen auf den Pfählen, nachdem er sie aufgespießt hatte.

Er zog seine geballte Faust an dessen Unterleib, entzog ihm seinen Geist und stöhnte auf, als ihn dieses unbeschreibliche Gefühl der auf ihn übergehenden Seele überkam.

Sie starrten einander an, beide gleichermaßen schockiert, beide bemüht, zu ergründen, was dies für sie bedeutete.

Der Mann sackte kraftlos nach hinten gegen die Wand und glitt, in stummem, erschreckend nichtigem Todeskampf, lautlos an ihr herab.

Nicholas begriff, daß er soeben etwas vollbracht hatte, was ihm noch nie zuvor gelungen war: Er hatte sich eine Seele allein kraft seines Willens einverleibt.

Von nun an stand es ihm frei, sich zu nehmen, was er wollte, wann er wollte, wo er wollte.

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